Metabetrachtungen: Zur Schnittmenge von diesjährigem Physik-Nobelpreis, Künstlicher Intelligenz und Collective Mind

Dieses Jahr wurde der Physik-Nobelpreis unter dem gemeinsamen Label „For groundbreaking contributions to our understanding of complex physical systems.“ an die Physiker Klaus Hasselmann und Syukuro Manabe sowie Giorgio Parisi vergeben. Es ist meines Wissens das erste Mal, dass das Verstehen von komplexen physikalischen Systemen so explizit honoriert wurde. Alle drei Forscher haben den Einfluss von mikroskopischen Zuständen auf makroskopische Zustände untersucht. Bei Klaus Hasselmann ging es um die Auswirkung von (lokalen) Wetterphänomenen auf (globale) Klimaphänomene. Also dem zentralen Problem unserer Tage. Syukuro Manabe wurde für die erstmalige computergestützte globale Klima-Modellierung geehrt.

Giorgio Parisi hat den Nobelpreis für seine Untersuchung von Spingläsern, insbesondere für seinen „great leap  … to introduce a new order parameter“ erhalten [1]. Seine Arbeiten ziehe ich für meine Metabetrachtungen heran.

Spin Gläser sind u.a. Legierungen wie CuMn, wobei das nichtmagnetische Kupfer (Cu) magnetisches Mangan (Mn) mit ca. 13% enthält. Die magnetischen Momente (Spin‘s) der Manganatome sind zufällig, aber fest im Kupferkristall verteilt. Zwischen den Manganatomen können ferromagnetische und antiferromagnetische Wechselwirkungen auftreten. – Je nach Konfiguration der Manganatome müssen diese mit ihren Nachbar-Manganatomen sowohl eine ferromagnetische als auch eine antiferromagnetische Wechselwirkung „befriedigen“. Dies kann auch Atome „frustrieren“. – Spingläser, also Substanzen, die bezüglich des Spins, wie Glas, amorphe Konfigurationen aufweisen und Frustrationen ausbilden, zeichnen sich (oft) nicht mehr nur durch einen einfachen Ordnungsparameter, wie die makroskopische Magnetisierung aus. – Sondern sie bilden viele mikroskopische Zustände aus, die mit dem Einstellen bestimmter Parameter (Rahmen- und Kontrollparameter) zu vielen unterschiedlichen Phasen mit jeweils unterschiedlichen Ordnungsparameter-Ausprägungen führen. Diese Ordnungsparameter-Ausprägungen genügen jedoch einem einheitlichen mathematischen Muster. – Parisi hat dieses „new order parameter“ Muster eingeführt [2].

Ich will versuchen dieses Muster am Beispiel einer sozialen Gruppe, an einem Team, zu erläutern.- Für den ein oder anderen mag dies Physikalismus sein [3], also der Versuch Alles und Jedes mittels Physik zu erklären; für mich ist es das Denken in Modellen und Theorien; und Metabetrachtungen helfen das ein oder andere qualitativ und quantitativ viel besser zu verstehen: Im Management 4.0 modellieren wir zentrale menschliche Eigenschaften mit der sogenannten Dilts Pyramide. Die Dilts Pyramide integriert hierbei ca. 30 unsere Persönlichkeit bestimmende Eigenschaften (Vision, Mission, Zugehörigkeit, Temperament, Werte, Glaubenssätze, Grundannahmen und Prinzipien). Stellen wir uns für den Moment die Pyramide (sie ist ja ein Keil, eine Spitze) als eine Ausrichtung unserer Persönlichkeit vor. Bilden wir eine Gruppe aus Personen mit unterschiedlichen Dilts Pyramiden, so bildet die Gruppe nicht selten (am Anfang) eine „Diltsglas-Organisation“: Die Pyramiden zeigen alle in unterschiedliche Richtungen. Recht selten geschieht es, dass die Pyramiden eine gemeinsame Ausrichtung erfahren, das Team sich also einen Ordnungsparameter, den Collective Mind, erarbeitet. Sehr oft führt die Gruppendynamik in einem Projektteam zu unterschiedlichen Kommunikationskonfigurationen (Zuständen): Unterschiedliche Visionen, Werte oder Glaubenssätze tauchen auf, nicht selten bleiben diese nebeneinander bestehen, ohne dass dies für die Gruppenmitglieder wirklich transparent wird. Damit verbunden sind, wie wir wahrscheinlich alle wissen, auch Frustrationen. Die Kommunikationskonfigurationen sind jedoch nicht beliebig. Die verschiedenen konfigurationsspezifischen Ausrichtungen der Dilts Pyramide der einzelnen Gruppenmitglieder haben nichtverschwindende „Überlappe“, z.B. mögen bestimmte Werte oder Glaubenssätze in verschiedenen Konfigurationen auftauchen. – Sie wirken als „mikroskopische“ Ordnungsparameter, die die makroskopische (Un-) Ordnung bestimmen. Man könnte also einen neuen Ordnungsparameter einführen, der den „Überlapp“ bei allen Teammitglieder misst und aufsummiert. – Damit hat man auch ein Maß für die „Diltsglas-Organisation“ des Teams. – Dieses Vorgehen entspricht dem von Parisi eingeführten neuen Ordnungsparameter für Spingläser. – Der Ordnungsparameter der „Diltsglas-Organisation“ ist damit auch ein Maß für die „Abweichung“ von einem einfachen Ordnungsparameter, dem Collective Mind, bei dem alle Dilts Pyramiden im Rahmen der Teamaktivitäten in eine Richtung zeigen.

Man kann die Analogie noch erweitern: Physikalische Spingläser können durch äußere magnetische Felder in der Ausbildung des Parisi-Ordnungsparameters beeinflusst werden. Auch „Diltsglas-Organisationen“ zeigen ein ähnliches Verhalten, wenn eine (äußere) Beeinflussung einsetzt: Führungskräfte oder Coaches wirken auf die Dilts Pyramiden des Teams ein. – Bei kleinen Einflussnahmen bleibt das „Diltsglas“ erhalten, steigt die Einflussnahme entsteht eine Ausrichtung, die aussieht wie ein Collective Mind. In den meisten Fällen dürfte die Ausrichtung jedoch wieder verschwinden, wenn die Einflussnahme zurückgeht, falls sich bis dahin keine intrinsische Veränderung im Team ausgebildet hat.  

Alles schön und gut, könnte man sagen: Warum macht es Sinn sich mit solchen Metabetrachtungen zu beschäftigen. In der Schrift des Nobel-Komitees [1] wird die Antwort gegeben. Die Modelle zur Erklärung von Spin-Gläsern haben heute sehr viele unterschiedliche Bereich erheblich befruchtet: Verschiedene Gebiete der Physik, der Biologie, der Chemie, der Neurowissenschaften und der Künstlichen Intelligenz. Für die Verbindung von Neurowissenschaften und Systemen Künstlicher Intelligenz wird explizit die Arbeit von John J. Hopfield in [1] genannt. Neuronale Netzwerke können auch als Spinglas Systeme verstanden werden, wenn man die magnetischen Momente durch Neuronen ersetzt. Die Wechselwirkungsparameter zwischen den Spins entsprechen den Gewichten zwischen den Ausgängen einer Neuronen Schicht und den Eingängen der nächsten Neuronen Schicht. Angelegte magnetische Felder entsprechen den Bias-Einstellungen der Neuronen. – Und wie oben geschildert, kann man die Grundprinzipien auch auf soziale Gruppen übertragen.

Die GPM Fachgruppe Agile Management beschäftigt sich seit einem Jahr mit der Nutzung von KI-Systemen im Management 4.0. Insbesondere habe ich mir hierzu zwei Themen ausgesucht:

  • Die Nutzung eines Neuronalen Netzwerkes für die Ermittlung von Persönlichkeitsmerkmalen aus beobachteten Verhaltensweisen.
  • Die Ermittlung des Grades der „Diltsglas-Organisation“ (wie oben geschildert) und des Collective Minds eines Teams aus auditiven Gesprächsprotokollen.

Den technologischen Durchstich für die erste Aufgabe konnte ich inzwischen erfolgreich abschließen. Ich bin also optimistisch, dass ich meine nächsten Blogbeiträge der Ausgestaltung dieser beiden Themen widmen werde. 

           

[1] The Nobel Committee for Physics (2021) For groundbreaking contributions to our understanding of complex physical systems, Scientific background on the Nobel Prize in Physics 2021.

[2] Parisi G (2008) The physical Meaning of Replica Symmetry Breaking, arXiv

[3] Wikipedia (2021) Physikalismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Physikalismus_(Ontologie), zugegriffen am 29.10.2021

[4] Hopfield J.J. (1982) Neural networks and physical systems with emergent collective computational abilities, Proc. Nat. Acad. Sci. USA, Vol. 79 Biophysics

Metabetrachtungen: Zur Schnittmenge von Intuitivem Bogenschießen, Künstlicher Intelligenz und Management 4.0

Ende letzten Jahres habe ich einen WDR-Fernseh-Beitrag zur Bogenwerkstatt gesehen [1]. Dieser Beitrag hat meine verschüttete Kindheitsleidenschaft zum Bogenschießen wieder offengelegt. Seither übe ich mich mit großer Freude im sogenannten Intuitiven Bogenschießen [2]. Beim Intuitiven Bogenschießen bringt allein das „Körpergefühl und die Erfahrung des Schützen den Pfeil ins Ziel – rein intuitiv ohne Zieltechnik“. Intuitives Bogenschießen hat eine recht große Nähe zum japanischen Zen-Bogenschießen. – Das Buch des Philosophen Eugen Herrigel, der nach sechs! Jahren harten Übens (genüsslich zu lesen) seine Zen Bogenschieß-Prüfung ablegte gibt u.a. einen wunderbaren Eindruck von der Aussage „rein intuitiv ohne Zieltechnik“. – Die Fähigkeit sich an unterschiedliche Kontexte anzupassen, wird insbesondere beim 3D-Parcours Schießen im Gelände besonders herausgefordert.

Intuitives Bogenschießen wird auch als therapeutisches Bogenschießen in Kliniken eingesetzt. – Fokus, Adaption und Intuition sind zentrale Elemente des Intuitiven Bogenschießens. – Die begriffliche Nähe zum Management 4.0 ist offensichtlich. Ich werde später aufzeigen, dass auch eine Schnittmenge zur Künstlichen Intelligenz mittels Deep Learning gegeben ist.

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit und das Glück an einem dreitägigen Kurs zum Thema Deep Learning mittels Tensorflow teilzunehmen [4]. Tensorflow ist die von google u.a. über colab.research.google.com zur Verfügung gestellte Plattform für das Erstellen von Deep Learning Systemen der Künstlichen Intelligenz. – Das Eintauchen in diese und weitere Plattformen des Machine Learnings (ML) ist überwältigend: Es ist kein Programmieren mehr im mir bisher bekannten Sinne, sondern entspricht eher dem Design und Konfigurieren von Systemen auf sehr hohem Abstraktionsniveau. – Den erreichten (globalen) Fortschritt im ML konnte ich mir bisher in dieser nahezu „unendlichen Fülle“ nicht vorstellen. Deep Learning ist eine Form von technischer Selbstorganisation – das Design und die Konfiguration dienen der Ausgestaltung der Selbstorganisationsparameter des neuronalen Netzwerkes; und damit ist der Bezug zu Management 4.0 schon erkennbar.          

Vor einem Jahr haben wir in der Fachgruppe Agile Management eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich mit der Anwendung von Künstlicher Intelligenz im Projekt Management beschäftigt: Helge Nuhn hat kürzlich einen Übersichtsartikel zu Stand und Potential der Nutzung von Artificial Intelligence Systemen (AI Systemen) in temporären Organisationen und im Projekt Management erstellt [5].

In allen drei Bereichen – Intuitivem Bogenschießen, Künstlicher Intelligenz und Management 4.0 – ist Lernen das Schlüsselelement, um das System Mensch, das technische System Neuronales Netzwerk und das soziale System Team oder Organisation auf das Umfeld, also auf den jeweiligen Kontext, auszurichten.

In dem Standardwerk zu Machine Learning (ML) von Aurélien Géron charakterisiert er maschinelle Lernverfahren u.a. durch die Gegenüberstellung von Instanzbasiertem Lernen und Modellbasiertem Lernen: Instanzbasiertes Lernen ist dem Auswendiglernen sehr nahe. – Die Maschine lernt vordefinierte Objekt-Beispiele (Instanzen) einfach auswendig und wendet ein sogenanntes Ähnlichkeitsmaß zum Identifizieren von neuen Objekten (Instanzen) an. Ist die Ähnlichkeit hoch genug werden die neuen Objekte maschinell den vordefinierten Klassen zugeordnet. Instanzen können spezifische Kunden, Äpfel, eMails usw. sein. Das Ähnlichkeitsmaß wird über Regeln definiert und wird im „klassischen“ Sinne programmiert. – Die Regeln stellen eine äußerst einfache Form eines von außen (durch den Programmierer) vorgegebenen Modells dar. Das eigentliche Modellbasierte Lernen funktioniert jedoch völlig anders: Einem System werden Beispieldaten übergeben und das System entwickelt hieraus ein Modell und dieses Modell wird zur Vorhersage verwendet. Das Modellbasierte Lernen ist also dem wissenschaftlichen Vorgehen bei der Entwicklung von Erkenntnissen nicht unähnlich. Deep Learning lässt sich nach dem mehr oder weniger an Selbständigkeit beim AI-Lernen unterscheiden: Supervised Learning, Unsupervised Learning und Reinforcement Learning.

Zwischen Instanzbasiertem Lernen und Modellbasiertem Lernen liegt ein fundamentaler Unterschied. – Dies wird in dem Moment offensichtlich, wenn ich die Verbindung zum Management 4.0 und dem Lernen im einfachen oder komplizierten Kontext und dem Lernen im komplexen Kontext ziehe. Das Instanzbasierte Lernen ist das Lernen an Best Practice, also an Beispiel-Objekten wie einem Beispiel-Projekt oder an einem Beispiel-Verfahren. Das Ähnlichkeitsmaß ist in diesem Fall die Nähe zur eigenen Praxis: Der Lernende sucht nach einem Projekt, das möglichst zu seiner bisherigen Praxis passt. Dies kann heißen, dass Beispiele aus anderen Branchen nicht akzeptiert werden, dass nur dann das Beispiel passt, wenn der Lernende davon ausgeht, dass im Best Practice ein ähnliches Mindset vorliegt oder dass der WIP (Work-in-Progress) wie in der eigenen Organisation ähnlich groß ist, usw…. In jedem Fall wird der Projektkontext des Best Practices nur ungenügend abgebildet, es findet keine oder eine nur sehr geringe Abstraktionsleistung statt und die Übertragbarkeit ist deshalb mehr als fraglich.

Lernen im Management 4.0 ist Modellbasiertes Lernen. Instanzen sind nicht die Basis des Lernens, allenfalls um zu zeigen, dass man mit dem Modell sehr gut Probleme (Instanzen) lösen kann, die man vorher noch nie gesehen hat. – Falls das Modell jedoch nicht erfasst wird, erzeugt dies bei einem an Instanzbasiertes Lernen gewöhnten Menschen keine Erkenntnis: Da das Modell sich nicht erschließt, erschließt sich auch nicht die Lösung; Modell und Lösung sind unpraktisch.         

Mit dieser Erkenntnis sehr eng verbunden ist das sogenannte „Overfitting“ im ML: Man kann ein Neuronales Netz extrem gut mit einem gewaltig großen Datensatz (zum Beispiel Tier-Bildern) trainieren. – Die ermittelte Trefferrate ist fantastisch, so lange Bilder aus dem Trainingsdatensatz verwendet werden. – Trotzdem versagt das Netz bei einem bisher unbekannten Bild die Hundeart Spitz zu erkennen, und verortet den Spitz als Tyrannosaurus Rex. Der Kontext in dem der Spitz gezeigt wurde, war anders als bei den Trainingsdaten: Das AI-System konnte aufgrund der geringen Datenvariabiltät kein hinreichend abstraktes Modell ausbilden, um den Spitz in einem andersartigen Kontext zu erkennen. – Das Modell war sozusagen im Instanzbasierten Lernen hängen geblieben.

Beim Bogenschießen machte ich eine ähnliche Erfahrung im Selbsttraining: Ich stellte mich mit sehr vielen Schüssen (und ich meine hunderte, wenn nicht tausende Schüsse) auf einen bestimmten Kontext ein und die Trefferrate war sehr gut! – Eugen Herrigel beschreibt in seinem Buch wie er 4 Jahre aus einem Meter Distanz zum Ziel die Rituale des Zen-Bogenschießens einübt, um dann ad hoc mit einer 60 Meter Distanz konfrontiert zu werden, an der er über Monate kläglich scheiterte.

Bogenschießen unterliegt vielen, wahrscheinlich einigen hundert Parametern: Einer der offensichtlichen Kontext-Parameter ist die Entfernung zum Ziel. Änderte ich in der Anfangszeit die Entfernung ging meine Trefferrate deutlich runter. Ich hatte meine Intuition, mein Gehirn (d.h. mein neuronales Netzwerk), mittels Instanzbasiertem Lernen trainiert. Mit der Hinzunahme weiterer Entfernungen im 3D-Parcours wurde meine Trefferrate immer schlechter, um nicht zu sagen chaotischer. Mein Gehirn hat es aufgrund der vielen Parameter nicht geschafft, von allein eine Intuition, also ein mentales Modell, auszubilden, das mir zu einer besseren Trefferrate verhilft. Bei künstlichen Neuronalen Netzwerken hat man eine ähnliche Beobachtung gemacht: AI-Systeme können ebenfalls „Frustration“ ausbilden, sei es, dass sie in einem System-Zustand verharren oder „chaotische“ Reaktionen zeigen.  

Die Trefferrate wurde erst wieder deutlich besser als ich meiner Intuition auf die Sprünge half. Ich dachte mir ein einfaches Modell aus: Dieses Modell beruht auf der Erkenntnis, dass der Pfeilflug eine Wurfparabel beschreibt. Man spricht auch von ballistischem Schießen. Ist die Distanz gering (ca. 20 m) merkt man vielfach nichts von dieser Wurfparabel. – Vielfach bedeutet, dass die anderen Parameter, wie zum Beispiel Pfeilgewicht, Bogenstärke, usw. dies ermöglichen. Im Falle meines Bogens und meiner Pfeile wird die Wurfparabel ab 20 m immer stärker sichtbar. Das Modell lautet aktuell: Richte den Pfeil in einer geraden Linie auf das Ziel aus, auch wenn es 30 oder 40 Meter entfernt ist, schätze die Entfernung und hebe den Bogen in Abhängigkeit von der Entfernung leicht an. Leicht anheben bedeutet maximal 1-2 Winkelgrad. – Ein Winkelgrad kann durchaus im Ziel eine Abweichung von 50 cm oder mehr hervorrufen. – Also eine ziemliche Anforderung an Intuition und Motorik. Seit ich mit diesem Modell (das noch etwas umfangreicher ist, und weitere Parameter wie zum Beispiel das Pfeilgewicht berücksichtigt) schieße, hat sich die Trefferrate wieder deutlich verbessert und meine Adaptionsfähigkeit ist wesentlich gestiegen.      

Der Neurobiologe Henning Beck beschreibt in [7] wie unser Hang zur Ordnung im Lernen, also zum Instanzbasierten Block-Lernen uns „behindert“:

„Stellen Sie sich vor, Sie sind Lehrer an einer Kunstschule und wollen Ihren Kursteilnehmern den typischen Malstil von van Gogh, Monet und Cezanne vermitteln, wie gehen Sie vor? Oder umgedreht gefragt: Sie sollen für eine Prüfung lernen, was das Typische an den Bildern der drei Künstler ist, was würden Sie tun? Würden Sie sich Bilder der Maler anschauen? Ins Museum gehen, die Bilder vielleicht sogar nachmalen? …

…Eine Gruppe lernte genau nach obiger Blockabfertigung: Zunächst sah man sich eine Reihe von Bildern des ersten Künstlers an, machte dann eine kurze Pause, bevor die Bilder des Künstlers Nummer zwei folgten. Bei der anderen Gruppe machte man etwas anderes: Man zeigte die Bilder aller Künstler durcheinandergemischt, machte dann eine Pause und zeigte anschließend eine neue Runde durchmischter Bilder. Was für ein heilloses Durcheinander! So verliert man doch total den Überblick! …

…Das Ergebnis der Studie war jedoch erstaunlich: Ging es in dem anschließenden Test darum, ein zuvor gezeigtes Bild zu erkennen, dann schnitt die erste Gruppe, die blockweise gelernt hatte, besser ab. Ging es jedoch darum, ein neues, zuvor nicht gezeigtes Bild korrekt zuzuordnen, dann war Gruppe zwei mit den durchmischten Bildern besser. Denn diese Gruppe hatte die Bilder nicht nur auswendig gelernt, sondern auch das Typische der Malstile verstanden…

…Im obigen Malstilexperiment gaben drei Viertel der Teilnehmer an, das blockweise Lernen führe zu einem besseren Verständnis der Malstile – selbst nachdem man den finalen Test gemacht hatte, war die Mehrheit überzeugt, weiterhin blockweise lernen zu wollen.“

Ich habe Henning Beck hier so ausführlich zitiert, weil ich das „…Durchmischen von Lerninhalten, …das „Interleaving“…“ seit vielen Jahren in meinen Management 4.0 Trainings anwende und auch dort die Erfahrung mache, dass 50-75% der Teilnehmer das Block-Lernen bevorzugen. – Wie oben geschildert, geht blockweises Lernen mit dem Unvermögen einher, mentale Modelle zu erstellen, die sich auf neue Kontexte adaptiv einstellen. – Dies ist eine zentrale Fähigkeit um Komplexität zu meistern, also dem Handeln unter Unsicherheit und Unüberschaubarkeit.   

Meine Erfahrungen, sei es im Selbst-Training beim Bogenschießen, beim Erstellen von AI-Systemen oder in meinen Management 4.0 Trainings, zeigen, dass die Schnittmenge in diesen drei vordergründig disjunkten Bereichen keineswegs Null ist. – Die hier skizzierten Metabetrachtungen helfen, Einzel-Disziplinen besser zu verstehen, vernetzte Erkenntnisse zu gewinnen und Meta-Lernen anzuregen.

 

[1] Hörnchen D (2021) Die Bogenwerkstatt, https://www.die-bogenwerkstatt.de/, zugegriffen am 15.09.2021

[2] Wikipedia (2021) Traditionelles Bogenschießen, https://de.wikipedia.org/wiki/Traditionelles_Bogenschie%C3%9Fen, zugegriffen am 15.09.2021

[3] Herrigel E. (2010) Zen in der Kunst des Bogenschießens

[4] Zeigermann O (2021) Introduction Deep Learning to Deep Learning with Tensorflow 2, zeigermann.eu, embarc.de/oliver-zeigermann, ein Training der oose.de

[5] Nuhn H (2021) Organizing for temporality and supporting AI systems – a framework for applied AI and organization research, Lecture Notes in Informatics, GI e.V

[6] Géron A (2020) Praxiseinstieg Machine Learning mit Scikit-Learn, Keras und Tesnorflow, O’Reilly, 2. Auflage

[7] Beck H (2021) Die Crux mit der Ordnung, in managerSeminare 276, März 2021, https://www.managerseminare.de/ms_Artikel/Schlauer-lernen-Die-Crux-mit-der-Ordnung,281117, zugegriffen am 15.09.2021

Agil oder adaptiv? Oder Management 4.0 = Complex Adaptive System Management?!

Die GPM Fachgruppe Normen und Standards im PM [1] trägt zurzeit in ihrer Arbeitsgruppe ‚Agiles Projektmanagement‘ Theorie und Praxis des Agilen Projekt Managements zusammen. Die Ergebnisse dieses Dialogs sollen in relevante Normierungsgremien von DIN, CEN und ISO einfließen.

Eine der aus dem ISO Kontext mitgebrachten Fragen lautet: „Gibt es Unterschiede zwischen Agilem und Adaptiven Management? Und welche Unterschiede sind dies?“

Der folgende Blog-Beitrag geht hierzu auf Spurensuche!

Spüre ich dem Verständnis von Agilem Management nach, so stoße ich fast immer auf ein vorherrschendes Verständnis: Agiles (Projekt) Management = Scrum, alleine oder hybrid-integriert in ein planbasiertes Projektmanagement.  Ich mache dies daran fest, dass in der überwiegenden Anzahl der Gespräche hierzu, sofort von Sprints, Product Backlog, Product Owner oder Scrum Master gesprochen wird, also speziellen Scrum Techniken! Sehr selten werden andere Techniken angeführt und noch viel seltener wird vom Agilen Manifest, von Mindset und Werten sowie Glaubenssätzen gesprochen oder dem Thema Governance. Der Begriff Selbstorganisation taucht zwar auf, jedoch wird keinerlei Zusammenhang zu dem universellen Prinzip der Selbstorganisation, als Governance, hergestellt. – PDCA oder PDIA [2] tauchen mit ähnlich geringer Häufigkeit in den Gesprächen auf, ganz zu Schweigen von Kontext, Empirie oder Komplexität. Agilität wird kaum als Balance von Flexibilität und Schnelligkeit gesehen (Agilität = Flexibilität * Schnelligkeit), und dementsprechend selten wird Agiles Management, als Management betrachtet, diese Balance herbeizuführen. Weiterführend verstehen wir im Management 4.0 Agilität als die Fähigkeit, Komplexität zu regulieren: D.h. sich mit der System-Komplexität, also der eigenen mentalen Komplexität oder der des Teams oder der der Organisation adaptiv auf die Komplexität des Umfeldes einzustellen und beide Komplexitäten, also von System und Umfeld, adaptiv wertschaffend zu meistern. Von diesem Verständnis ist das vorherrschende Verständnis Agilen (Projekt) Managements sehr weit entfernt. 

Umso erstaunlicher ist folgende Feststellung: Eine (erste) Recherche zu Adaptivem Management zeigt ein viel allgemeineres und tiefgehendes Verständnis. Der Begriff Adaptives Management hat es bis zur U.S. Agency for International Development (usaid.gov) gebracht und wird in einer discussion note ausgeführt [3], die auch in direkter Verbindung zum UK BOND Netzwerk steht, das Adaptives Management als ein zentrales Mittel für die erfolgreiche internationale Entwicklung sieht [4, 5]. – Nachhaltigkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, aber auch Komplexität, Selbstorganisation, und PDCA/PDIA spielen in beiden Dokumenten eine zentrale Rolle:  

“Adaptive management is defined in ADS 201.6 as “an intentional approach to making decisions and adjustments in response to new information and changes in context.” Adaptive management is not about changing goals during implementation, it is about changing the path being used to achieve the goals in response to changes. Like other donors and development organizations (see, for example, the following initiatives: Doing Development Differently, Problem-Driven Iterative Adaptation, Thinking and Working Politically, and The World Bank’s Global Delivery Initiative), USAID is increasingly recognizing the importance of adaptability for its work to be effective. ADS 201 now integrates adaptive management approaches throughout the Program Cycle. …“Manage adaptively through continuous learning” is one of the four core principles that serve as the foundation for Program Cycle implementation.”

Dies spiegelt den empirisch-wissenschaftlichen Hintergrund wider [6]:

„Adaptive management is a process that can improve management practices incrementally by implementing plans in ways that maximize opportunities to learn from experience. From: Models for Planning Wildlife Conservation in Large Landscapes, 2009”

Mein Verständnis von Management 4.0 beruht auf folgender Definition und schließt die obigen Ausführungen [3 ,4, 5, 6] zu Adaptivem Management ein:

Management 4.0 ist eine Führungs- und Management- Theorie und Praxis, um in einem komplexen und von Unsicherheit gekennzeichneten Handlungsfeld adaptiv und proaktiv agieren zu können. Sie ist gekennzeichnet durch einen agilen Mindset mit dem Fokus auf:

  • einer Führung, deren Grundlage das Lernen und die Selbstführung ist,
  • einer Führung, die auf den Grundbedürfnissen der Menschen fußt,
  • einer Führung, die die belebte und unbelebte Natur als Basis unseres Lebens schützt und respektiert,
  • einer Führung, die das Verständnis komplexer Systeme fordert, sowie deren Regulation durch ein iteratives Vorgehen fördert, 
  • einer Führung, die Menschen zur Selbstorganisation befähigt.
  • Damit ermöglicht sie Fluide Organisationen, die das anpassungsfähige und schnelle Liefern von nutzbaren Ergebnissen fördern und durch den proaktiven Umgang mit Veränderungen innovative nachhaltige Lösungen schaffen,
  • um wesentlich dazu beizutragen, dass alle Menschen in Würde in einem lebenswerten Umfeld leben, so dass sich das Bewusstsein unserer globalen Gesellschaft ständig integral weiterentwickelt.

Zusammenfassend stelle ich fest, dass Adaptives Management und damit Management 4.0, die Führung und das Management von Complex Adaptiv Systems [7] zum Ziel hat.

Die nachfolgenden drei Abbildungen illustrieren einige Aspekte dieser Definition und des damit verbundenen Verständnisses.

Abbildung 1 verdeutlicht „in einem komplexen und von Unsicherheit gekennzeichneten Handlungsfeld adaptiv und proaktiv agieren zu können“. Hiernach ist sowohl der Start als auch das Projekt-Ziel in einem gewissen Maße unbestimmt und der Weg vom Start zum Ziel ist von hoher Unsicherheit gekennzeichnet und erfordert mittels des PDCA/PDIA eine fortlaufende Adaption. Damit geht dieses Verständnis auch über dasjenige von [3] hinaus, in dem „changing goals“ explizit ausgeschlossen werden. – Das Goal wird im Management 4.0 über eine Ziel-Hierarchie abgebildet, und diese kann sich mit fortschreitender Erkenntnis auf allen Ebenen ändern. – Im Normalfall sollte die Änderung auf der obersten Ebene nur sehr selten und wenig erfolgen.- Die oberste Ebene stellt den am wenigsten sich ändernden Ordnungsparameter dar. Abbildung 1 ist für nicht wenige Projektmanager eine mentale Herausforderung, da sowohl Start als auch Ziel nur „fuzzy“ erfassbar sind.- Damit liegt für viele kein Projekt vor! Die Herausforderungen wie Corona oder Klimawandel illustrieren jedoch sehr eindrücklich die Unzulänglichkeiten dieses Projektverständnisses!

Abbildung 1: Vom fuzzy Projekt-Start zum fuzzy Projekt-Ziel, aus [8]

Abbildung 2 verdeutlicht den empirisch wissenschaftlichen Ansatz des Adaptiven Managements, der auch in [3, 4, 5, 6] enthalten ist. Am Beispiel des komplexen Umfeldes Corona können wir erkennen, wie über Jahrzehnte gelebte Praxis ohne Theorie zu Dummheit führt oder anders ausgedrückt zu mangelhafter Adaptionsfähigkeit und damit verbundenem mangelhaftem Adaptiven Management.

Abbildung 2: Der PDCA/PDIA im Management 4.0, aus [8]

Werden Theorien und Modelle einer Pandemie nicht verstanden oder politisch weichgespült, können keine relevanten Sozialtechniken abgeleitet werden, z.B. abgestimmte Regionalisierungsmodelle zur Pandemie, konsequente Datenerhebungs- und Auswertungs-Modelle gemäß den hypothetischen Erfolgsfaktoren, Ableitung der hypothetischen Erfolgsfaktoren (wie z.B. Einlasskontrollen und Prüfungen im Inland und an den Grenzen, usw.) sowie transparentes Adaptieren der Erfolgskriterien (wie z.B. Inzidenzen, Intensivbettenbelegung, mentale Verfassung der Gesellschaft, usw.). Stattdessen werden in kurzen Zeitabständen ohne Fundament adhoc Maßnahmen eingeführt, die kurze Zeit später schon wieder verworfen werden: Die politischen Amtsträger überbieten sich regelrecht in Aussagen wie „Ich bin der Meinung, dass…“. Meinungen entbehren jedoch oft der Tragfähigkeit; sie finden sich jedoch oft kurze Zeit später als weitere Corona Regeln in einem Wirrwarr von anderen Corona Regeln. Adaptionsfähigkeit verkommt zum Spielball von Interessen oder auch zur Dummheit: Dies ist keine Adaptionsfähigkeit, genauso wenig wie Agilität!

Abbildung 3 verdeutlicht die Verwendung des obigen PDCA/PDIA Zyklus am Beispiel des Management 4.0 Handlungsrahmens Collective Mind [9]:

Abbildung 3: Der PDCA/PDIA aus Abbildung 2 umgesetzt für den Handlungsrahmen Collective Mind [9] im Management 4.0.

Im Handlungsrahmen Collective Mind werden Theorien und Modelle aus wissenschaftlichen Theorie übernommen und auf den jeweiligen Projektkontext als Sozialtechniken adaptiert (in Abbildung 3 sind nur einige Theorien und Modelle als Beispiele angeführt). Die Sozialtechniken gestalten die hypothetischen Erfolgsfaktoren aus, die wiederum die hypothetischen Erfolgskriterien beeinflussen sollen. Diese spezielle Form des Projektdesigns wird adaptiv in Iterationen mittels PDCA/PDIA überprüft und angepasst.

Der PDCA bzw. PDIA wurde nicht von der agilen Community erfunden, jedoch vielleicht erstmals entsprechend seiner Bedeutung verstanden und eingesetzt. Er ist die Basis jeglichen agilen Handlungsrahmens und des Adaptiven Managements. Seit kurzem verwenden immer mehr Anwendungsfelder dieses einfache Modell in verschiedenen spezifischen Ausprägungen. – Stellvertretend hierfür erwähne ich nur zwei sehr unterschiedliche Bereiche, die dies auf den ersten Blick nicht vermuten lassen: Das Sicherheits-, Gesundheits- und Arbeitsschutz-Management gemäß ISO 45001 [10] und das Data Science Analyse Modell gemäß des CRISP-DM Standards [11].  

Im Management 4.0 verwenden wir die aus der Veränderungsarbeit des NLP bekannte Dilts Pyramide zur Charakterisierung von sozialen Systemen, also auch von Handlungsrahmen des Management 4.0 [12]. Die nachfolgende Tabelle charakterisiert Management 4.0 und den dort auch enthalten Handlungsrahmen Scrum:

 

Management 4.0 = Complex Adaptive System Management

Scrum = Agiles Management

Vision, Mission

Wir und unsere sozialen Systeme respektieren Mensch, Tier und Natur und wir sorgen uns um deren Integrität in unserem gesamten Handeln!

Wir sorgen dafür, dass die Arbeitswelt menschenwürdig wird und bleibt!

Mit Empirie lösen wir im Team jede komplexe Aufgabe.

Zugehörigkeit

Wir gehören zu denen, die Komplexität als Basis des Seins verstehen und als Geschenk begreifen, das man annimmt, in dem man es immer besser erfassen lernt.

Wir gehören zu denen, die eine komplexe Aufgabe lösen, in dem sie früh und häufig liefern.

Identität

Wir sind Modellierer unserer Arbeitswelt und sorgen mit Social Technologies für Synergien mit den Physical Technologies.

Wir sind Problemlöser, die ihre Kunden respektieren und Respekt vom Kunden erwarten.

Werte, Glaubenssätze

•       Fokus und Offenheit, Mut und Respekt, integrale Ganzheit und transzendentale Nachhaltigkeit

•       Theorie und Praxis gehören zusammen, Praxis ohne Theorie ist Dummheit: Nichts ist so praktisch, wie eine gute Theorie.

•       Selbstorganisation ist ein universelles Prinzip: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

•       Die universellen Prinzipien sind fundamental für unser gesamtes Sein.

Werte: Transparenz, Fokus, Mut, Offenheit, Selbstverpflichtung, Respekt

Arbeitstechnik-Prinzipien: Timeboxen, Überprüfen und anpassen, frühe und häufige Lieferungen, Transparenz schaffen, ermächtigte selbstorganisierte Teams

Fähigkeiten

Selbstreflexion und Leadership, Modellierung und (systemische) Metakompetenz

Adaption mittels Iterationen im (wissenschaftlichen) PDCA: Erfolgskriterien-Erfolgsfaktoren; Theoriebildung-Hypothesenbildung-Social Technologies/Sozialtechniken-Empirie-Theorieanpassung…

Scrum-Team-Kompetenz: Product Owner -, Scrum Master -, Developer- Kompetenz, Kundenorientierung durch entsprechende Dienstleister-Kompetenz

Verhalten

Ständiges adaptives Verhalten auf der Basis der M 4.0 Fähigkeiten

Scrum-Handlungsrahmen: Aufgabenorientierung (Backlog definiert die Aufgabe), iterative Vorgehensweise, Arbeiten im Team

Kontext

Komplexes System-Umfeld, das durch Unüberschaubarkeit und Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet ist.

Eine komplexe Aufgabe ist umzusetzen und das möglichst schnell und zur Zufriedenheit des Auftraggebers/Kunden

Tabelle 1: Management 4.0 und Scrum verglichen mittels der Dilts Pyramide

Wir bezeichnen die Ausprägungen aller Ebenen der Dilts Pyramide als Mindset. – Wie man unschwer erkennen kann, ist das Scrum Mindset im Management 4.0 Mindset enthalten, jedoch geht dieses weit über dasjenige von Scrum hinaus.

Damit beantworte ich abschließend unsere Eingangsfrage: Setzt man Agiles Management mit Scrum gleich, was oft geschieht, so ist Agiles Management nur eine spezielle Ausprägung Adaptiven Managements, insbesondere wenn man dieses verallgemeinert als Complex Adaptiv System Management, wie im Management 4.0, versteht.

 

[1] Fachgruppe Normen und Standards im PM der GPM (2021) https://www.gpm-ipma.de/know_how/fachgruppen/themenfokussierende_fachgruppen/normen_und_standards_im_pm.html

[2] Wikipedia (2021) PDCA, https://en.wikipedia.org/wiki/PDCA

[3] USAID Learning Lab (2021) Adaptive Management,  https://usaidlearninglab.org/lab-notes/what-adaptive-management-0 und https://usaidlearninglab.org/library/discussion-note-adaptive-management

[4] BOND (2021) Adaptive Management, https://www.bond.org.uk/resources/adaptive-management-what-it-means-for-csos

[5] Wikipedia (2021) Adaptive Management, https://en.wikipedia.org/wiki/Adaptive_management

[6] ScienceDirect (2021) Adaptive Management, https://www.sciencedirect.com/topics/earth-and-planetary-sciences/adaptive-management

[7] Wikipedia (2021) Complex Adaptive System, https://en.wikipedia.org/wiki/Complex_adaptive_system

[8] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos,  auch in englischer Sprache verfügbar: (2018) Project Management at the Edge of Chaos, Springer

[9] Köhler J und Oswald A (2009) Die Collective Mind Methode, Springer

[10] Wikipedia (2021) CRISP-DM, https://en.wikipedia.org/wiki/Cross-industry_standard_process_for_data_mining

[11] Wikipedia (2021) ISO 45001, https://de.wikipedia.org/wiki/ISO_45001

[12] Oswald A und Müller W (editors) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3.0“, BoD 

Agile Persönlichkeit und Kultur: Auf dem Weg zum Evidenzbasierten Agilen Projekt Management – Endlich?!

Die Zeitschrift PROJEKTMANAGEMENTaktuell hat auch dieses Jahr eine Ausgabe (Ausgabe 2/2021) dem Agilen Projekt Management gewidmet. Dieses Mal sind recht viele Beiträge von universitären Autoren enthalten. – Es ist erfreulich zu sehen, dass Agiles Projekt Management seit einigen Jahren zunehmend auch in der universitären Forschung einen Platz erhalten hat.

Insbesondere sticht aus meiner Sicht positiv der Beitrag von Schoper, Gertler und Fox hervor, der erstmalig den Einfluss von Kultur und Persönlichkeit auf das agile Arbeiten untersucht [1].  In diesem Blog-Beitrag widme ich mich diesem Artikel, da der Artikel ein sehr wichtiges PM-Thema wissenschaftlich untersucht und die Ergebnisse eine klare Praxis Relevanz haben. Gleichzeitig möchte ich die wissenschaftliche Vorgehensweise diskutieren und die abgeleiteten Ergebnisse beleuchten.

Von evidenzbasiertem Agilem Projekt Management spreche ich, wenn die Aussagen über die Wirklichkeit zu Agilem Projekt Management bzw. Agilem Arbeiten empirisch wissenschaftlich nachprüfbar sind. Wie ich noch diskutieren werde, bedeutet „empirisch wissenschaftlich nachprüfbar“ nicht automatisch, dass die Aussagen die intendierte Wirklichkeit beschreiben.

Ich fasse die wichtigsten Ergebnisse aus [1] zusammen und verzichte hier auf eine Einführung zum Persönlichkeitsmodell MBTI und zu Kulturmodellen nach Hofstede, Schein oder Spiral Dynamics. – Stattdessen verweise ich auf unsere Bücher [2, 3]:

Erstes Ergebnis: Die ideale agile Persönlichkeit hat die folgenden MBTI Persönlichkeits-Präferenzen: Introversion (Position 4), Intuition (Position 3), Feeling (Position 1) und Perceiving (Position 2). – In Klammern ist jeweils die Bedeutung der Präferenz, als Position, für die ideale agile Persönlichkeit angegeben. Die Persönlichkeits-Präferenz Feeling ist hiernach also am wichtigsten für eine ideale agile Persönlichkeit.

Zweites Ergebnis: Die ideale agile Landes-Kultur (oder nationale Kultur) zeichnet sich durch geringe Machtdistanz (Position 4), ein polychrones Zeitverständnis (Position 1), geringe Unsicherheitsvermeidung (Position 2) und Kollektivismus (Position 3) aus. – In Klammern ist jeweils wieder deren Bedeutung für agiles Arbeiten angegeben. Ein polychrones Zeitverständnis ist also hiernach am wichtigsten für eine ideale agile Landes-Kultur.

Drittes Ergebnis: Die Landes-Kultur ist deutlich einflussreicher als die Persönlichkeit für das Anwenden agiler Methoden. Die Bedeutung der Einflussfaktoren Persönlichkeit und Kultur hat folgende Positions-Ordnung: Polychron, keine Unsicherheitsvermeidung, Kollektivismus, Feeling, Perceiving, Intuition, Introversion, kleine Machtdistanz.

Einige dieser Ergebnisse decken sich mit vielen von mir in Coaching, Training und Beratung gemachten Beobachtungen, andere wiederum nicht und es gibt auch welche die ich als falsch ansehe.

Bevor ich zu den einzelnen Ergebnissen komme, möchte ich zuerst auf die wissenschaftliche Methode eingehen:

Die Ergebnisse wurden auf der Basis einer Befragung von 73 TeilnehmerInnen ermittelt. Die wesentliche Grundannahme, die sich hinter der Ableitung von wissenschaftlicher Erkenntnis durch Befragungen verbirgt, ist, dass die kollektive Intelligenz der Befragten bei sorgfältiger statistischer Analyse die „Wahrheit über die intendierte Wirklichkeit“ zu Tage fördert. Kollektive Intelligenz oder Collective Intelligence ist inzwischen ein anerkanntes Forschungsgebiet [4]. – Sie liegt unserer Management 4.0 Theorie und hier insbesondere der Theorie der Selbstorganisation zugrunde. Kollektive Intelligenz setzt jedoch bestimmt Systemparameter der Selbstorganisation voraus. – Man siehe hierzu Beiträge in diesem Blog oder in unseren Büchern [2,3].
Einfache, schon sehr lange bekannte Erfolge der kollektiven Intelligenz sind zu Schätzungen im Projekt Management bekannt. Diese Erfolge beruhen auf kollektiven Schätzungen von Experten, die sich nicht gegenseitig primen: Die Experten müssen über ein hinreichend homogenes Wissen zum Schätzgegenstand verfügen und dürfen nicht kollektiven mentalen Verzerrungen unterliegen.  – Mentale Verzerrungen werden u.a. aktiv in politischen Wahlen ausgenutzt. Passiv sind sie aber auch vorhanden, wenn die Befragten mentale Verzerrungen durch eine ähnlich geübte Praxis haben. Diese geübte Praxis kann z.B. dadurch entstehen, dass sie zur selben Berufsgruppe gehören und/oder über keine theoretische und praktische Ausbildung zum Themenbereich verfügen oder sie einfach nur zufällig vorwiegend zu gleichen oder ähnlichen Persönlichkeitspräferenzen neigen. Die Vorteile der kollektiven Intelligenz werden beim Schätzung im Projekt Management u.a. in der Delphi-Methode oder im Planning Poker genutzt.

In dem hier betrachteten Fall heißt die Grundannahme, dass die 73 TeilnehmerInnen ExpertInnen in den Bereichen Agiles Projekt Management, MBTI und Kultur sind. – Und, dass die TeilnehmerInnen über eine sehr gut Selbstreflexion verfügen, so dass die jeweiligen eigenen Persönlichkeitsprofile (MBTI-Temperament, Werte und Motive sowie Grundannahmen) die Ergebnisse nicht verfälschen. Falls dies beides nicht der Fall ist, sind die Ergebnisse fragwürdig. Die Grundannahme heißt also, dass die 73 Teilnehmer einen guten „proxy“ für die intendierte Wirklichkeit „agiles Arbeiten in Teams“ darstellen. 

Eine alternative empirische wissenschaftliche Vorgehensweise ist, eine Theorie zur Hochleistung in agilen Teams zu entwickeln oder aus der Literatur zu nehmen, um auf der Basis dieser Theorie Hypothesen zu formulieren. Anschließend werden Teams in der Praxis beobachtet, und die Hypothesen werden an den Beobachtungen getestet bzw. falsifiziert. Hier liegt Evidenz nach allgemeinem Verständnis nur vor, wenn eine hinreichend große Anzahl gleicher oder ähnlicher Teams beobachtet wird und die Ergebnisse der Beobachtung wissenschaftlich ausgewertet werden. Diese geschilderte Vorgehensweise ist in der praktischen Umsetzung sehr schwer. –  Es gibt für (agiles) Projekt Management oder für agil arbeitende Teams bisher meines Erachtens keine Begleitforschung, die dies tut.

Die im Management 4.0 skizzierte Vorgehensweise entspricht in großen Teilen dieser alternativen Vorgehensweise. Sie benutzt das Erfolgsfaktoren-Erfolgskriterien Modell zusammen mit einem wissenschaftlichen PDCA Zyklus: Theoriebildung – Hypothesenbildung – Testen – Ergebnisse sammeln und auswerten – anpassen der Theorie – usw. [2]. Das Sammeln und Auswerten der Ergebnisse erfolgt jedoch nicht nach quantitativen wissenschaftlichen Kriterien und ist damit nach allgemeinem Verständnis keine Vorgehensweise, die Evidenz erzeugt.

Die Vorgehensweise wie sie von [1] gewählt wurde, wird als Evidenz erzeugend angesehen, obwohl die Ergebnisse wie oben geschildert, die Sicht der Befragten (ggf. mit Verzerrungen) messen, also eigentlich nicht die intendierte Wirklichkeit. – Die intendierte Wirklichkeit ist nämlich die agilen Projektteams und deren unmittelbare Beobachtung. – Stattdessen erfolgen das indirekte Sammeln und Auswerten von Aussagen über den proxy „Teilnehmer der Studie“.

Ich halte die in [1] gewählte Vorgehensweise für diskussionswürdig und glaube, dass sie im hier vorliegenden Fall die intendierte Wirklichkeit nicht hinreichend gut erfasst.    

Um dies zu verdeutlichen, skizziere ich das Potential für Verzerrungen an einigen der Aussagen aus [1]. – Schauen wir uns hierzu einige Begriffe an, die die Befragten aus [1] als Experten bewerten mussten.

Zuerst die Aussagen zur idealen Kultur:

Eine geringe Unsicherheitsvermeidung ist mit Position 2 der Kulturpräferenzen ein sehr wichtiges Thema in der agilen Arbeit: Haben die Projektteilnehmer z.B. in einem Projekt Angst ihre eigene Meinung zu äußern, weil sie sich nicht gegen die Mehrheit stellen wollen oder hat das ganze Team Angst Neues anzugehen und frühe Ergebnisse zu zeigen, dann hat dies viel mit Unsicherheitsvermeidung zu tun. Schaut man in die Studie von Hofstede [2], so werden die Griechen als das Volk vermessen, das die höchste Unsicherheitsvermeidung hat. – Was man kaum glauben mag! Hierzu muss man wissen, dass die Messung von Hofstede im Berufskontext und dort wieder bei IBM Mitarbeitern gemacht wurde. Und die Griechen hatten zu dem Zeitpunkt der Befragung große Angst ihren Job zu verlieren. Die Messung und das aus meiner Sicht tatsächliche kulturelle Verhalten haben also nicht zwangsläufig etwas miteinander zu tun. – Die griechische Kultur zeichnet sich im Allgemeinen nach meiner Erfahrung nicht durch Unsicherheitsvermeidung aus. In den wenigsten Fällen dürfte Befragten dieser Zusammenhang bewusst sein. In diesem Fall hier kann man sich jedoch auf das übliche Verständnis von „Unsicherheitsvermeidung“ verlassen. – Auch nach meiner Erfahrung spielt die Unsicherheitsvermeidung eine sehr große Rolle, ob sie im vorliegenden Kontext mehr persönlich oder kulturell geprägt ist, kann ich aus meinen bisherigen Erfahrungen nicht ableiten. – Dies kann aber auch nicht aus den Daten aus [1] geschlossen werden. 

Schauen wir uns die Kultur Dimension „Individualismus-Kollektivismus“ an. – Sie steht auf Position 3 der kulturellen Präferenzen: Nach Hofstede haben gerade die Länder mit hoher Machtdistanz einen ausgeprägten Kollektivismus. – U.a. gehören China und Bangladesch in diese Kategorie.

Nach unserer Erfahrung gehört die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Bindung (u.a. ausgedrückt über die Werte Familie, Liebe, Teamorientierung,…) zu den wesentlichen Elementen einer persönlichkeitsorientierten (agilen) Kommunikation. Wie in [2] dargelegt, zeichnet sich eine agile Kultur durch eine Präferenz für die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Bindung und für die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Lust und Unlustvermeidung (u.a. ausgedrückt durch Neugier, Innovationsbereitschaft) aus. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Selbstwerterhöhung und -schutz (u.a. ausgedrückt über die Werte und Motive Macht, Status, …) sowie Orientierung und Kontrolle (u.a. ausgedrückt durch die Werte und Motive Ordnung, Sicherheit, Kontrolle) ist weniger wichtig. Das Modell der Grundbedürfnisse ist evidenzbasiert und beruht auf dem Konsistenzmodell der Neuropsychiatrie nach Grawe. Hieraus haben wir Aussagen zu Neuro-Leadership sowie zur Verbindung von Grundbedürfnissen und dem Kultur- und Bewusstseinsmodell Spiral Dynamics abgeleitet [2].
Die Kulturpräferenz Kollektivismus basiert in erster Linie nicht auf emotionaler Bindung, sondern auf sozialen Konventionen. Es zeigt sich in der Praxis internationaler Teams, dass Teammitglieder mit einer kollektiven und machtorientierten Ausprägung am Anfang sehr schlecht mit agilem Arbeiten zu Recht kommen. Es bedarf einer gewissen Zeit (Wochen oder Monate) bis sie in einem agilen Projektkontext die durch den Kollektivismus geforderte Anpassung ablegen. Das agile Wir ist nicht identisch mit dem Wir des Kollektivismus!

Die kulturelle Dimension monochrones-polychrones Zeitverständnis steht an Position 1 der kulturellen Präferenzen für agile Projektarbeit. Nach Wikipedia wird sie durch folgende charakteristische Verhaltensweisen beschrieben [5]:

MonochroniePolychronie
Eine Aufgabe nach der anderen erledigenviele Aufgaben gleichzeitig erledigen (Multitasking)
hohe Konzentrationhohe Ablenkung
Termine werden ernst genommenTermine haben keine Bedeutung
Orientierung an PlänenPläne haben keine Bedeutung
Störungen anderer werden vermiedenStörungen anderer werden in Kauf genommen
hohe Pünktlichkeitgeringe Pünktlichkeit (Verspätungen)
Methodische Arbeitdie Geduld geht leicht verloren
Tabelle: Monochrones-Polychrones Zeitverständnis [5]

 

Diese Charakterisierung von monochronem bzw. polychronem Zeitverständnis ist auch mein Verständnis. Das polychrone Zeitverständnis ist (leider) geübte Praxis in vielen Unternehmen. Polychrones Zeitverständnis heißt im Wesentlichen „Tanzen auf vielen Hochzeiten“. Diese kulturelle Dimension findet auch ihre Entsprechung in der Dimension Judging-Perceiving des Persönlichkeitsmodells MBTI: Man kann sehr schnell feststellen, dass Personen mit der Persönlichkeitspräferenz Perceiving ohne große Anstrengung viele Aufgaben im Multitasking erledigen. – Das „Tanzen auf vielen Hochzeiten“ findet man u.a. gerade in den Kulturen der Unternehmen wieder, die über viele Jahre durch einen Chef mit entsprechender Persönlichkeitspräferenz Perceiving geführt wurden.

Falls dies das Verständnis der Befragten in [1] ist, so ist dies das genaue Gegenteil von agilem Arbeiten. Die Begrenzung des WIP ist eine Kernvoraussetzung für agiles Arbeiten und ein Kontrollparameter der Selbstorganisation und damit eine Voraussetzung für Hochleistung. Das Time Boxing und die Iterationen sorgen gerade für die Ausrichtung auf eine Aufgabe. Da das Begriffspaar monochron-polychron diese „negative“ Ausrichtung hat, verwenden wir in unseren Veröffentlichungen [2, 3] das aus unserer Sicht besser passende Begriffspaar monochromes-polychromes Zeitverständnis. Ein polychromes Zeitverständnis konzentriert sich in einer Zeiteinheit nur auf eine Aufgabe, zeigt jedoch Offenheit für weniger Planung und mehr adaptives Handeln, d.h. u.a. dass durchaus ein Plan gemacht wird (siehe PDCA), jedoch auch wieder verworfen oder angepasst wird, wenn der Kontext es erfordert. Die Menschen werden durch das Time Boxing und die Iterationen vor schnellen ad hoc Anpassungen geschützt.

Kommen wir zu den Persönlichkeitspräferenzen:

Die Persönlichkeitspräferenz Introversion steht auf Position 4 der Bedeutung für agiles Arbeiten. Wie in [2] dargelegt, und von Kahneman empirisch wissenschaftlich belegt, unterliegt die Auswahl von Führungskräften oft einer Repräsentations-Heuristik, also einer mentalen Verzerrung: Personen, die schnell reagieren können und immer etwas zu sagen wissen, werden als durchsetzungsstark empfunden. Die Erfahrung zeigt, dass in Teams, in denen die Teammitglieder oft überwiegend introvertiert sind, z.B. in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen oder in der Softwareentwicklung, die Extroversion der Projektleiter ein zusätzliches Risikopotential darstellt: Expertenmeinungen kommen nicht hinreichend zur Geltung, was das Projekt nicht selten in eine Schieflage bringt. – Dies ist ein bekanntes Phänomen in (planbasierten) Projekten mit einem stark extrovertierten Projektleiter.

Deshalb schlagen wir auch für den PO eines Scrum-Teams eine eher extrovertierte Persönlichkeit vor und für den Scrum Master eine eher introvertierte Persönlichkeit. „Eher“ bedeutet hier, beide verfügen über eine hinreichende Selbstreflexion, um die andere Seite der Persönlichkeits-Dimension zu aktivieren. Dies heißt auch, dass es keine feste Position für die Bedeutung agilen Arbeitens gibt, sondern diese sehr stark vom Projektkontext und der ausgeübten Verantwortlichkeit abhängt. 

Die Persönlichkeitspräferenz Intuition ist auf Position 3. Die Bandbreite was unter Intuition zu verstehen ist, ist enorm. Intuition dürfte nahezu immer mit Abstraktion zu tun haben, also einer mentalen Operation der Erfassung des Ganzheitlichen oder Allgemeinen in wahrgenommen Details. Es geht um den Zusammenhang von Feinkörnigem und Grobkörnigem. Unsere in Hochleistungs-Teams gewonnene Erfahrung, ist eindeutig: Die Intuition kann ihre Macht nur entfalten, wenn das Grobkörnige und das Feinkörnige zusammenkommen. Die Intuition Einsteins lebt von der genialen Integration beider Seiten [2]: Dem Erfassen von Details und deren Verarbeitung und der ganzheitlichen integrierenden Sicht, die das Neue und das Wesentliche erfasst und zum Ausdruck bringt. Die Intuition die Faustregeln, Glaubenssätze und Grundannahmen erzeugt, funktioniert ähnlich, kann damit auch Komplexität regulieren, aber auch Verzerrungen hervorrufen. Kahneman sieht hierin eher die damit verbundenen Gefahren, Gigerenzer eher die Möglichkeiten zum Meistern von Komplexität [2].

Meines Erachtens ist das traditionelle (planbasierte) Mindset vorwiegend in den Details verhaftet. – Hierunter leidet das traditionelle Projektmanagement oft. Es wäre aber grundfalsch stattdessen nur die Intuition zu favorisieren. – Ein Hochleistungsteam benötigt beides, um der Genialität Einsteins im Team näher zu kommen. Die diversen Ausprägungen der Ziel-Hierarchie (Collective Mind Schema, Critical Chain PM Strategie Baum, Story Map, OKR’s) sind Ausdruck der Integration von Grobkörnigem und Feinkörnigem. – Sie ist notwendig, um in einem Team oder einer Organisation eine wertschaffende Ordnung hervorzurufen.

Die MBTI-Präferenz Feeling der MBTI Dimension Feeling-Thinking ist auf Position 1 der Persönlichkeitspräferenz für agiles Arbeiten. Diese Präferenz besagt, dass die Entscheidungsprozesse einer Person durch Beziehungen und weniger durch Logik beeinflusst werden. Das Grundbedürfnisse nach Bindung hat sicherlich etwas damit zu tun, jedoch trifft diese Dimension keine unmittelbaren Aussagen über die Bedeutung des Bedürfnisses nach Bindung bei der entsprechenden Person (man siehe auch meine Ausführungen zur Kulturpräferenz Kollektivismus). Was jedoch zutrifft ist, dass Personen mit dieser Präferenz in stärkerem Maße für Störungen in der Beziehung empfindlich sind. – Dies ist sehr hilfreich, um eine gute persönlichkeitsorientierte Kommunikation mit positiver Resonanz aufzubauen. Auch gilt hier wieder die schon für die anderen Dimensionen gemachte Aussage, dass ein gutes Team immer eine Ausgewogenheit von Feeling und Thinking Präferenzen haben sollte und die Teammitglieder über genug Selbstreflexion verfügen, um die positive Resonanz hervorzubringen. Ich füge hier an, dass ich in meinen Management 4.0 Trainings Persönlichkeits-Stereotypen für Product Owner (PM) und Scrum Master (SM) angebe. – Diese Stereotypen dienen lediglich der Orientierung und sollen nicht zum Ausdruck bringen, dass andere Persönlichkeitspräferenzen für die jeweilige Verantwortlichkeit nicht geeignet sind. Unter Berücksichtigung dieser Warnung gebe ich für den PO den Stereotyp ENTJ und für den SM den Stereotyp ISFP an. Hier kann man erkennen, dass der PO eher folgende Präferenzen haben sollte: Extroversion, Intuition, Thinking und Judging. Der SM sollte eher folgende Persönlichkeitspräferenzen haben: Introversion, Sensing, Feeling und Perceiving. Also, die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten erfordern unterschiedliche Persönlichkeitspräferenzen. – Es gibt hiernach nicht das! ideale agile Persönlichkeitsprofil! – Team-Hochleistung entsteht durch ein Team mit diversen Persönlichkeitsprofilen. Im planbasierten Projektmanagement hat man hierauf keinen Wert gelegt. – Im Agilen Management und insbesondere im Management 4.0 ist das ein sehr wichtiges Thema!

Die Persönlichkeitspräferenz Perceiving der Persönlichkeitsdimension Perceiving-Judging bringt das adaptive Eingehen auf jeweils gerade wirkende Kontexte zum Ausdruck. Die Teammitglieder mit der Präferenz Perceiving helfen unterschiedliche Perspektiven auf Kontexte auszubilden. Dies ist gerade am Anfang eines innovativen Projektes von enormer Bedeutung, wenn es darum geht einen Möglichkeitsraum für Ideen explorativ abzusuchen. Mit dem Voranschreiten eines Projektes kann dies jedoch zum Hindernis werden, wenn immer wieder neue Ideen die Umsetzung einer ausgewählten Idee torpedieren. Deswegen haben wir schon vor mehr als zehn Jahren empfohlen, die Teamzusammensetzung eines innovativen Projektes dem Projektfortschritt anzupassen [6]: Am Anfang sind mehr P-Persönlichkeiten im Team, in der Mitte des Projektes und zum Ende mehr J-Persönlichkeiten. Eine kulturelle Entsprechung zur Persönlichkeitspräferenz Perceiving ist die Kultur-Ausprägung polychromes Zeitverständnis. Das polychrome Zeitverständnis kann aber auch sehr schnell zu einem polychronen Zeitverständnis werden. Der Scrum Master sollte die Fähigkeit besitzen, sich adaptiv auf gerade wirkende Kontexte einzustellen; falls er dies jedoch unkontrolliert tut, also ohne Selbstreflexion kreiert sie oder er mit einem polychronen Zeitverständnis im Team Chaos! – Meine Erfahrung hat gezeigt, dass ein Team mit überwiegend P-Präferenzen genauso wenig Hochleistung erbringt wie ein Team mit überwiegend J-Präferenzen. – Die Diversität ist auch hier der Schlüssel für Hochleistung! Nach meiner Erfahrung ist planbasiertes Projekt Management sehr stark Judging orientiert, deshalb ist es sehr verständlich, dass Agiles Management mit der Präferenz Perceiving von den Studienteilnehmern als Gegenentwurf empfunden wird.   

Kommen wir zu der Aussage „Die Landes-Kultur ist deutlich einflussreicher als die Persönlichkeit für das Anwenden agiler Methoden.“

Dies kann ich aufgrund meiner Erfahrung nicht bestätigen. Meine Erfahrung hierzu lässt sich in folgenden Aussagen zusammenfassen:

Es spielen folgende Faktoren eine Rolle: Landes-Kultur, Organisations-Kultur und Persönlichkeit. – Diese Faktoren wechselwirken miteinander und bringen komplexe Muster hervor. In [2] haben wir dies an Beispielen illustriert und modelliert. Der jeweilige räumliche und zeitliche Kontext ist entscheidend, wann welcher dieser Faktoren welche Bedeutung hat.

In einem Unternehmen spielt die Organisations-Kultur oft die entscheidende Rolle. – Hierbei ist zu beachten, dass es in einem Unternehmen von Abteilung zu Abteilung unterschiedliche Kulturausprägungen geben kann. Dies kann in Teams deren Teammitglieder aus unterschiedlichen Abteilungen stammen zu erheblichen Problemen führen. Die Persönlichkeit spielt insoweit auch eine Rolle als der- oder diejenige, deren Persönlichkeit nicht zur Kultur „passt“ je nach Passung einen mehr oder weniger hohen Energieaufwand leisten muss: Da dieses Mitglied nicht „passt“ bleibt es unter seinen Möglichkeiten, empfindet Stress und im schlimmsten Fall Burn Out.

Die Landes-Kultur des Herkunft-Landes eines Teammitgliedes kann eine große Rolle spielen, wenn das Teammitglied im Herkunfts-Land verbleibt. Dies spielt bei virtuellen Teams eine größere Rolle als bei Präsenz-Teams. Der Einfluss der Landes-Kultur geht nach einiger Zeit (Wochen, Monate) jedoch deutlich zurück, wenn der Kontext durch eine andere Landes-Kultur, Organisations-Kultur und Team-Kultur überlagert wird. Zum Beispiel: Ein chinesisches Teammitglied, das in Deutschland lebt und arbeitet, und dessen Team eine persönlichkeitsorientierte resonante Kommunikation pflegt, wird nach einigen Wochen kaum noch im Verhalten durch die Landes-Kultur seines Herkunfts-Landes im Team geprägt werden. – Diese Aussage gilt im Normalfall nur für die Zeit, in der das Teammitglied in diesem Teamkontext verbleibt.

Die obigen Ausführungen sind Bestandteile unserer Trainings und wurden im Laufe von vielen Jahren immer wieder überprüft, konkretisiert und angepasst. Wichtig ist, dass alle Aussagen auf Theorien beruhen, die empirisch wissenschaftlich überprüft wurden. Die spezifische Anwendung auf agile Teams oder Organisationen erfolgte im Rahmen der Management 4.0 Entwicklung.

Die Arbeit von Schoper, Gertler und Fox stellt einen sehr wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar. Vielleicht können meine obigen Ausführungen dazu beitragen, weitere wichtige Schritte folgen zu lassen.

 

[1] Schoper Y, Gertler E, Fox K (2021) Der Einfluss von Kultur und Persönlichkeit auf agile Projektmanagementtechniken, PROJEKTMANAGEMENTaktuell, Ausgabe 2/2021

[2] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos. 2. Auflage, Springer, Heidelberg

[3] Oswald A, Müller A (2018) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices. BoD, Norderstedt, Release 3

[4] Wikipedia (2021) Kollektive Intelligenz, https://de.wikipedia.org/wiki/Kollektive_Intelligenz, abgerufen am 18.05.2021

[5] Wikipedia (2021) Polychronismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Polychronismus, abgerufen am 18.05.2021

[6] Köhler J, Oswald A (2009) Collective Mind Methode. Springer, Heidelberg

Von der Diktatur der Praxis oder der banalen Selbstorganisation

Den ersten Teil des Blog Titels habe ich in Anlehnung an einen Spiegel-Artikel zum Thema „Uhren-Diktatur“ [1] formuliert, der zweite Teil „banale Selbstorganisation“ nimmt Bezug auf meinen März Blog-Beitrag.

Peter Maxwill spricht in [1] mit dem Zeitforscher Karlheinz Geißler, der mit Harald Lesch ein Buch zum Thema „Alles eine Frage der Zeit“ [2] verfasst hat. Etwa zur gleichen Zeit hat Geißler in [3] einen Artikel mit dem Titel „Das Ende der Uhrzeit“ verfasst. 

Während in [3] vom Ende der Uhr und gar vom Ende der Uhrzeit, also dem erwünschten Ende des Diktats der Uhr, gesprochen wird, ist diese Diktatur in [1] noch allgegenwärtig.

Dieser Kampf gegen das Diktat der Uhr ist eine der zentralen Wurzeln aus denen sich das Aufkommen des Agilen Managements oder des agilen Arbeitens vor 25 Jahren! gespeist hat. – Und nach wie vor ist dieser Kampf noch nicht erfolgreich beendet. Die bewusste Gestaltung der Zeit ist eine Kernkompetenz Agilen Arbeitens oder Arbeiten 4.0:  Time Boxing dient u.a. der mentalen Fokussierung und damit der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse und ist eine Grundvoraussetzung für die Erreichung des kollektiven Flow Zustandes Collective Mind; Iterationen, eine spezielle Form von Time Boxing, dienen der empirischen Überprüfung von theoretischen Annahmen in der Praxis und sind eine der Basismittel für den kompetenten Umgang mit Komplexität; die Limitierung des Work-in-Progress pro Person und Zeiteinheit ist ein prominenter Kontrollparameter der Selbstorganisation. Nicht wenige verstehen nach wie vor den Umgang mit Zeit u.a. mittels Time Boxing und Iterationen als „neue methodische Erfindungen“, um in erster Linie Umsatz und Gewinn weiter zu steigern. Der Forderung nach der Begrenzung des WIPs wird in der Praxis selten nachgekommen. Damit eng verbunden ist ein Führungsverständnis, das von „Wahrnehmungsverengung“ bestimmt wird und nicht erkennt, dass „vordergründig unproduktive (Führungs-) Zeit hilft institutionelle Blockaden aufzubrechen“ und damit transformationale Arbeit zu ermöglichen [4].

Denn die bisher geübte Praxis bleibt oft bestehen: Es sei nämlich geübte Praxis, dass man einen übervollen Terminkalender habe, den zwar keiner haben will, gegen den man sich aber auch nicht wehren kann; dass keine Zeit für Pausen gegeben sei, dass man in mehreren oder vielen Projekten aktiv sein müsse, da sonst die Auslastung nicht gegeben sei und das Unternehmen eventuell nicht genug Umsatz hat. – Dies alles sei geübte Praxis und gegen diese könne man sich ja wohl kaum stellen. – Außerdem müsse „man sich“, wenn überhaupt, mit Forderungen zur Abkehr von dieser geübten Praxis an die oberste Führungsebene wenden.

Praxis wird als die unumstößliche Richtschnur angesehen, an der sich Alles andere ausrichten muss, so heißt es! Praxis ist also zuerst einmal nicht eine Wirklichkeit an der sich mentale Modelle und Theorien messen lassen müssen, sondern ist eine Menge von Verhaltensweisen, Methoden, Prozessen und Strukturen, die nicht in Frage zu stellen sind. – Verschiedene Wertvorstellungen, viele Glaubenssätze und unbewusste nicht hinterfragte Grundannahmen stützen die gelebte Praxis. Zurzeit erleben wir im Corona Chaos die Konsequenzen dieses Grundmusters. Denn die in Deutschland in Jahrzehnten erworbene Praxis der Bürokratisierung, der politischen Entscheidungsprozesse und des damit verbundenen Demokratieverständnisse werden selten in Frage gestellt, es ist geübte Praxis, selbst dann, wenn diese Praxis nachweislich zu keinen akzeptablen Ergebnissen der Corona Bekämpfung führt.

Praxis ist also nicht das, an dem sich Theorien oder mentale Modelle messen lassen müssen. Sondern Praxis, das sind oft über Jahrzehnte erworbene Verhaltensweisen, Strukturen und Prozesse, die selten, wenn nicht sogar überhaupt nicht mehr, hinterfragt werden. Damit widersetzt sich die Praxis transformativen Veränderungen, sie ist nicht offen für Anderes und Neues, seien es Perspektiven, Modelle oder Theorien.

Systeme gleichgültig, ob wir selbst, Teams, Unternehmen oder Gesellschaften, sie organisieren sich immer selbst. – Es gibt sicherlich in vielen Fällen Protagonisten, die durch ihre Interventionen das System in eine von ihnen gewünschte Richtung bringen wollen. – Dies wird oft als Führung bezeichnet. Ab einer bestimmten Zeit und Größe übernimmt vielfach das System die Führung. Ist dies für soziale Systeme der Fall, dann spreche ich von banaler Selbstorganisation. Dies liegt vor, wenn das System ein derart großes Beharrungsvermögen zeigt, dass es nur noch bestehende Verhaltensmuster reproduziert und nicht mehr in der Lage ist, neue auszubilden. Dies führt auch dazu, dass die Mehrzahl der Individuen, die in diesen Systemen leben, die Verhaltensmuster des Systems annehmen und kaum noch eigene Verhaltensmuster zeigen. Das System hat unmerklich die System-Selbstorganisation in die Köpfe der beteiligten Individuen gepflanzt.    

Um Komplexität zu beschreiben, benutze ich u.a. den Satz „Die individuellen Elemente „verlieren an Identität“.“ Auf soziale Systeme bezogen kann man diesen Satz vielleicht durch den Satz „Das Ich ergibt sich im sozialen System.“ oder durch „Das Ich ergibt sich nur im Du.“  beschreiben. Während der erste Satz für viele unverständlich oder sogar falsch ist, ist der dritte Satz fast immer positiv belegt. Die Erkenntnis, dass es keine isolierten Objekte gibt und damit keine losgelöste Identität, erschließt sich hingegen kaum. – Es ist die Aussage, dass Kontext oder Kontextualität ein sehr bestimmendes Element unseres Seins ist.

Ich stelle fest, dass diejenigen, die die gelebte Unternehmenspraxis hochhalten und gleichzeitig ihr Gebunden-Sein an diese beklagen, wenig mit dem obigen Satz „Die individuellen Elemente „verlieren an Identität““ anfangen können. – Es fehlt die Metakompetenz aus dem System herauszutreten, und die banale Selbstorganisation abzulegen. – Wir können die Wechselwirkung mit der Welt nicht ablegen, jedoch hinterfragen sollten wir sie schon, um sie ggf. beeinflussen zu können und uns von der banalen Selbstorganisation zu befreien.

Durch das Arbeiten im Home-Office unter Lock-Down Bedingungen wechselwirken auf fatale Weise zwei Effekte, leider oft selbstverstärkend, mit den inzwischen immer öfter beschriebenen krankmachenden Begleiterscheinungen: Die Abgrenzung und die Nicht-Abgrenzung – eine Konsequenz der banalen Selbstorganisation. Das Arbeiten im Home-Office unter Lock-Down grenzt uns von sozialen Kontakten ab. Gleichzeitig gelingt es vielen Menschen nicht sich zumindest temporär von der Macht des Systems „Arbeit“ abzugrenzen. – Die Arbeit dringt in den privaten Bereich vor, und zwar im wesentlichen mit den gleichen Prozessen und Strukturen, die in der Arbeitswelt herrschen: Arbeiten ohne hinreichende Pausen, Work in Progress deutlich höher als 1, Arbeit ohne zeitliche und räumliche „Abgrenzung“. Gleichzeitig fehlt die Entlastung durch zwischenmenschliche Kontakte. Diese Kombination von Abgrenzung und Nicht-Abgrenzung ist toxisch [5, 6]! Die bisherige bestehende Praxis wurde nicht hinterfragt, die toxische Wirkung nicht erkannt und sie entfaltet in dem neuen Kontext Home-Office noch viel stärker ihre toxische Wirkung.- Um so unverständlicher ist für mich der Wunsch nach einem Zurück zu den Vor-Corona Zeiten. Es ist sicherlich der Wunsch, die soziale Abgrenzung einzureißen; in letzter Konsequenz ist es aber auch der Wunsch, die banale Selbstorganisation fortzuführen.

Der Umgang mit Komplexität und die daraus resultierende Unsicherheit lässt sich nicht mit Praxis meistern, deren Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen nicht hinterfragt werden. Die Fähigkeit zur Transformation beruht wesentlich darauf die Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen einer gelebten Praxis zu erkennen und aktiv handelnd in Frage zu stellen, um der banalen Selbstorganisation zu entkommen. Der fortwährende Ruf nach der Praxis ist vielfach der unbewusste Ruf nach Bequemlichkeit im Denken, und selten die anstrengende Falsifikation (mentaler) Modelle und Theorien in der Praxis. – Denn Veränderung ist anstrengend!      

 

[1] Maxwill P (2021) Die Pandemie bietet die Chance, sich aus der Uhren-Diktatur zu befreien, https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-und-klimakrise-es-gibt-ein-zeitsystem-in-uns-das-nichts-mit-uhrzeiten-zu-tun-hat-a-7b396d01-1a56-4b89-8f01-359ad7b3874a, spiegel.de, zugegriffen am 26.04.2021

[2] Lesch H, Geißler K A, Geißler J (2021) Alles eine Frage der Zeit, oekom verlag

[3] Geißler Karlheinz (2021) Das Ende der Uhrzeit, in zfo Zeitschrift für Führung + Organisation, 2/2021

[4] Wüthrich H A (2021) Mutig >>unproduktiv<< sein, in zfo Zeitschrift für Führung + Organisation, 2/2021

[5] Endres H et al. (2021) Wie uns das Homeoffice kaputt macht, https://www.spiegel.de/karriere/wie-uns-das-homeoffice-kaputtmacht-burnout-erschoepfung-depressionen-a-c91f255c-0002-0001-0000-000176982995, spiegel.de, zugegriffen am 26.04.2021

[6] Larenz N (2021) Sind wir zu sozialen Zombies geworden, Herr Schulz von Thun? https://www.spiegel.de/psychologie/friedemann-schulz-von-thun-ueber-die-menschliche-kommunikation-waehrend-corona-a-14aa6c54-fefd-493c-b3bf-7e4984618eb4, zugegriffen am 04.05.2021

Von der kulturellen Aufrechterhaltung von Unwissen oder von der banalen* Selbstorganisation

Den Begriff Agnotology oder Agnotologie kannte ich bis vor kurzem nicht. Erst als ein Freund mich auf die sehr sehenswerte arte Dokumentation „Forschung, Fake und faule Tricks“ aufmerksam machte [1], wusste ich, dass ich dem damit verbundenen Inhalt schon oft und seit langem in den verschiedensten Facetten begegnet bin. Agnotologie ist nämlich eine „Wortschöpfung, die eine neue Forschungsrichtung bezeichnet, welche die kulturelle Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen untersucht“ [2].

Die arte Dokumentation zeigt auf, wie die Industrie, beginnend mit der Tabakindustrie in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, sich meistens über Jahrzehnte erfolgreich gegen neue Erkenntnisse gewehrt hat, um die eigene lukrative Marktposition zu erhalten. Die Idee hierzu ist einfach und gleichzeitig genial und zeugt leider von einer perfiden Metakompetenz: Es wurden mehr oder weniger „käufliche“ eigene oder fremde Wissenschaftler engagiert, die mit wissenschaftlichen Methoden Zweifel an den neuen Erkenntnissen zur Schädlichkeit des Rauchens säten. Es wurde also das zentrale Prinzip der Wissenschaft, die Skepsis bzw. der Zweifel, ganz gezielt eingesetzt, um Zweifel zu sähen und damit Entscheidungen zu blockieren. So konnten in vielen Industrien Entscheidungen teilweise über Jahrzehnte hinausgeschoben werden: z.B. das Verbot zur Zigaretten-Werbung, die Eindämmung der extensiven Nutzung von fossilen Brennstoffen für die Energiegewinnung, Verbote zu verschiedenen gefährlichen Stoffen in den verschiedensten Produkten, u.a. Kunststoffen, usw.. Der Dieselskandal führt diese Art der Denke „konsequent“ weiter [3]: Betrug ist erlaubt, solange das vermeintlich höhere Ziel der Markposition und des damit verbundenen Machtzuwachses unterstützt wird. Das Traditionsunternehmen Bosch spielt im genannten Beitrag bei der Aufarbeitung des Skandals eine besonders unrühmliche Rolle, obwohl das Unternehmen an anderer Stelle angibt, den agilen Geist zu praktizieren. – Es resultiert eine kulturelle Aufrechterhaltung von Banalität oder Dummheit, denn die Kultur wird dominiert von roten (Macht), blauen (Ordnung) und orangen (Erfolg) Memen. – Der langfristige Schaden, der für Mensch, Tier und Natur entsteht, existiert einfach nicht bzw. ist nicht relevant.

Letztendlich ist es dieselbe Denke, die der wilden Wegwerf-Mentalität von Abfall oder der extensiven Nutzung von Rohstoffen in Form von großen schweren PKWs zugrunde liegt.

Aber auch die Basis der Verschwörungsideologien ist hier zu suchen! Verschwörungsideologen erfahren (unbewussten) Stress, den sie versuchen abzubauen, in dem sie durchaus komplexe Ideologien ersinnen, die den internen Stress nach außen verlagern. – Der damit erzeugte mentale „Abfall“ ruft dann sogar auch bei anderen Stress hervor.

Es ist hier, wie da die wertvernichtende Form der banalen Selbstorganisation: Wenn die Tabakindustrie die Wissenschaften benutzt, um gezielt Zweifel zu säen und damit Entscheidungen über Jahrzehnte hinausschiebt, führt sie geschickt einen neuen Kontrollparameter in die Selbstorganisation des gesellschaftlichen Diskurses ein, der den eigenen Ordnungsparameter, nämlich Marktmacht, am Leben erhält.

Wertvernichtende Formen von banaler Selbstorganisation liegen sehr oft vor, wenn die systemische Einbettung nicht berücksichtigt wird: Abfall, den man wild entsorgen kann, macht keinen weiteren Stress. – Große schwere PKWs stärken das Selbstwertgefühl und entschädigen für den Stress, den man an anderer Stelle erfahren hat oder selbst erzeugt hat.

Es wird also die Komplexität (hier der Stress) durch „enggeistige“ Selbstorganisation reguliert, was dann an anderer Stelle wieder Stress, also wertvernichtende Komplexität, erzeugt: Der Abfall schädigt die Natur, im besten Fall wird er auf Kosten der Gesellschaft „verarbeitet“. Die großen schweren PKWs entziehen der Natur wertvolle Rohstoffe durch ihre Produktion und brauchen auch noch ständig in großem Maße fossile Rohstoffe, um benutzt zu werden; erzeugen in großem Maße Abgase, die den Klimawandel antreiben, der dann wiederum aufwendig zu korrigieren ist – wenn es denn noch möglich ist – und sind am Ende ihres Autolebens aufwendig zu entsorgen.

Man reguliert also die wertvernichtende Komplexität, den Stress, über (unbewusste) banale Selbstorganisation, entweder individuell (gutes Gefühl) oder kollektiv (Marktmacht), und erzeugt an anderer Stelle wieder wertvernichtende Komplexität (kulturelle Aufrechterhaltung von Unwissen, Schädigung von Natur und Mensch).

Die Form der individuellen banalen Selbstorganisation ist umso leichter praktikabel, desto näher die individuellen Werte den organisationalen oder gesellschaftlichen Werten kommen. – Denn es wird der geringste individuelle Stress erzeugt.

Ich sah vor kurzem den beeindruckenden Film über Hannah Arendt und ihren Bericht zum Prozess gegen den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann [4]. Ihr Bericht gipfelte in folgender Aussage: „Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte. Aber es war eine Lektion und weder eine Erklärung des Phänomens noch eine Theorie darüber.“ [5].  – Die Nähe zu meinen hier gemachten Aussagen kam mir unmittelbar in den Sinn. – Das Nazi-System hat den Menschen geschickt, individuellen Stress abbauend, angeboten, ihre Selbstorganisation zu übernehmen; diese haben dumm angenommen und die individuelle Selbstorganisation wurde durch die banale System-Selbstorganisation des verbrecherischen Nazi-Regimes ersetzt.

Die banale Selbstorganisation hat meistens nicht solche Ausmaße des Schreckens und Verbrechens, jedoch, so glaube ich, sind die prinzipiellen Muster in verschiedenen Kontexten gleich.

Der Glaubenssatz, dem die Tabakindustrie, die Ölindustrie, die Pharmaindustrie, die Nahrungsmittelindustrie und die Autoindustrie (aktuell) unterliegen, das ist der Glaube, dass ihre Marktmacht, um jeden Preis zu erhalten ist, dass ihre Marktmacht Wachstum erzeugt und Wachstum erzeugt Wohlstand. – Dass diese Form des Wachstums als dumm angesehen wird, ist eher selten. – Parteien gründen darauf ihr Wahlprogramm, Unternehmensführer rechtfertigen damit ihr Handeln und sogar die Gewerkschaften fordern auf dieser Basis den Erhalt von Arbeitsplätzen in Industrien, deren Schädlichkeit längst bekannt ist.

Dem so verstanden Wachstum liegt sogar eines der wichtigsten physikalischen Prinzipien zugrunde, nämlich das der Entropie bzw. hier der negativen Entropie (Negentropie). Der Physiker Erwin Schrödinger hat erstmals Leben, als eine Form organisierter Komplexität fern vom sogenannten Gleichgewicht verstanden. Leben bildet organisierte Komplexität aus, indem es Entropie nach außen transferiert, also negative Entropie in sich erzeugt [6]. – In der ARD-Mediathek gibt es hierzu einen wunderschönen Erklär-Comic [7]!

Jegliche Form von Wachstum, also auch Leben, produziert Entropie, eine Form von „Abfall“, in Form von Materie oder Energie. Die Umgebung muss jedoch in der Lage sein, diesen „Abfall“ aufzunehmen und zu verarbeiten. – Die Natur macht genau dies Tag ein – Tag aus! – Die Natur gerät aber aus den Fugen, wenn durch Entzug von Materie oder Energie und anschließende Rückgabe von Abfall-Materie und -Energie, zu viel Stress im System Natur entsteht.

Wenn wir also organisierte Komplexität aufbauen, und damit eine Form von „Leben“, indem immer mehr Organisationen immer mehr Produkte erzeugen, konsumieren und „entsorgen“, erzeugen wir irgendwann nicht mehr bewältigbaren Stress im umgebenden System Natur.

Inzwischen wurde sogar ein sogenannter Economic Complexity Index (ECI) als relatives Maß für wirtschaftliche Potenz erfunden [8]. – Der ECI stellt eine beachtliche Modellierungsleistung dar [9] und ist inzwischen seit einigen Jahren auch als Atlas ECI mit beindruckenden graphischen Darstellungen und daraus abgeleiteten neuen ökonomischen Erkenntnissen verfügbar[10]. Jedoch…

…der ECI misst die relative ökonomische Komplexität der Produktlandschaft eines Landes und leitet daraus u.a. die Zukunftsfähigkeit eines Landes ab. Vereinfacht ausgedrückt, desto komplexer die Produktlandschaft ist, desto zukunftsfähiger ist das Land. Aussagen zur Kreislaufwirtschaft bzw. Nachhaltigkeit sind in diesem Index bisher nicht enthalten. Das hängt damit zusammen, dass der ECI pro Land nur die wirtschaftlich relevante Produktkomplexität misst. Deutschland hat u.a. seinen ECI im Laufe der letzten Jahrzehnte gesteigert, unsere Produktlandschaft wurde immer vernetzter und vielfältiger, also komplexer. Der CO2-Ausstoß wurde gleichzeitig reduziert. Wer noch in den 70er/80er Jahren durch das südliche Saarland/Lothringen gefahren ist, konnte hautnah erfahren welchen Schmutz die dortige Duo-Produktlandschaft Kohle und Stahl erzeugte. Die Produktkomplexität hat sich inzwischen deutlich verbessert, auch die Luftverhältnisse. – Leider kann man daraus nicht schließen, dass hohe Produktkomplexität zu besserer Luft führt. – Also diese Form von Wachstum gut ist.

Es ist zu bedenken, dass wir von einem sehr hohen Niveau der Luftverschmutzung langsam auf ein erträgliches Maß kommen und was meines Erachtens noch bedeutender ist, dass wir über die letzten 30-50 Jahre massiv Entropieproduktion verlagert haben, in dem wir konsumorientiert die „unsauberen“ Industrien exportierten. – China gehört heute zu den Ländern, die mit Abstand das meiste CO2 ausstoßen. China durchlebt gerade an vielen Orten unsere Industrialisierung vor 50-70 Jahren. – Also auch hier finden wir wieder die kulturelle Aufrechterhaltung des Unwissens, da wir nicht den Zusammenhang unseres reduzierten CO2 Ausstoßes mit dem „Abfall“ außerhalb unserer nationalen Wirtschaft sehen.

Den Autoren des ECI kann man wohl nicht unterstellen, dass sie bewusst Unwissen aufrechterhalten wollen. – Sie stützen jedoch durch „Weglassen“ wichtiger Aspekte einen ganzheitlichen Zugang zum Wissen. – Letztendlich unterstützen sie damit die Aussage „Ökonomisches Wachstum mit mehr Produktkomplexität ist (immer) gut“. Ökonomisches Wachstum wird als bedingungsloser Kontrollparameter verstanden, der den Ordnungsparameter Wohlstand stützt.- Und das ist systemisch betrachtet schlicht falsch!

Ich habe in diesem Blog – zugegeben – einen weiten Bogen gespannt, von den Verbrechen der Tabakindustrie, über das schon fast „übliche“ Verhalten des sogenannten Normalbürgers in seinen verschiedenen Facetten zu den unvorstellbaren Schrecken und Verbrechen des Nazi-Regimes. Und auch die Wissenschaft ist nicht frei von der geschilderten Art der Komplexitätsregulation oder Stressbewältigung. Überall begegnet uns die Gedankenlosigkeit des Menschen, indem der Mensch die Selbstorganisation seines Denkens einem (mentalen) System oder einer Organisation übergibt und sich dort „einordnet“. – Diese banale Selbstorganisation ist für die kulturelle Aufrechterhaltung von Unwissen verantwortlich und diese birgt das Unheil in sich!

Leben basiert auf Entropie Abgabe, jedoch darf dies nie auf Kosten anderen Lebens geschehen, selbst wenn dieses Leben noch in der Zukunft liegt!

 

Ich verwende den Begriff „banal“ in Anlehnung an Hannah Arendt’s Wortwahl anlässlich der Berichterstattung zum Prozess des Nazi-Verbrechers Adolf Eichmann    

 

[1] arte (2021) Forschung, Fake und faule Tricks, https://www.arte.tv/de/videos/091148-000-A/forschung-fake-und-faule-tricks/, zugegriffen am 02.03.2021

[2] Wikipedia (2021) Agnotologie, https://de.wikipedia.org/wiki/Agnotology, zugegriffen am 02.03.2021

[3] ARD/WDR (2021) #DIESELGATE – Die Machenschaften der deutschen Autoindustrie, https://www.ardmediathek.de/ard/video/wdr-dok/dieselgate-oder-doku/wdr-fernsehen/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTc5ZGFlMTI2LTM1ZDMtNDg1Yi05MTJiLWY4YTdhZDc5MDZjNA/, zugegriffen am 02.03.2021

[4] MDR (2021) Hannah Arendt, https://www.ardmediathek.de/ard/video/filme/hannah-arendt-oder-drama/mdr-fernsehen/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy85ZGM4NjViNy02ODgwLTQ0MWYtYWNiYy02MWMxNzI4NThkOGE/, zugegriffen am 02.03.2021

[5] Wikipedia (2021) Hannah Arendt, https://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt

[6] Wikipedia (2021) Erwin Schrödinger, https://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Schr%C3%B6dinger, zugegriffen am 02.03.2021

[7] ARD (2021) Warum lebst du? – Energie & Entropie, https://www.ardmediathek.de/ard/video/kurzgesagt/warum-lebst-du-energie-und-entropie/funk/Y3JpZDovL2Z1bmsubmV0LzExMDkwL3ZpZGVvLzE3MzI0MjM/, zugegriffen am 02.03.2021

[8] Wikipedia (2021) Economic Complexity Index,  https://de.wikipedia.org/wiki/Economic_Complexity_Index, zugegriffen am 02.03.2021

[9] Hidalgo C A (2021) Economic complexity theory and applications, Nature Reviews | Physics

[10] Atlas ECI (2021) https://atlas.cid.harvard.edu/, zugegriffen am 02.03.2021

Vom Projekt Corona oder von der Governance-freien Politik

Ich trage mich schon seit einigen Monaten mit dem Gedanken, diesen Blog zu schreiben. – Auslöser, es jetzt zu tun, ist die Erfahrung, die ich in den letzten Monaten und Wochen mit der Betreuung meiner 89-jährigen Mutter in einem Seniorenheim gemacht habe: Es vergehen Wochen und Monate in denen wir einen nur sehr eingeschränkten Zugang zu ihr bekommen. Zwischendurch haben sich recht viele Krankenhausaufenthalte ereignet, manche auch wochenlang in denen kein persönlicher Kontakt bestand. – Hinzu kam, dass meine Mutter sich, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, das COVID-19 Virus im Krankenhaus eingefangen hat und daraufhin auch noch mehrere Wochen in Quarantäne musste. Ich habe mir die Frage gestellt, ob dies alles wirklich notwendig ist, oder eher vermeidbar wäre, denn menschenwürdig ist es auf keinen Fall. – Aus meiner Sicht geschehen zu viele Fehler bei der COVID-19 Bekämpfung. – Die Sinnhaftigkeit verschiedener Bekämpfungs-Maßnahmen will sich mir nicht erschließen, weil ich diese mit jenen Fehlern verbinde.

Die letzten Monate habe ich mir vermehrt die Frage gestellt habe, ob ein Unternehmensprojekt, all die unglaublichen Fehler der letzten Monate verkraften würde?

Aus diesem Grunde tue ich jetzt einmal so, als ob die COVID-19 Bekämpfung ein Projekt, mit dem Namen Corona, wäre.

Bei der Anwendung des (Projekt-) Namens „Corona“ wurde schon der erste große Fehler begangen: Aus dem (Projekt) Management, dem Coaching und der Psychotherapie wissen wir, dass Menschen ganz schlecht mit negativen Aussagen umgehen können. Negative Aussagen bewirken keine Veränderung, sie verhindern diese sogar. Als die Entdecker von COVID-19 dem Virus auch den Namen Corona gegeben haben, hatten sie sicherlich keine wirklich negative Assoziation im Sinn. Man muss heute schon sehr lange bei google scrollen, um auf den Wikipedia Eintrag zu Corona (Antike) als Ehren- und Siegeskranz zu stoßen [1]. Heute wird Corona sicherlich nicht mit etwas Positivem, nämlich Ehre und Sieg, verbunden, sondern mit Einschränkungen, Unsicherheit, Angst und Freiheitsentzug.
Ein gutes Projektteam nimmt zu Projektbeginn eine Einschätzung mittels des Stacey-Darstellung und/oder dem Diamantmodell vor, um im Projektteam eine gemeinsame Sicht auf das Projekt zu erhalten [2]. Im Fall des Projektes Corona käme man wahrscheinlich sehr schnell zur Einschätzung, dass es sich um ein Projekt mit sehr hohem Innovationsgrad und sehr hohem Missionsgrad handelt. Es handelt sich also um ein Transformationsprojekt, das sich auch technologisch auf völligem Neuland bewegt. Nimmt man das Diamantmodell als Erweiterung hinzu, so würde man das Projekt als Krisenprojekt einstufen, das zudem auch noch alle Subsysteme des Systems BRD erfasst. Man spricht in diesem Fall von chaotischen Projekten, Projekten also, die immer die Gefahr in sich bergen, aus dem Ruder zu laufen und dieses „aus dem Ruder laufen“, wenn es denn einmal passiert ist, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Diese Erkenntnis ist jetzt sicherlich nicht überraschend, aber ein gutes Projektteam wüsste, dass damit der Einstieg in eine systematische Analyse dieser Projektdimensionen vorzunehmen ist, dass die Einschätzungsskalen kontinuierlich anzupassen sind und, dass nur „auf Sicht gefahren“ werden kann. Das Projektteam wüsste aber auch, dass der Projektname positiv aufgeladen werden muss! – Ein Projektname mit negativer Aufladung erzeugt bei jedem Stakeholder (Interessensvertreter) nur Aversionen. Jetzt wird der ein oder andere sagen, wie sollte man so ein Projekt positiv aufladen? Nämlich damit, dass man nicht das Virus mit Corona assoziiert, sondern stattdessen „Ehre und Sieg“ und damit all die Chancen, die sich daraus ergeben: Erweiterung des Schul- und Universitätssystems um Online-Angebote, weitere Verbesserung der Digitalisierung der Verwaltung (u.a. wäre das RKI nicht mehr via FAX an die lokalen Gesundheitsämter angebunden), Stärkung lokaler wirtschaftlicher Angebote, Homeoffice, deutliche Verbesserung der Nachhaltigkeit, Erweiterung und Verbesserung demokratischer Mechanismen, Verbesserung des Gesundheitssystems…usw. also alles Themen, die aktuell über uns hereingebrochen sind, jedoch eben nicht bewusst gestaltet wurden. Und damit hat die Politik einen wichtigen mentalen Anker für die Transformationsarbeit, nämlichen die positive Assoziation, die mit dem Projektnamen verbunden werden könnte, verspielt!  – Dies ist ein „universelles“ negatives Muster in Projekten.

Der Weg zurück in den Vor-Corona-Zustand macht keinen Sinn. Wie die Bertelsmann Stiftung in einer ihrer letzten Studien darlegt, sind „Viele Staaten schlecht auf Zukunft vorbereitet“ [3]. – Es macht also keinen Sinn, dem Vergangenen nach zu weinen. – Es macht Sinn, die Zukunft mit Corona zu gestalten!

Ein weiteres wichtiges Kennzeichen erfolgreicher Projekte ist die Kompetenz der Projektteammitglieder. – Schauen wir uns die Krisen der letzten Jahre an: Flüchtlingskrise, Finanzkrise aber auch der Umgang mit der Griechenlandkrise oder der Umgang mit BER oder Elbphilharmonie.- Immer wieder lässt sich ein Muster erkennen: Die Politiker halten sich für sehr kompetent, teilweise von Hybris gesteuert. – Man stelle sich nur vor, der amerikanische Präsident hätte sich angemaßt, die Bewältigung des Ölkatastrophe der Deepwater Horizon selbst zu leiten [4]. – Auch dann, wenn eine Krise im politischen Raum stattfindet, sollte nicht geschlussfolgert werden, dass deren Bewältigung (allein) in die Hände von Politikern und Verwaltungsexperten gelegt wird, da ja für die Bewältigung angeblich keine spezielle Kompetenz (oder allenfalls politische) notwendig sei: Der Transport des COVID-19 Impfstoffes in „Campingboxen“ wirft ein Schlaglicht auf das Thema Kompetenz [5]. Es gibt derzeit kein Indiz dafür, dass dies nur ein Einzelfall ist und nicht etwa die Spitze vom Eisberg. Die Beschaffung von Schutzkleidung und Masken, den Schnelltests oder die Beschaffung der Impfstoffe geht in dieselbe Richtung. Es ist der Politik dringend anzuraten, sich multifunktional beraten zu lassen und die Beratung nicht auf dem Scheiterhaufen von persönlichen und parteipolitischen Eitelkeiten oder Machtinteressen zu opfern: Im Falle des Projektes Corona gehören zumindest Virologen, Epidemiologen, Projektmanager, Logistiker, Sozialwissenschaftler, Psychologen und Aritificial Intelligence/Data Science Spezialisten mit ins erweiterte Team. Es ist eine völlig irrige Annahme, die wir gerade in Unternehmensprojekten beginnen zu überwinden, dass Spezialisten nur in die operativen Einheiten gehören. Entscheidungen von großer Tragweite sind immer auch an das Spezialwissen der Experten gebunden. Im Agile Management weiss man, dass das „große Bild“ und die Details wirklich gut verbunden werden müssen. – Ja, dass die Details das „Große Bild“ oft massiv verändern und vice versa. Falls die Hybris „großer Bild“-Träger dies nicht zulässt, ist in chaotischen Projekten das selbstgemachte Chaos nicht weit. – Unlängst konnte ich im Spiegel lesen, dass die verschiedenen Chefs der Staatskanzleien „rund um die Uhr“ arbeiten [6]. – Jeder Projektmanager kennt dieses Muster, es kommt für kurze Zeit in jedem komplexen oder chaotischen Projekt vor; dauert es jedoch an, so ist dies kein Zeichen für Engagement mehr oder Projektnotwendigkeit, sondern für eine Reihe angehäufter Fehlentscheidungen, die eine immer größer werdende Lawine an ad hoc Aktivitäten notwendig machen: Wurden zum Beispiel Fehlentscheidungen bei der vertraglichen Reservierung von Impfstoffen getroffen, so erfordert dies ein Nachsteuern mit enormen Aufwand und zusätzlich sind diverse Stakeholder durch ein Meeting nach dem anderen zu beruhigen. Da das Nachsteuern wahrscheinlich nicht so funktioniert wie nachträglich gedacht, ergeben sich weitere Meetings mit noch mehr Aufwand usw.– Auch dies ist ein „universelles“ negatives Muster in Projekten. 

Kommen wir zur Projektorganisation: Für mich ist nicht erkennbar, dass es einen Projektleiter oder eine Projektleiterin (z.B. die Bundeskanzlerin, die durch einen Projektmanager unterstützt wird) gibt. Falls man die Länderchefs als Teilprojektleiter ansehen würde, so hätte man so etwas wie eine Projektorganisation. Aus dem Unternehmenskontext weiß man aber auch, dass Chefs, die gewohnt sind, die Linie zu führen, sehr selten auch gute Projektleiter oder Teilprojektleiter sind. Der Wert Macht und das Ego spielen meistens eine zu große Rolle. Hinzukommt, dass Teilprojektleiter mit zu großem Ego und Machtanspruch, gemeinsame Entscheidungen torpedieren und gemeinsam getroffene Entscheidungen untergraben. – Genau das passiert ja aktuell immer wieder im Projekt Corona. Dies ist pures Gift für die Krisenbewältigung. Denn diese nicht problembezogenen Strukturen und Persönlichkeiten binden viel Energie, die der eigentlichen Aufgabenstellung entzogen wird und es kommt noch ein zusätzlicher Aspekt hinzu: Die nicht problembezogenen Strukturen und Persönlichkeiten bringen zusätzliche Risiken und Unsicherheiten in das Projekt. Zum Beispiel führen die unterschiedlichen Aussagen und Maßnahmen zu einer Verwirrung unter den Stakeholdern, also den Bürgern der BRD. Jeder Projektleiter, der schon einmal ein Projekt mit hohem Transformationsanteil geleitet hat, weiß, dass viele unterschiedliche Meinungen und Maßnahmen, die sich teilweise sogar widersprechen, zuerst Verwirrung auslösen. Dauert dies an, so führt dies zu Unsicherheit und schließlich zu Angst. Angst verhindert jegliche Transformation. Meine These ist, dass die Politiker und diejenigen die sich im öffentlichen Raum immer wieder berufen fühlen, ihre Meinung kundzutun, über diesen Mechanismus unbewusst ganz erheblich zur Verbreitung der Verschwörungsideologien beitragen. Verschwörungsideologien sind bei Menschen, die Sicherheit und Struktur brauchen und sich durch einschränkende Maßnahmen in ihrer Freiheit bedroht fühlen, das Ventil, um diese Angst abzuleiten.
Falls in den Teilprojekten, also hier in den Ländern, unterschiedliche Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus durchgeführt werden, so erzeugt dies nicht nur diese mentale Verwirrung und schließlich Angst, sondern es ist fast unausweichlich, dass mit der unterschiedlichen Behandlung innerhalb der Teil-Systemgrenzen (also innerhalb der Länder) ein Schnittstellenmanagement notwendig wird. – Eine Notwendigkeit, die nichts mit dem Problem „Virus“ zu tun hat, sondern durch die vorhandenen Strukturen hervorgerufen wird. – Auch dies sind „universelle“ negative Muster in Projekten. 

Ein komplexes bzw. chaotisches Projekt zeichnet sich weiterhin dadurch aus, dass dessen Start fuzzy ist, der Weg zum Ziel fuzzy ist und das Ziel auch sehr lange fuzzy bleibt.  Jeder gute Projektleiter, jedes gute Projektteam, weiß dies und geht sehr sorgsam mit Prognosen um, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass morgen die Prognose schon veraltet ist. Um so schlimmer sind Prognosen mit konkreten, aber nicht validierten Aussagen bzw. Zahlen: Z.B. Morgen oder in 3 Monaten haben wir das Virus besiegt (oder nicht besiegt) oder bis Ende 2021 werden 100.000 Menschen gestorben sein oder wir brauchen nicht mehr als 10 Mio. Impfdosen usw.. Wir lieben einerseits die Genauigkeit und verbinde sie mit Professionalität, andererseits hassen wir sie, wenn die Aussagen nicht eintreffen. Denn dies führt zu einer weiteren Verunsicherung, Unsicherheit und Angst und damit in den Teufelskreis der mentalen Ausweglosigkeit. Es ist eine Metakompetenz der Projektführungskräfte, genau diese Zusammenhänge zu erkennen und ggf. das eigene Ego mal nicht zur Schau zu stellen. Oder vielleicht die eigene Angst nicht dadurch in den Griff bekommen zu wollen, dass Horrorszenarien geschürt werden, um eine Veränderung zu erzwingen, die wieder Ordnung und Kontrolle garantiert. Horrorszenarien führen vielleicht am Anfang zu Verhaltensänderungen, aber auf keinen Fall zu langfristigen Veränderungen und schon gar nicht, wenn sie quasi im Sekundentack von allen möglichen Experten in unterschiedlichsten Formen geäußert werden.  – Auch dies ist ein „universelles“ negatives Muster in Projekten.

Am Anfang des Blogs, in Zusammenhang mit dem Projektnamen, habe ich kurz erwähnt, dass Projekte Sinn brauchen: Dies gilt insbesondere für komplexe (Innovations- und Transformations-) Projekte mit vielen betroffenen Stakeholdern. Aus diesem Grund spielt die sogenannte Ziel-Hierarchie eine so enorme Rolle in solchen Projekten. – Im Idealfall konkretisiert die Ziel-Hierarchie vom „Big Picture“ zum Detail die emotionale Ladung, die dem Projektnamen (schon hoffentlich) anhaftet und dient auch als agiler „Plan“ für die Umsetzung. – OKR’s, Story Maps oder Collective Mind Ziel-Hierarchie sind Beispiele dafür. An dieser Ziel-Hierarchie richtet sich das Projektteam aus. Es sorgt u.a. auch dafür, dass Projektleiter, Teilprojektleiter und die anderen Stakeholder gemeinsam! einen kollektiven Sinn entwickeln und nicht mit unterschiedlichen Meinungen in ihre Teilprojekte gehen, um dort unterschiedliche Maßnahmen umzusetzen und diese unterschiedlichen Maßnahmen ohne Bezug zum übergeordneten kollektiven Sinn den Stakeholdern zu kommunizieren. Im (Projekt-) Management herrschte viele Jahrzehnte die Meinung, dass Ziele SMART (Spezifisch, Messbar, Akzeptiert, Realistisch und Testbar) sein sollten. Diese Aussage gilt nach wie vor, jedoch nicht auf oberster Ziel-Ebene, sondern auf der Ebene der detaillierten Ziele. Damit verbunden ist der Glaube, Projekte werden in erster Linie über Zahlen geführt. Zahlen dienen lediglich als sogenannte Kontrollparameter. Die bekannten Corona Kennzahlen sind also Kontrollparameter aber keine Ordnungsparameter, die Sinn vermitteln. Die Politik führt über diese Kennzahlen, und verwechselt die Steuerung über Kennzahlen mit der Führung über Sinn. – Auch dies ist ein „universelles“ negatives Muster in Projekten.     

Es gibt auch Kontrollparameter, die unmittelbar sehr viel mit dem Thema Metakompetenz zu tun haben. Als unlängst unser Außenminister Maas meinte, Geimpfte sollten andere Rechte (Lockerungen) bekommen, als Nicht-Geimpfte, hat er meines Erachtens die für einen Politiker diesen Rangs notwendige Metakompetenz deutlich vermissen lassen. Man siehe hierzu u.a. auch die Kommentare auf meta.tagesschau.de [7]. – Es ist erfreulich zu sehen, dass der Begriff „meta“ in den üblichen Sprachgebrauch überzugehen scheint. Man stelle sich einen Moment Mitarbeiter in einem Unternehmen vor: Die einen bekommen (nicht nachvollziehbar, eher willkürlich oder zufällig) einen besonderen Bleistift zugeteilt, andere erhalten diesen Bleistift nicht. Diejenigen, die den Wunderbleistift erhalten haben, dürfen jeden Tag eine Stunde früher Schluss machen. Das Ergebnisse wäre ein sozialer Riss, der durch die Belegschaft ginge.- Die soziale Kohäsion wäre damit vorbei. Und genau diesen Vorschlag hat unser Außenminister gemacht. Es stellt sich wirklich die Frage, wie groß muss die Ego-Not sein, damit man solche unverzeihlichen Führungsfehler macht.

Der zweite Teil des Blogtitels „von der Governance-freien Politik“ bringt zum Ausdruck, dass der Politik, die man oft unmittelbar mit dem Begriff „Governance“ verbindet, eine Governance für das Projekt Corona fehlt. Als schwerwiegende Indizien dienen die obigen „universellen“ negativen Muster.  Politik braucht Goverance, erst recht wenn es um ein Krisenprojekt (in der Krise) geht!      

Während ich diesen Blog-Beitrag schreibe (Do. 28.01.2021, 08:00-12.00 Uhr) kommt eine Hiobsbotschaft nach der anderen zum Projekt Corona rein.

 

[1] Wikipedia (2021) Corona (Antike), https://de.wikipedia.org/wiki/Corona_(Antike), zugegriffen am 28.01.2021

[2] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer, Heidelberg

[3] Schiller C, Hellmann T (2021) Corona deckt auf: Viele Staaten sind schlecht für die Zukunft vorbereitet, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2021/januar/corona-deckt-auf-viele-staaten-sind-schlecht-fuer-die-zukunft-vorbereitet, Bertelsmann Stiftung, zugegriffen am 28.01.2021

[4] Wikipedia (2021) Deepwater Horizon, https://de.wikipedia.org/wiki/Deepwater_Horizon, zugegriffen am 28.01.2021

[5] Amtmann K (2021) Corona-Impfstoff in Bayern fahrlässig zerstört? Ministerium äußert sich zu scharfen Vorwürfen, https://www.merkur.de/bayern/impfstoff-corona-bayern-soeder-biontech-huml-campingboxen-panne-news-zr-90160295.html, Merkur 

[6] Gathmann F, Hagen K, Teevs C (2021) Die Entscheider im Hintergrund https://www.spiegel.de/politik/deutschland/staatskanzleichefs-in-der-corona-krise-die-entscheider-im-hintergrund-a-822feb44-569b-425c-b418-093ff6899d63, Spiegel, zugegriffen am 28.01.2021

[7] ARD (2021) https://meta.tagesschau.de/id/148079/corona-pandemie-maas-will-lockerungen-fuer-geimpfte, zugegriffen am 28.01.2021

„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ oder „Viel Lärm um nichts“

Anfang Dezember 2020 wurde ich von youtube im Kanal „Sternstunde der Philosophie – SRF Kultur“ auf das Gespräch von Wolfram Eilenberger mit dem Philosophen Markus Gabriel aufmerksam gemacht [1]. Der reißerische Titel «Falsch: Alle Philosophien der letzten 2500 Jahre!» sprach mich direkt an, zumal ich ein paar Jahre vorher ein Buch von Gabriel auch mit einem reißerischen Titel „Warum Es Die Welt Nicht Gibt“ gelesen hatte und ich hierzu keine Erinnerung mehr abrufen konnte [2]. – Während des SRF Beitrages erfährt man, dass der offizielle Titel des Beitrages „Für einen neuen Existenzialismus“ lautet. – Ein Grund mehr mir den Beitrag anzusehen, da die intensive Beschäftigung mit dem Existenzialismus Camus’ und Sartres’ mich vor vielen Jahren sehr beeindruckt und auch wahrscheinlich geprägt hat [3].

Ich gehe in diesem Beitrag auf Aussagen aus dem Interview und dem Buch ein: Wie zu erwarten, betrachte ich beide mit meiner Brille zu den Themen Komplexität und Selbstorganisation. – Wir werden sehen, dass es einige Überschneidungen gibt, aber auch deutliche Unterschiede.

Der Titel dieses Blog-Beitrag besteht aus zwei Teilen:

„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“, dies ist der Anker-Satz aus dem 100 Jahre alten genialen Werk „Tractatus logico-philosophicus“ von Ludwig Wittgenstein, auf den Gabriel sehr zentral referenziert [4]. – Man siehe auch die Anmerkung [0]

„Viel Lärm um nichts“ ist einerseits ein umgangssprachliches Bonmot und andererseits der deutsche Titel eines der Shakespeare Werke [5]. In diesem Werk Shakespeare‘s erzeugen Irrtümer viel Lärm, und der Lärm verschwindet, sobald diese sich aufgelöst haben. 

Das SRF-Gespräch dreht sich um drei, von Gabriel identifizierte Irrtümer: Diese Irrtümer sind nach Gabriels Meinung die größten globalen und seit langer Zeit in unterschiedlichen Ausprägungen vorkommenden Irrtümer bzw. Irrtumsfelder der Menschheit. Die bisherige 2500-jährige Philosophie habe erheblich zu diesen Irrtümern beigetragen. Der Anspruch von Gabriel ist, dass er diese Irrtümer nicht nur als solche erkannt hat, sondern auch eine neue Philosophie zur Verfügung stellt, um die Auswirkungen dieser Irrtümer jetzt zu heilen.

Diese Irrtümer sind gemäß [1]:

  1. Die gesamte Wirklichkeit ist physikalisch erfassbar und messbar. Es gibt nichts, was nicht physikalisch messbar ist. (Physikalismus)
  2. Unsere Gedanken, unser Geist sind emergente Phänomene unseres Gehirns. (Neurozentrismus, ergibt sich aus dem Materialismus)
  3. Es gibt keine objektiv feststehenden Wertmaßstäbe. (moralischer Nihilismus)

In seinem Buch [2] tauchen mindestens noch folgende Irrtümer auf:

  1. Alles Existierende ist materiell (Materialismus). Vereinfacht ausgedrückt: es gibt die Welt, und sie ist nur materiell. Damit direkt verbunden ist der Irrtum: das Universum ist das Ganze.
  2. „Die populäre Behauptung, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien löse möglicherweise einen Tornado in Texas aus, ist schlicht falsch. – Vieles hängt mit vielem zusammen, aber es ist falsch (genau genommen sogar unmöglich!) dass alles mit allem zusammenhängt.“
  3. „Der Konstruktivismus basiert auf der Annahme, dass es überhaupt keine Fakten, keine Tatsachen an sich gibt, dass wir vielmehr alle Tatsachen nur durch unsere vielfältigen Diskurse und wissenschaftlichen Methoden konstruieren.“ Vereinfacht ausgedrückt: es gibt die Welt (vielleicht), aber wir können sie nicht erkennen und jeder konstruiert sich seine Welt.

Dem setzt Gabriel folgende Konzepte als Lösungen entgegen:

  1. Neuer Realismus: „Der Neue Realismus geht vielmehr davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie an sich ist.“ „Der Neue Realismus nimmt also an, dass Gedanken über Tatsachen mit demselben Recht existieren wie die Tatsachen, über die wir nachdenken.“
  2. Neues Weltbild: „Wir können niemals das Ganze erfassen. Es ist prinzipiell zu groß für jeden Gedanken.“ „Es gibt also viele kleine Welten, aber nicht die eine Welt, zu der sie alle gehören.“
  3. Die Welt gibt es nicht: „Die Welt ist weder die Gesamtheit aller Gegenstände oder Dinge noch die Gesamtheit der Tatsachen. Sie ist der Bereich aller Bereiche.“ „Die Welt ist das Sinnfeld [der Bereich] aller Sinnfelder [Bereiche], das Sinnfeld, in dem alle anderen Sinnfelder erscheinen.“ Die Welt existiert nicht, „weil, es kein Sinnfeld gibt, in dem [sie] erscheinen kann.“
  4. Neo-Existentialismus: „Existenz = Erscheinung in einem Sinnfeld.“ „Der Sinn ist dann die Art, wie ein Gegenstand erscheint.“

Die Auswirkungen der Irrtümer, also der vermeintlichen Wahrheitsströmungen, spüre ich oft sehr schnell, wenn ich mit Pädagogen, Soziologen oder Psychologen spreche, die in den 70-80er Jahren studiert haben. Falls sie erfahren, dass ich Physiker bin, wird mir oft sehr schnell unterstellt, dass ich alles mit Physik erklären wolle (Physikalismus) und lediglich beobachtbare materielle Dinge als wesentlich ansähe (Materialismus). Die Ausführungen werden flankiert von der unumstößlichen Wahrheit, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt, bzw. geben kann und daher jede individuelle Perspektive gleich wahr sei (Konstruktivismus). In Konsequenz heißt dies, dass diese Perspektiven alle gleichberechtigt nebeneinander stehen bleiben müssten. – Daraus wird abgeleitet, dass nur so auch Wertschätzung gezeigt werden könne.

Mit diesem Verhalten verbunden ist auch oft die Sicht, es gäbe die Welt der Physiker, die sich mit dem Universum, den materiellen Dingen, beschäftigen und auf der ganz anderen Seite gäbe es die Welt der Soziologen, Psychologen, Pädagogen, die sich mit der Welt des Sozialen und Psychischen befassen. – Zwei Welten, völlig unvereinbar, so heißt es! U.a. führt dies dazu, dass die Selbstorganisationsprinzipien, die man in der Natur erkannt hat, so wird gesagt, keinesfalls auf das Soziale oder Psychische anwenden kann. Damit ist für meine Kollegen, die sich dieser Sicht anschließen der mentale Zugang zur Synergetik und deren Anwendung z.B. im Management 4.0 automatisch versperrt.    

Solche vermeintlichen Wahrheits-Strömungen wie den Materialismus oder den radikalen Konstruktivismus, an denen ja tatsächlich ein Funke oder vielleicht auch mehrere Funken Wahrheit anhaften, gibt es in der Menschheitsgeschichte sehr viele. – Kein Lebensbereich oder Wissenschaftsbereich ist frei von solchen temporären Wahrheits-Strömungen oder Irrtümern. – Lediglich kommt der eine Lebens- bzw. Wissenschaftsbereich besser damit zurecht als der andere. – Die Naturwissenschaften schaffen es meistens recht gut in Zeiträumen von ein bis zwei Jahrzehnten ihre Irrtümer aufzudecken; bei der Philosophie sprechen wir wahrscheinlich eher von Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden. Das hängt damit zusammen, dass die Philosophie im strengen Sinne nicht falsifizierbar ist und eigentlich (leider) immer erst durch die falsifizierbaren Wissenschaften, und dazu gehört nicht nur die Physik, revidiert bzw. erneuert wird. Deswegen spürt man in den Ausführungen von Gabriel so etwas wie ein Minderwertigkeitsgefühl (insbesondere im youtube Video), wenn er nämlich sagt, dass man der Philosophie (endlich wieder) den Platz geben soll, der ihr zusteht. Hierzu müsse die Philosophie einen Quantensprung machen, d.h. u.a. sie muss andere Wissenschaften integrieren, um eine integrierte Ontologie (Was es gibt – Was es nicht gibt) zur Verfügung zu stellen.

Wie ich oben schon ausführte, erfahre ich diese Irrtümer immer wieder in Diskussionen, und ich vermute auch, dass diese Irrtümer immer noch virulent in der Gesellschaft sind, und damit unser Handeln bzw. unsere Erkenntnisfähigkeit massiv behindern. – Das Unterfangen von Gabriel, diese Irrtümer als Irrtümer aufzudecken, ist sehr löblich!

Meines Erachtens unterliegt auch Gabriel den von ihm identifizierten Irrtümern.

Ich frage, ist es heute noch notwendig zwischen Universum und Welt in dieser Form zu unterscheiden? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Wissenschaftler von Weltrang gibt, die nicht wissen bzw. nicht glauben, dass es mehr gibt als das, was wir als Materie identifizieren. – Wir wissen ja noch nicht einmal was Materie ist. – Wer sich etwas mit der Physik der letzten 100 Jahre beschäftigt hat, wird dies überall spüren. – Deshalb sollte es kaum Physiker von Weltrang geben, die wirklich an den Physikalismus oder Materialismus glauben. – Dass diese Glaubenssysteme nach wie vor in der Gesellschaft existieren, ist unbestreitbar, es sind aber Glaubenssysteme, die weniger von den Naturwissenschaften (heute) getragen werden, als von den Glaubenssystemen der Nicht-Naturwissenschaftlern über die Naturwissenschaft.- Glaubenssysteme entstehen durch unzulässige Vereinfachungen gepaart mit Nicht-kennen. Entsprechend ist der Irrtum „Neurozentrismus“ auch ein Irrtum, der so in den Neurowissenschaften meines Erachtens keine Basis hat.- Es wäre interessant, diese meine Aussage durch eine entsprechende Befragung unter allen Wissenschaftlern zu falsifizieren.

In verschiedenen Blogbeiträgen habe ich das Thema Emergenz angesprochen. Die zentrale Erkenntnis hierzu ist, dass wir nicht wissen, was Emergenz ist. Derzeit steht Emergenz einfach dafür, dass Systeme plötzlich unerwartete System-Eigenschaften zeigen, die wir uns nicht erklären können. – Wenn wir also nicht wissen, was Emergenz ist, wie kann Gabriel sinnvoll behaupten, dass Gedanken keine emergenten Phänomene unseres Gehirns sind. – Wir wissen einfach nicht, was unsere Gedanken sind. – Auch so ambitionierte Ideen wie die von Tononi und Koch haben meines Erachtens interessante Ansätze zum Thema Bewusstsein hervorgebracht, sind aber immer noch sehr weit von einem ersten wirklichen Verständnis entfernt [6]. – Gleichwohl müsste eine moderne Philosophie sich mit dieser Begriffswelt auseinandersetzen.

Beim Lesen oder Hören der Philosophie Gabriel’s mache ich sehr oft folgende Beobachtung: Es werden immer wieder Aussagen in den Raum gestellt, die an wesentlichen Stellen die Integration mit den anderen Wissenschaften oder Lebensbereichen vermissen lassen. Also, …wenn „Emergenz“ als ein Kriterium angeführt wird, dann ist es notwendig, dieses Kriterium sauber zu definieren. Falls man dieses nicht kann, sollte man dies sagen und im ungünstigsten Fall nicht als Kriterium verwenden. Dass es eventuell Personen gibt, die glauben, dass unsere Gedanken in unserem Gehirn verortet sind, kann doch nicht dazu führen, dass man dies den Neurowissenschaftlern anlastet. Wenn überhaupt, müsste man dieses zum Beispiel den Glaubenssystemen der Philosophie anlasten. – Und damit sind wir bei dem meines Erachtens richtigen Wunsch von Gabriel, dass die Philosophie eine integrative Rolle unter den Wissenschaften einnimmt. – Dies erfordert aber auch, dass die Philosophen mit gutem Beispiel voran gehen und versuchen das Nicht-Kennen zu minimieren.

In [1] behauptet Gabriel, dass es sehr wohl objektiv feststehende Wertmaßstäbe (eine Moral) gäbe. Im SRF-Gespräch konnte ich leider keine Begründung hierfür erkennen. Ich habe lediglich wahrgenommen, dass sich Behauptung an Behauptung reihte. Auch ich bin der Meinung, dass es aus heutiger Sicht, also mit unserem heutigen Bewusstsein betrachtet, sehr wohl diese „objektiv feststehenden Wertmaßstäbe“ gibt. Ich begründe diese Aussage mit der Konsistenztheorie der menschlichen Grundbedürfnisse und den Aussagen des Kultur- und Bewusstseinsmodells Spiral Dynamics [1]. Diese meine Schlussfolgerung mag nicht korrekt sein, etwas ähnlich Überprüfbares vermisse ich jedoch bei Gabriel.  

Ich möchte meinen Wunsch „Philosophen gehen mit gutem Beispiel voran“ noch an folgendem Irrtum eines Irrtums aus [2] erläutern: „Die populäre Behauptung, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien löse möglicherweise einen Tornado in Texas aus, ist schlicht falsch. – Vieles hängt mit vielem zusammen, aber es ist falsch (genau genommen sogar unmöglich!), dass alles mit allem zusammenhängt.“

Ich benutze diese populäre Aussage zum Schmetterlingseffekt sehr oft, um zu verdeutlichen was Komplexität bzw. Chaos ist, nämlich u.a., dass kleinste Veränderungen in einem komplexen System enorme Auswirkungen haben können. Ich weise daraufhin, dass die Aussage vom Flügelschlag eine Metapher mit Wahrheitsgehalt ist, nämlich in dem Sinne, dass die Wahrscheinlichkeit nicht null ist (wenn auch sehr sehr klein), dass ein Flügelschlag die Luftmoleküle in Brasilien bewegt und, dass falls die Atmosphäre zwischen Brasilien und Texas in einem „geeigneten“ Zustand ist, dann einen Tornado in Texas hervorruft. Dieser Metapher also das Prädikat „falsch“ zu geben, ist schlicht einfach nur „reißerisch“. Die nächste Aussage, dass nicht alles mit allem zusammenhängt ist jedoch fundamental, meines Erachtens so fundamental, dass sie zu den langjährigen Erkenntnissen der Komplexitätsforschung gehört: Selbstorganisation und Leben kann nur in mehr oder weniger abgeschlossenen Systemen entstehen. Diese Systeme sind mit ihrem Umfeld verbunden, jedoch nicht mit allen Elementen des Umfeldes. Man stelle sich vor, unser Leben würde unmittelbar von den Ereignissen eines 100 Lichtjahren entfernten Sterns abhängen, also Licht würde uns z.B. unmittelbar beeinflussen, ganz zu schweigen vom Licht der vielen anderen Sterne. – Man könnte vielleicht auf die Idee kommen, dass die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit genau hierin begründet liegt, nämlich dafür zu sorgen, dass nicht alles mit allem zusammenhängt. Oder, … ich stellte mir vor, mein Leben würde davon abhängen, welches Frühstück ein bestimmter Chinese (oder alle Chinesen) an einem bestimmten Tag (oder an allen Tagen) einnimmt… Deshalb spielen die sogenannten Rahmenparameter in der Selbstorganisation auch so eine große Rolle: Ein System, das mit allen anderen Systemen verbunden ist, wird maximal antiagil, es kann also keine Information und keine Energie mehr aufnehmen, es verhält sich so gesehen, wie ein System, das keinerlei Verbindungen hat. – Damit wäre Leben nicht mehr möglich. – In [7] zeige ich, wie die Veränderung der Qualität und Quantität der Verbindungen Selbstorganisation ermöglicht oder verhindert. Ich merke auch an, dass die Komplexität unseres Gehirns ganz wesentlich auf dieser „Modularisierung“ beruht und moderne Theorien zum Bewusstsein hiervon explizit Gebrauch machen [6].

An einem weiteren Beispiel möchte ich meine fundamentale Kritik zur Philosophie Gabriel‘s erläutern: Falls die Philosophie den Anspruch erhebt Wissenschaften (und ggf. Erkenntnisse anderer Lebensbereiche) zu integrieren, um eine zeitgemäße, in die Zukunft gerichtete Ontologie bereitzustellen, muss sie die verschiedenen wissenschaftsspezifischen Ontologien kennen, verstehen und gemeinsame Muster ableiten, um auf einer abstrakteren Ebene zu neuen ontologischen Erkenntnissen zu kommen.

Im Buch geht Gabriel auch auf das Thema „Gibt es einen Supergegenstand, eine Substanz, aus der alles andere abgeleitet wird, oder gibt es vielleicht mehrere?“ ein. Diese Fragestellung wird seit Jahrhunderten unter den Begriffen Monismus (eine Substanz, z.B. die Materie), Dualismus (zwei Substanzen, z.B. vielleicht Geist und Materie/Natur) oder Pluralismus in der Philosophie diskutiert. Gabriel gibt an, dass er eher ein Vertreter des Pluralismus ist. Warum und wieso er zu dieser Aussage kommt, kann ich nicht nachvollziehen. Als Beispiel für den Pluralismus zitiert er die Monadentheorie von Leibniz; die Monaden sind Beispiele für den Pluralismus der Substanzen. Bei allem Respekt für unsere großen Denker, und hier insbesondere den genialen Leibniz, wäre es heute nicht eher angebracht sich Gedanken zu machen, was die verschiedenen Disziplinen zum Thema Substanz sagen, und hier insbesondere was ist Materie, Energie und Information, was unterscheidet lebende Materie von „nicht-lebender“ Materie und was unterscheidet Leben von bewusstem Leben, was ist Bewusstsein und gibt es überhaupt Unterschiede und wenn ja wo könnten diese Unterschiede liegen? Ich glaube, dass sich die Philosophie Gabriel’s diesen Fragen nicht wissenschaftsintegrativ stellt, wohlgemerkt integrativ bezogen auf die Wissenschaften des 21. Jahrhunderts. – Denn ich kann an keiner Stelle erkennen, dass er in seiner Philosophie auch nur ansatzweise auf die Ontologien der anderen Wissenschaftsbereiche zu sprechen kommt. Wie Gabriel selbst sagt, hat seine Philosophie damit ihre Daseinsberechtigung verwirkt.

Damit komme ich zum zentralen Aspekt der Philosophie Gabriels, dem oder den Sinnfeldern und dem Neo-Existentialismus.

„Sinnfelder, sind Bereiche, in denen etwas, bestimmte Gegenstände, auf eine bestimmte Art erscheinen.“ „Der Sinn ist dann die Art, wie ein Gegenstand erscheint.“

Ich nähere mich dem Thema Sinn bzw. Sinnfeld über das Verständnis im Management 4.0: In der Umgangssprache sprechen wir von: das gibt uns Sinn, das erscheint uns sinnvoll; Sinn, ist das, an dem wir uns selbst ausrichten; das gibt unserem Leben Sinn. Im Management 4.0 haben wir Sinn als Ordnungsparameter der sozialen Selbstorganisation identifiziert. Sinn ist etwas zutiefst Menschliches, d.h. Sinn gibt es nur mit/in psychischen oder sozialen Systemen. Erscheint ein Gegenstand mit/im Sinn, dann bildet der Gegenstand und das Individuum ein Sinnfeld, wir sprechen auch von einem emergenten Makrozustand. – Hier dürfte nach meinem bisherigen Kenntnisstand ein wesentlicher Unterschied zum Sinnfeldkonzept nach Gabriel liegen: Das Sinnfeld kreiert sich nach meinem Verständnis selbstorganisiert und damit selbstkonsistent in einem System, hierbei kann das System auch aus einem oder mehreren Dingen/Tatsachen/Gedanken/Fiktionen und einem Menschen bestehen. Wir (und Gabriel) sprechen hier sogar in Analogie zur Physik von einem Feld, das sich in einem System ausbildet (bitte nicht an Physikalismus denken!). In einem Team bildet sich das Sinnfeld im System Team aus, indem das Team einen gemeinsamen Ordnungsparameter ausbildet, den Sinn. Die Organisation, in der sich das Team befindet, bildet wiederum ein weiteres anderes Sinnfeld aus. Hieran kann man erkennen, dass es sehr viele ineinander verschachtelte und parallele Sinnfelder gibt. Damit Menschen Sinn ausbilden und erfassen können, müssen sie den Gegenstand oder Gegenstandsbereich erfassen können. Falls sie diese nicht erfassen können, bildet sich auch kein Sinnfeld aus. Wenn ich jetzt noch hingehe und das unfassbare Große mit der Welt identifiziere und versuche dieser ein Sinnfeld zuzuordnen, kann man sehr schnell nachvollziehen, dass dies nicht gelingt, nicht gelingen kann.- Unsere mentalen Kapazitäten sind dafür einfach nicht ausgelegt, also gibt es die Welt nicht. Oder anders ausgedrückt, sobald ich das Sinnfeld aller Sinnfelder dem Begriff „Die Welt“ zuordne, kommt man automatisch zur Aussage, dass es Die Welt nicht gibt. Das hat schon was „reißerisches“, oder?    

Der Neo-Existentialismus, sagt aus, dass die Menschen ein Leben im Licht ihrer Vorstellung von sich selbst und der Welt führen. Oder Schein ist Sein! Im Coaching und in der Therapie ist dies eine bekannte Erkenntnis, die man sich dort explizit zu Nutzen macht, um Sein zu „produzieren“: Erst dann, wenn der Coachee eine Vision/Fiktion, aber auch das Team, oder die Organisation eine gemeinsame Vision/Fiktion entwickelt haben, entwickelt sich das Sein, also die konkreten Handlungen. Wir sprechen im Management 4.0 davon, dass sich ein mentaler Ordnungsparameter ausgebildet hat, der zu einer realen Ordnung führt. Um den mentalen Ordnungsparameter hervorzurufen, verwenden wir die Ziel-Hierarchie, die sozusagen als Fiktion des (zukünftigen) Seins dem Sein, also dem Team, der Organisation eine Ausrichtung gibt. – Also, Management 4.0 ohne Sinnfelder macht keinen Sinn!

Der Begriff des Sinnfeldes und seiner Grenzen, kann man direkt mit einem sozialen Selbstorganisationskreis (SO-Kreis oder SO-circle) assoziieren. Da es unendlich viele SO-Kreise gibt, gibt es unendlich viele Sinnfelder und vice versa.

Existenz ist der Umstand, dass etwas in einem Sinnfeld erscheint. Falls wir die Gleichung „Existenz = Erscheinung/Vorkommen in einem Sinnfeld“ so verstehen, dass sie eine Selbstkonsistenzbedingung beschreibt, die sich über Selbstorganisation einstellt, so ist dies auch das Management 4.0 Verständnis.

Für mich ist das Sinnfeld keine fundamental neue Erkenntnis, sie begleitet mich und die meisten meiner Kollegen schon fast ein ganzes Berufsleben. Denn ohne Sinnfeld ist Coaching, Beratung und Führung einfach nicht möglich!  Was im Management 4.0  jedoch neu ist, das ist die Verbindung zur Komplexitätstheorie und zur Theorie der Selbstorganisation. – Und damit wird meines Erachtens eine ontologische Brücke zwischen völlig unterschiedlichen Sinnfeldern, nämlich der Komplexitäts- und Selbstorganisationsforschung und dem Management, geschlagen.

Ich komme zum Schluss:

Ich tue mich schwer zu glauben, dass es unter post-modernen Menschen mit entsprechenden transformationalen Werte-Memen (man siehe die vorherigen Blog-Beiträge zu value-Memen und Spiral Dynamics) Vertreter des hier beschriebenen Physikalismus, Konstruktivismus, Materialismus, Naturalismus oder Neurozentrismus gibt. – Denn dies entspricht einem Denken in Denkschulen und entspricht nicht einer vernetzten-systemisch-holistisch-transzendentalen Bewusstseinsstufe. – Und die Philosophie des 21. Jahrhunderts sollte diese Bewusstseinsstufe unterstützen und jegliches Denken in Denkschulen überwinden.  

Der Neue Realismus ergibt sich hieraus unmittelbar. – Es gibt keinerlei Indizien in der modernen Wissenschaft und in unseren täglichen Erfahrungen, die den radikalen! Konstruktivismus unterstützen.

Meines Erachtens wird Gabriel seinem eigenen Anspruch, nämlich eine integrative Ontologie vorzulegen nicht gerecht. – Hierzu ist eine viel bessere Auseinandersetzung mit den anderen Wissenschaften/Sinnfeldern und deren Ontologien nötig.

Das Konzept des Sinnfeldes macht Sinn, ist jedoch meines Erachtens in anderen (wissenschaftlichen) Sinnfeldern längst etabliert. Auch hier wäre es wichtig, diese Bereiche (Sinnfelder) in das philosophische Verständnis (Sinnfeld) zu integrieren und etwas wirklich ganzheitlich Neues zu kreieren.

„Warum es die Welt nicht gibt“ mutet eher reißerisch an. Das Sinnfeldkonzept schimmert meines Erachtens schon aus dem Konzept von Wittgenstein „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ hervor. – Falls man den Menschen (etwas) expliziter in das Konzept von Wittgenstein einführt und z.B. stattdessen formuliert „Unsere Welten sind alles, was Sinn macht.“ ist der Schimmer klar zu erkennen.

 

[0] Der „Tractatus logico-philosophicus“ ist übrigens als Satz-Hierarchie formuliert, einer speziellen Form einer Ziel-Hierarchie, also eines Ordnungsparameters, der ein Sinnfeld erzeugt bzw. erzeugen will.

 

[1] Gabriel M (2020) Für einen neuen Existenzialismus, «Falsch: Alle Philosophien der letzten 2500 Jahre!» | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur – YouTube, Markus Gabriel im Gespräch mit Wolfram Eilenberger

[2] Gabriel M (2013) Warum Es Die Welt Nicht Gibt, 3. Auflage, Ullstein Buchverlag, Berlin

[3] Wikipedia (2021) Existentialismus,  https://de.wikipedia.org/wiki/Existentialismus, aufgerufen am 02.01.2021

[4] Wittgenstein L (1963) Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung, edition suhrkamp

[5] Shakespeare W (2012) Viel Lärm um nichts, Zweisprachige Ausgabe, Deutsch von Frank Günther, 5. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München

[6] Tononi G (2020) Consciousness and the brain, https://www.youtube.com/results?search_query=integrierte+informationstheorie+tononi, zugegriffen am 07.01.2021

[7] Oswald A, Köhler J, Schmitt R. (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer, Heidelberg

„Querdenker quergedacht“ oder von der Macht der Selbstorganisation

Das Phänomen der Querdenker, Verschwörungsideologen und Corona-Leugner wird vieler Orts diskutiert. Lesch [1], Scobel [2], Rezo [3] und Sahra Bosetti [4] sind einige der prominentesten Stimmen. – Die Stimmen dieser vier Menschen mögen für Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen stehen, die man hier vielleicht mit den Begriffen Naturwissenschaft, Philosophie, intellektueller Pop-Journalismus und Satire assoziieren kann. – Also für Mem-Bereiche, die man nicht mit Querdenkern, Verschwörungsideologen oder Corona-Leugnern verbindet (zur Bedeutung von Memen verweise ich auf meine anderen Blog-Beitrag, u.a. [5, 6]). Ich habe diese Stimmen ausgewählt, weil der Überlapp mit deren Werten, Glaubenssätze und Grundannahmen, also mein Mem-Mapping mit ihnen, wahrscheinlich recht hoch sein dürfte.

Ich schließe mich diesen vier Stimmen an und bringe mit diesem Blog-Beitrag eine zusätzliche Perspektive ein, die ich „Querdenker quergedacht“ genannt habe.

Querdenken war bis vor Corona ein überaus positiver Begriff: Querdenker waren jene, die mit Hilfe einer queren Sicht auf ein Problem oder eine Situation völlig neue Erkenntnisse brachten, wohlgemerkt nachprüfbare Erkenntnisse. Sie haben Innovationen angestoßen oder Transformationen eingeleitet.  – Die neuen Querdenker, Verschwörungsideologen und Corona-Leugner werden jetzt eventuell sagen: „Genau, das tun wir auch“.

Der wahrscheinlich prominenteste Vertreter dieser neuen Querdenker-Richtung ist der noch amtierende amerikanische Präsident Donald Trump. Es ist ihm gelungen mit seiner Denkrichtung ca. 70 Millionen Menschen anzusprechen. – Eine wirklich beachtliche Leistung!

Barak Obama hat seinerseits ähnlich viele Menschen angesprochen; jedoch lediglich, ähnlich viele, (leider) nicht viel mehr! Obama spricht man Charisma zu. Warum eigentlich nicht auch Trump? Falls man die Wählerstimmen zugrunde legt, müsste man es! Offensichtlich kommt hier eine Wertung rein, es gibt offensichtlich eine gute Resonanz und eine schlechte Resonanz. Obama erzeugt eine gute Resonanz, Trump erzeugt eine schlechte Resonanz. Und der guten Resonanz spricht man Charisma zu. Dies klingt sehr nach guter Selbstorganisation und schlechter Selbstorganisation. Resonanz entsteht, meines Erachtens in diesem Kontext, wenn eine Person für eine Sache brennt, über ein sehr gutes Kommunikationstalent verfügt und vor allem ihre Meme zu den Memen einer sich bildenden Anhängerschaft passen, also: Diese Resonanz = persönliche Motivation*Kommunikationstalent*Mem-Mapping.

Kommunikationstalent hat sehr viel mit einer gezielten sprachlichen Vereinfachung und einer suggestiven bis hypnotischen Wirkung zu tun. Trump spricht man diese Vereinfachung gerne zu, diese gipfelt vor allem in dem Statement „Make America Great Again“. Auch Obama hat eine Vereinfachung von ähnlicher Sogkraft kreiert „Yes we can!“ In [7] haben wir dargelegt, dass diese sprachlichen Statements bewusst als ausrichtende, die potenzielle Anhängerschaft einende Kraft wirken. Falls zusätzliche suggestive Aussagen ein Mem-Mapping erzeugen, wachsen die sprachlichen Statements zu Ordnungsparametern heran. Trump geht hierbei, bewusst oder unbewusst – was letztendlich nicht relevant ist – sehr wirkungsvoll vor. Viele, auch ich, sehen Trump’s Wirkung negativ, Obama’s Wirkung sehen viele andere positiv, manche sprechen von Charisma.

Obama spricht gerade in seinen großen Reden stark das Unterbewusste an. Das dürften insbesondere diejenigen am wenigsten merken, die ein höheres Mem-Mapping mit ihm haben. Analysiert man seine Reden, wird man eine Sprachausrichtung feststellen, die der Sprache des genialen Meister der Hypnotherapie, Milton Erickson, sehr nahekommt. Trump wie Obama wirken auf ihre jeweilige Anhängerschaft charismatisch, in dem Sinne, dass beide in der Lage sind, nahezu gleich stark Resonanz zu erzeugen.

In der deutschen Geschichte haben wir leider mindestens ein sehr schreckliches Beispiel für Resonanz erfahren. Hitler war ein Meister der Resonanz seiner Zeit. Resonanz liegt nie generell vor, sondern ist immer in einen zeitlichen und räumlichen Kontext eingebunden. Hitler wäre ohne die damaligen vielen Deutschen, die mit ihm und seinen Gefolgsleuten in Resonanz getreten sind, nie so dämonisch stark geworden. Resonanz führt meistens zu einer speziellen Ausprägung von Selbstorganisation, der Synchronisation. – Die Nazis haben dafür sogar einen speziellen Begriff geprägt: die Gleichschaltung! Auch heute versuchen die Nazis und die vermeintlich legitime Variante, die AfD, mit ähnlichen Mitteln zu arbeiten.  

Resonanz ist eine Vorbedingung für Selbstorganisation, sie sorgt nämlich dafür, dass sich die Elemente eines Systems ausrichten. Dadurch gewinnt das System seine enorme Leistungsfähigkeit. Auch hier wieder: Selbstorganisation ist per se nicht gut oder böse, sondern Bedarf im sozialen und technischen Umfeld einer entsprechenden Ethik!

Beispiele für Ordnungsparameter habe ich in meinen Blog-Beiträgen sehr viele gegeben. Ich möchte hier ein weiteres Beispiel skizzieren, das die Nähe zum Thema Glaubenssysteme verdeutlicht. Als ich vor ein paar Jahren den Berg der Kreuze in Litauen besuchte [8], war ich völlig überwältigt. Die Bilder, die man macht und diejenigen, die man im Internet findet, können die enorme Dimension der Kreuze von Hunderttausenden oder gar Millionen nur ungenügend einfangen. Um die ersten Kreuzaufstellungen vor mehreren Hundert Jahren ranken sich wundersame Geschichten; heute ist es ein vom Papst persönlich gesegneter Wallfahrtsort. Die ordnende anziehende Dimension des Berges der Kreuze wird nochmals unterstrichen, wenn man die öffentlich zugängliche Kapelle des ca. 2 km entfernten, später erbauten Franziskanerklosters besucht. Das Hauptfenster der Kapelle ist wie ein Beobachtungsokular auf den Hügel der Kreuze ausgerichtet. Damit wird die ausgerichtete Kontemplation der Betenden auch durch die Raumgestaltung unterstrichen. Die Kraft dieser mentalen Ordnung wird heute sicherlich weitgehend durch eine entsprechende Ethik abgesichert, dies dürfte in der langen Geschichte der römischen Kirche jedoch nicht immer der Fall gewesen sein. – Jedoch lässt sich zweifelsohne die Langlebigkeit dieser Ordnung auch mit der prinzipiell zugrundeliegenden Ethik erklären.

Abbildung 1: Berg der Kreuze in Litauen [8]

Das nahezu täglich vom Fernsehen oder von der Presse beobachte Handeln der Querdenker, Verschwörungsideologen und Corona-Leugner lässt sich meines Erachtens gut verstehen, wenn man die bisher geschilderten Mechanismen der Selbstorganisation anwendet. Ich mache hierzu die Annahme, dass die entsprechenden Personen sehr stark ausgeprägte Mem-Strukturen haben, die durch purpur, rot und blau gekennzeichnet sind, eine eher wissenschaftliche Orientierung (orange) oder ein vernetztes Denken (gelb) fehlen nahezu völlig. Das Selbstwert- und Selbstschutz- Bedürfnis (rot) gepaart mit dem ausgeprägten Kontroll- und Orientierungs-Bedürfnis (blau) spielen eine sehr große Rolle. Treten Rahmenbedingungen ein, die die Befriedigung dieser beiden Bedürfnisse stark gefährden, so tritt das purpurne Mem, das Magische, zusätzlich in den Vordergrund. Es bildet sich eine Intuition aus, die leider durch keine rationale Basis in ihre Schranken verwiesen wird. Solche Rahmenbedingungen können Klimakatastrophe, Corona, Flüchtlinge oder ähnliche Bedrohungen sein. Kommen zusätzlich finanzielle existentielle Sorgen hinzu, so verstärkt dies den Rückgriff auf magische Mechanismen. Die Abneigung vor den „Oberen“, oder „Mächtigen“ gepaart mit Ängsten hervorgerufenen durch alte und scheinbar bewährte Erklärungen (u.a. Fremde, Juden) führen zu einfachen oder auch komplizierten Erklärungsmustern. – Die komplexen Erklärungen können sich auf Grund der Mem-Struktur nicht erschließen.

Sehr oft scheinen Mechanismen der Vereinfachung bei einigen wenigen zu beginnen: Mythische Erklärungsmuster vermitteln Halt und Sicherheit. Ist der Druck groß genug, also sind die passenden Rahmenparameter gegeben und wird das Feuer durch einige wenige weiter geschürt, also wirkt ein entsprechender Kontrollparameter, dann verbreiten sich einfache oder komplizierte Erklärungsmuster viral. Kommen dann auch noch emotional mitreißende Aussagen hinzu, die dem Allen einen (scheinbaren) Sinn geben, bildet sich ein Ordnungsparameter aus. Beispiele für (scheinbar) sinnstiftende Aussagen, sind das „Make America Great Again“ Statement oder der Verweis auf den notwendigen Freiheits-Kampf in Corona-Zeiten. All dies erzeugt Resonanz, die in sozialer Selbstorganisation mündet. Hierbei verstärken sich soziale Selbstorganisation und die individuelle mentale Selbstorganisation der einzelnen Querdenker, Verschwörungsideologen und Corona-Leugner gegenseitig. – Es kommt zu einer Stabilisierung im sozialen System und im individuellen psychischen System. Irgendwann sind die Menschen und das damit verbundene soziale System nicht mehr in der Lage „Fremd-Information“ aufzunehmen oder gar zu verarbeiten. – Die Fähigkeit neue emergente mentale Strukturen auszubilden kommt zum Erliegen. Oder anders ausgedrückt: Die Selbstorganisation hat sich in stabilen Strukturen festgesetzt; Offenheit für andersartige Informationen als die das System stabilisierenden Informationen sind zum Erliegen gekommen.

Dies hat gravierende Auswirkungen: Dieser Blog-Beitrag, aber auch die Beiträge von Lesch, Scobel, Rezo und Sahra Bosetti, werden wahrscheinlich nie einen Querdenker, Verschwörungsideologen und Corona-Leugner erreichen, geschweige denn zum Querdenken ihres Querdenkens bewegen. Die einzige Chance, die ich sehe, ist die Basis auszutrocknen: D.h. den Menschen, die „nur“ Mitlaufen, Sicherheit zurückzugeben, also ihr Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle und ihr Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz zu befriedigen und denjenigen, die diese Menschen für ihre Zwecke ausnutzen, möglichst effektiv und effizient die Resonanzmöglichkeiten zu entziehen. Dies heißt, es ist notwendig, diese Form von Selbstorganisation durch eine entsprechend konsequente Governance zu unterbinden.             

[1] Lesch H (2020) Fake oder Fakt: Wie die Wahrheit unter die Räder kommt, ZDF, https://www.zdf.de/wissen/leschs-kosmos/fake-oder-fakt-wie-die-wahrheit-unter-die-raeder-kommt-100.html, zugegriffen am 10.12.2020

[2] Scobel G (2020) Corona-Demo: mit 6 Thesen philosophisch zerstört, https://www.youtube.com/watch?v=vYQV_NdWOro, zugegriffen am 10.12.2020

[3] Rezo (2020) https://www.youtube.com/watch?v=eoxxh2qNZj4, zugegriffen am 10.12.2020

[4] Sahra Bosetti  (2020) https://www1.wdr.de/unterhaltung/kabarett-und-comedy/weiterlachen/video-sarah-bosetti—die-wahre-verschwoerung–weiterlachen-100.html, WDR, zugegriffen am 10.12.2020

[5] Oswald A (2020) Cultural Entropy: Corona deckt unsere Werte auf!, https://agilemanagement40.com/cultural-entropy-corona-deckt-unsere-werte-auf, zugegriffen am 10.12.2020

[6] Oswald A (2020) Gesellschaftlicher Wandel – Sein oder Nichtsein? – Das ist hier die Frage!, https://agilemanagement40.com/gesellschaftlicher-wandel-sein-oder-nichtsein-das-ist-hier-die-frage, zugegriffen am 10.12.2020

[7] Oswald A, Müller W (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3.0, BoD, Norderstedt

[8] Wikipedia (2020) Berg der Kreuze, https://de.wikipedia.org/wiki/Berg_der_Kreuze, zugegriffen am 10.12.2020

„System von Systemen“ oder von der Selbstorganisation des Marktes

Die GDL (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer) berichtet gerade von einem erfolgreichen neuen Tarifabschluss für die AVG-Lokführer: Bis zum 01.01.2021 erhalten diese eine gestaffelte Lohnerhöhung von 4,1% [1]. Für die Lokführer der DB wurde der Einstieg in neue Verhandlungen mit 4,8% Lohnforderung bekannt gegeben [2]. Als Hintergrundinformation verweise ich auch auf die bemerkenswerte Grundsatzrede von Claus Weselsky [3].

Wir haben in den vorherigen Blog-Beiträgen gesehen, dass es nicht einen Markt gibt, sondern viele bzw. sehr viele Märkte, die mehr oder weniger ihr selbstorganisiertes „Eigenleben“ führen. Auf diesen Märkten bilden sich Preise als Ordnungsparameter (OP) aus und die Knappheit, also die Differenz von Angebot und Nachfrage, wirkt als Kontrollparameter.- Je nachdem wie groß die Knappheit ist, bildet sich ein entsprechender Preis aus, der jedoch nicht statisch ist, sondern dynamisch. – Sobald sich eine der beiden Seiten, Nachfrage oder Angebot, ändert, ändert sich im Normalfall auch der Preis. 

An dem Beispiel der Lokführer Lohnerhöhung erläutere ich einige Aspekte der Selbstorganisation für Lohn- bzw. Preis-Märkte [4]. Auch hier gilt, wie für die vorherigen Blog-Beiträge auch, dass es nicht der Anspruch sein kann, professionell Ökonomie zu betreiben. Sondern es geht darum, mit der Perspektive der Selbstorganisation (SO) auf Märkte, zu erkennen, dass die Prinzipien der Selbstorganisation, die für die neue (postmoderne) Arbeitswelt sowie deren (Projekt) Management gültig sind, auch für die Ökonomie, Politik und Gesellschaft gelten.

Abbildung 1 zeigt den sogenannten Verbraucherpreisindex: Mit Referenz auf das Jahr 2015 (100%) sind die Verbraucherpreise eines standardisierten Warenkorbes auf 6.2 % bis zum QII 2020 gestiegen [5].

Abbildung 1: Verbraucherpreisindex [5]

Auf der Basis des Verbraucherpreisindex und des sogenannten Nominalpreisindex lässt sich der Reallohnindex ermitteln: Reallohnindex = Nominallohnindex/Verbraucherpreisindex. Der Reallohnindex ist ein Maß für die Kaufkraft, die mit der nominellen Lohnerhöhung verbunden ist. Gemäß dem Preiskaleidoskop gehen z.B. die Aufwendungen für die Mobilität (Verkehr) mit 12,9% in den Verbraucherpreisindex ein [6]. Der Nominallohnindex ist in der Zeit von 2015 bis QII 2020 um ca. 5% bis ca. 13 % gestiegen, je nach Lohnbereich [7].

Genau dies ist der Kontext, indem die GDL ihre Forderungen nach Lohnerhöhung stellt. Weselsky drückt das Ziel mit den Worten „Gleicher (fairer) Lohn für gleiche Arbeit aus.“ – Das ist einer der wichtigsten Glaubenssätze, oder besser gesagt Prinzipien, nach denen er offensichtlich handelt [3]. Hierbei sollte man wissen, dass das höchste Lokführergehalt leicht unterhalb des sogenannten mittleren Bruttolohns in Deutschland liegt (ca. 48 T€/Jahr in 2019) [8]. – Was schon sehr verwundert! – Zusätzlich wird angestrebt die Steigerung des nominellen Bruttogehaltes an die Steigerung des Verbraucherpreisindex anzupassen, damit der Lohn, der die Kaufkraft widerspiegelt, also der Reallohn, erhalten bleibt.      

Die sogenannten Ökonomieschulen der Neoklassiker und der Keynesianer haben unterschiedliche Erwartungshaltung an Lohnverhandlungen, ganz ähnlich wie die Arbeitgeber und Arbeitnehmer (Schulen sind Communities mit unterschiedlichen ökonomischen Glaubenssätzen):

  • Ein Neoklassiker bzw. Neoliberaler ist (wahrscheinlich) ein Befürworter möglichst geringer Nominallohnanpassung. Da Unternehmen ein marktwirtschaftliches Risiko tragen, müssen sie ihre Kosten, also auch die Nominallohnkosten, geringhalten. Außerdem sorgt der Markt auch im Nominallohnbereich automatisch für ein Gleichgewicht: Es wird automatisch das bezahlt, was der Markt über Selbstorganisation als Gleichgewichtslohn ermittelt. Deshalb ist Lohnzurückhaltung für die Tarifpartei „Gewerkschaft“ geboten.
  • Ein Keynesianer würde wahrscheinlich dagegenhalten, dass die Arbeit bzw. die Gewerkschaften keinen Einfluss auf den Reallohn, sondern nur auf den Nominallohn haben. Da Lohnempfänger einerseits angemessen am Produktivitätszuwachs des Unternehmens beteiligt werden sollten und auch einen fairen und für einen guten Lebensunterhalt notwendigen Lohn erhalten sollten, ist der Nominallohn anzupassen, spätestens dann, wenn der Reallohn sinkt.

Das Problem bei dieser Fragestellung ist, „Wer hat Recht“ und gibt es tatsächlich ein „Rechthaben“ in jedem Kontext. – Management 4.0 geht von der Grundannahme aus, dass es dies nicht geben kann, also Ökonomieschulen per se keinen Sinn machen, da sie mehr oder weniger „immer“ eine notwendige Glaubenssatzbetrachtung und damit verbunden eine Kontextbetrachtung nicht oder ungenügend durchführen.

Die Betrachtung wird zusätzlich dadurch erschwert, dass z.B. der Verbraucherpreisindex, als ein „kalkulierter“ Ordnungsparameter im Nachhinein (ex-post) vom Statistischen Bundesamt bestimmt wird. Eine Gewerkschaft streitet jedoch immer im Vorhinein (ex-ante) für einen Nominallohn. Und das Unternehmen muss eine evtl. vorhandene Nominalpreiserhöhung irgendwie so „verdauen“, dass es wettbewerbsfähig bleibt. Nominallohn, Preisindex und Reallohn stehen in einem permanenten zyklischen Rückkopplungsprozess.  

Abbildung 2 verdeutlicht den Zusammenhang zwischen ex-post Berechnungen und ex-ante Verhandlungen.

Abbildung 2: Ex-ante Verhandlungen und ex-post Berechnungen

Auf dieser Basis lässt sich der Ausschnitt eines Systems von selbstorganisierten Markt-Systemen skizzieren. Abbildung 3 zeigt die Gesellschaft in einer der üblichen Darstellungen für selbstorganisierte Systeme, nämlich als SO-Kreise. Hier nutzen wir schon die Tatsache aus, dass jedes System als selbstorganisiertes System betrachtet werden kann, lediglich die Anzahl an Freiheitsgraden und damit die Fähigkeit Emergenz zu zeigen, unterscheidet sich. 

Abbildung 3: System von Systemen als selbstorganisierte Kreise

Abbildung 3 zeigt im Wesentlichen zwei selbstorganisierte Kreise (Märkte): Den Verbrauchermarkt und den Arbeitsmarkt. Der Verbrauchermarkt enthält viele Sub-Märkte, d.h. verschiedene Angebot-Nachfrage-Märkte, die über Rückkopplungen, hier dargestellt als grüne Pfeile, Preise als Ordnungsparameter (OP) ausbilden. Ideale Märkte, die sich über einen optimalen Wettbewerb auszeichnen, sind nicht notwendig, damit sich OP’s ausbilden. Im SO-Kreis Arbeitsmarkt habe ich im Wesentlichen den Markt bestehend aus der GDL, die das Angebot „Arbeitskraft Lokführer“ vertritt und verschiedene Unternehmen, die als Nachfrager für die „Arbeitsleistung Lokführer“ auftreten, skizziert: Es bilden sich selbstorganisiert Löhne als Ordnungsparameter heraus. Die GDL vertritt in ca. 45 Unternehmen die Lokführer als Tarifpartner der Unternehmen. Hier liegt in keinem Fall ein idealer Wettbewerb vor. Claus Weselsky ist besonders stolz darauf, dass er feststellen kann: „Der Wettbewerb über die Lohnkosten existiert nicht.“. Diese Aussage spiegelt eine tiefe Überzeugung bezüglich des Wertes menschlicher Arbeit wider: Menschliche Arbeit und deren Entlohnung sollte den Menschen erlauben in Würde ein von existentiellen Sorgen befreites Leben zu führen. Aus diesem Grunde hat die GDL als Tarifpartner vieler Bahnunternehmen einen Weg gefunden, um den Unternehmenswettbewerb von dem Lohnwettbewerb weitgehend abzukoppeln. Im Management 4.0 entspricht dies dem Satz „Management 4.0 sorgt für eine an den Grundbedürfnissen der Menschen orientierte Selbstorganisation und Führung!“ – Es ist die postmoderne Aussage, dass Wettbewerb im Lohnmarkt kein Mittel ist, um Leben in Würde sicherzustellen.

Auf der Basis von Abbildung 3 lassen sich die Aussagen der Ökonomieschulen wie folgt formulieren:

  • Neo-Klassik: Mit dem OP des Arbeitsmarktes wird der OP des Verbrauchermarktes beeinflusst. Dies treibt eine Preisspirale an, außerdem müssen die Lohnerhöhungen vom Unternehmen verkraftet werden. Also ist Lohnzurückhaltung geboten.
  • Keysianer: Mit dem OP des Arbeitsmarktes wird der OP des Verbrauchermarktes, wahrscheinlich nicht beeinflusst. Es kommt also nicht zwingend zu einer Preisspirale, außerdem sind die Arbeitskräfte am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen. Lohnzurückhaltung ist also nicht geboten.

Die Aussage, dass Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren, verliert automatisch an Relevanz, wenn allgemein Lohn aus einem (oft machtverzerrten) Wettbewerb genommen wird. – Eine Unternehmensleistung, die lediglich über Niedriglohn bestehen kann, macht keinen Sinn für die Menschen, die davon leben sollen. Unter dieser Grundannahme diskutiere ich damit lediglich den Aspekt der Kopplung des selbstorganisierten Verbrauchermarktes und des Arbeitsmarktes über Preis- und Lohnindizes.

In beiden stereotypen Aussagen der Ökonomieschulen betrachte ich den Verbraucherpreisindex, den Nominalpreisindex und den Realpreisindex als kalkulierte Ordnungsparameter, die für die Kopplung des selbstorganisierten Verbrauchermarktes und des selbstorganisierten Arbeitsmarktes sorgen. – Also auch zwischen diesen SO-Kreisen liegt eine Rückkopplung vor, hier wieder graphisch verdeutlicht durch die grünen Pfeile.

Es ergeben sich folgende mögliche Kopplungen:

Die unmittelbare Kopplung: Dies ist der Ansatz der Neo-Klassik. Die Ergebnisse der Verhandlungen zum Nominallohn beeinflussen unmittelbar den Verbrauchermarkt. Diese unmittelbare Kopplung könnte nur eintreten, falls das Kaufverhalten der Lokführer direkt einen messbaren Einfluss auf den Verbrauchermarkt hätte. – Dies erscheint in unserem gesellschaftlichen Kontext unwahrscheinlich. – In einem anderen Kontext könnte es aber Lohngruppen geben, die aufgrund ihres Verhaltens oder der schieren Anzahl einen großen Einfluss haben.

Die mittelbare Kopplung: Aufgrund der Leuchtturmwirkung der Lokführer-Verhandlungen erzeugt diese eine Signalwirkung für andere Tarifbereiche. Die wiederum „erzwingen“ ähnlich große oder größere Lohnerhöhungen und dies würde wiederum zu einer Veränderung im Verhalten führen.- Z.B. würde auf Grund des höheren Einkommens mehr Bananen gegessen werden und/oder mehr Auto gefahren werden. Prinzipiell ist solch ein Kontext vorstellbar, die Veränderung dürfte sich jedoch nur langsam und kontinuierlich bemerkbar machen, da der Ordnungsparameter „Preise“ nur langsam über das Verhalten verändert wird.

Die chaotische Kopplung: Das gesamte gesellschaftliche System befände sich in einem Zustand der Instabilität: Kleinste Änderungen im Arbeitsmarkt hätten große oder sogar katastrophale Folgen im Bereich der Verbrauchermärkte. Dies erscheint derzeit unwahrscheinlich.

Prinzipiell lassen sich alle drei Kopplungen vermessen, in dem über statistische Auswertungen Aussagen zu Korrelationen und Chaos ermittelt werden [9].

Zusammenfassend stelle ich fest: Solange sich die Lohnforderungen an dem Verbraucherpreisindex ex-ante orientieren, ist aus diesen Betrachtungen zur Selbstorganisation nicht ableitbar, dass durch Lohnforderungen Nachteile für das System der Märkte entstehen.

 

[1] GDL Pressemitteilung (2020) Tarifrunde abgeschlossen, GDL und AVG beschließen trotz Corona-Krise attraktives Gesamtpaket für Beschäftigte. https://www.gdl.de/Aktuell-2020/Pressemitteilung-1598361781, zugegriffen am 30.10.2020

[2] GDL Pressemitteilung (2020) DB-Tarifabschluss, Mehr Entgelt, höhere Zulagen und das Recht auf echte Freizeit!, https://www.gdl.de/Aktuell-2019/Aushang-1546622281, zugegriffen am 30.10.2020

[3] GDL (2020) Grundsatzrede von Claus Weselsky, https://www.gdl.de/Aktuell-2020/Podcast-1599486436, zugegriffen am 30.10.2020

[4] Norbert Schaffitzel (2020) Verschiedene wertvolle Anregungen meines Kollegen Norbert Schaffitzel aus der GPM Fachgruppe Agile Management  

[5] Statistisches Bundesamt (2020) Verbraucherpreisindex gesamt https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Preismonitor/Preismonitor.html, zugegriffen am 30.10.2020

[6] Statistisches Bundesamt (2020) Preiskaleidoskop https://service.destatis.de/Voronoi/PreisKaleidoskop.svg, zugegriffen am 30.10.2020

[7] Statistisches Bundesamt (2020) Nominallohnindex, https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/post-kurier-expressdienste/_Grafik/_Interaktiv/reallohnindex.html, zugegriffen am 17.11.2020

[8] Lokführergehalt (2020) https://www.mystipendium.de/berufe/lokfuehrer/gehalt#:~:text=Das%20durchschnittliche%20Lokf%C3%BChrer-Gehalt%20eines%20Lokf%C3%BChrers%20bei%20der%20Deutschen,Lokf%C3%BChrer-Gehalt%20von%20rund%203458%20Euro%20brutto%20im%20Monat, zugegriffen am 04.11.2020

[9] Strunk Guido (2019) leben wir in einer immer komplexer werdenden Welt? – Methoden der Komplexitätsmessung für die Wirtschaftswissenschaften, Complexity-Research, Forschung&Lehre Verlag, Wien