„Einheit in der Vielfalt“ oder von der Selbstorganisation des Marktes

Anlässlich des 30zigsten Jahrestages der Deutschen Einheit wurde der Zukunftsforscher Daniel Dettling vom Zukunftsinstitut zum Stand der deutschen Einheit interviewt [1]. Er kommt zu dem auf den ersten Blick erstaunlichen Schluss „Der Westen wird sich dem Osten angleichen“. Dies basiert auf der weitreichenden Erkenntnis „Wir leben 2050 in einem Deutschland und Europa der Regionen. Landkreise und ihre Kommunen haben ähnliche Kompetenzen wie die Bundesländer und können vor Ort autonomer agieren, angefangen von den Schulen bis hin zu Steuern.“ – Die „Einheit in der Vielfalt“ sei das zukünftige Einende. – Dettling identifiziert nicht Geld, als den entscheidenden Ordnungsparameter, sondern er spricht vom „Glücksfaktor“, bei dem der Osten schon weiter sei als der Westen.

Man braucht nicht sehr „quer“ zu denken, um zu erkennen, dass dies nichts anderes ist als einer der Grundgedanken der Selbstorganisation, der sich auch im gesellschaftlichen Raum seinen Weg bahnt.

Die Grundgedanken der Selbstorganisation „Einheit in der Vielfalt“, die Suche nach Sinn, die Einführung von Nachhaltigkeit, die Ersetzung des Wettbewerbsgedankens durch den Kollaborationsgedanken, alle dies sind Ausdruck eines weiter entwickelten  gesellschaftlichen Bewusstseins, das sich anschickt zu emergieren.

In einem Artikel auf nature communication warnen Nachhaltigkeitsökonomen erst kürzlich vor den Konsequenzen des Überflusses. Sie skizzieren Konzepte, die auf dem Grundgedanken der Selbstorganisation beruhen und hier Abhilfe schaffen sollen [2]. Dies wird flankiert von den datenbasierten Forschungsergebnissen meines Sohnes Yannick, dass der Energie-Fußabdruck ganz wesentlich mit dem Einkommen und damit mit dem Überfluss korrespondiert [3]. Man siehe hierzu und zur korrespondierenden Oxfam-Studie auch den Kommentar in Forbes [4].

Der ein oder andere mag auf die Idee komme, dass dies dem Kapitalismus bzw. dem ungezügelten Kapitalismus zuzuschreiben ist. – Dies ist nicht ganz von der Hand zu weisen, jedoch liegt das Problem meines Erachtens tiefer. Es hat viel mehr mit den aktuell (noch) vorherrschenden Werte-Memen zu tun, die besagen, dass „Wer (mehr) Erfolg hat, hat auch ein Anrecht auf (mehr) Entlohnung, also mehr Überfluss“, dass „Innovationen schon immer unser aller Lebensstandard gehoben haben und deshalb (immer) gut sind“, und dass „wir klare Fakten brauchen, die keinen Zweifel aufkommen lassen, bevor wir die Pferde scheu machen, denn es ist noch immer gut gegangen ist“. Diese Aussagen sind zentrale Werte-Meme des sogenannten orangenen Werte-Mems. Das orangene Werte-Mem ist weitgehend blind für eine Relativierung unserer anthropozentrischen Bedeutung und unserer systemischen Einbettung. – Deshalb sind auch datenbasierte Forschungsergebnisse so wichtig; neben Rahmenbedingungen wie Corona oder ersten großen Klimaschäden, die einen mächtigen Druck zum Umdenken ausüben, ist es sehr wichtig, das orange Mem mit einer seiner eigenen Waffen, der „datenorientierten Innovation“, zu schlagen, um so mitzuhelfen, eine Transformation anzustoßen. – Denn, …der Überfluss entspringt einem Denken und Handeln, das nicht mehr zum 21. Jahrhundert passt.

In [2] wird ein „neuer Lebensstil für das 21. Jahrhundert“ vorgeschlagen. – Die nachfolgende Tabelle zeigt wie stark diese Vorschläge mit den im Management 4.0 vorgeschlagenen Werte-Memen korrespondieren [5]. Dieser Werte-Mem Shift hat schon vor mehr als 25 Jahren eingesetzt, denn man kann ihn an den Entwicklungen festmachen, die zum Agilen Manifest führten:

Nachhaltige Ökonomie/
Gesellschaft [2]

Management 4.0 [5]

Das Bruttoinlandsprodukt ist kein geeignetes Maß für Wohlstand oder gar den „Glücksfaktor“. – Dies entspricht der Aussage: Preise bzw. Geld sind keine Sinngeber!

Der überbordende Work-in-Progress von einzelnen Personen, Teams oder Organisationen ist letztendlich die organisationale Repräsentation des Glaubens „Geld ist der entscheidende Träger von Sinn“.

Der WIP ist vielmehr zu limitieren und als „falscher“ Ordnungsparameter zu entlarven, um den Weg für einen sinngebenden Ordnungsparameter frei zu machen.

Ermächtige Menschen auf allen Ebenen zur Partizipation und Demokratie mit stärkerer Selbst-Governance auf lokaler Ebene.

Führe Selbstorganisation ein, die auf den synergetischen Prinzipien der natürlichen Selbstorganisation beruht. Baue eine entsprechende dynamische Governance-Architektur auf.

Betone Gleichheit und reduziere Ungleichheit durch Umverteilung

Betone individuelle Wertschätzung und reduziere wertvernichtende Komplexität durch einen integralen Ansatz.

Unterstütze die Transformation des ökonomischen Systems durch die Betonung von Forschung und Innovation in einem kollaborativen lokalen Umfeld (bei gleichzeitiger Reduktion von Massenproduktion in einem Wettbewerbsumfeld) 

Richte die Organisation an einer innovativen Ziel-Hierarchie (z.B. Collective Mind, Story Map, OKRs,…) aus, die den Menschen in der Organisation Sinn vermittelt und ermögliche dies durch Kollaboration statt Silo-Denken und Wettbewerb.

Sorge für Kapazitäten in der (digitalen) Bildung sowie im Austausch von Know-How zwischen lokalen gesellschaftlichen Einheiten 

Sorge dafür, dass durch geeigneten Austausch Selbstorganisation und Skalierung von Organisationen Hand in Hand gehen.

 

In [2] werden zusätzlich unterschiedliche Organisationsformen skizziert, die sich insbesondere in der Ausgestaltung der Governance-Architektur unterscheiden: Nämlich, ist die Governance-Architektur eher dynamisch oder statisch?; gibt es eine übergeordnete Governance, die die Einheit in der Vielfalt sicherstellt?; und gibt es eine Governance, die die Wechselwirkung zwischen lokalen Einheiten im gesellschaftlichen System reguliert?

Auch im Management 4.0 kennen wir genau diese Fragestellungen.- Die meisten Agilen Handlungsrahmen (wie Scrum und Kanban oder SAFe und LeSS) verfügen lediglich über eine statische Governance. Nur der Handlungsrahmen Soziokratie bzw. der hiervon abgeleitete Handlungsrahmen Holacracy verfügt über eine dynamische Governance. Der Handlungsrahmen Scaled Agile Management 4.0 beruht auf einer dynamischen Governance, die zusätzlich auf den Prinzipien der natürlichen Selbstorganisation (Synergetik) beruht.

In dem Deutschlandfunk-Beitrag „Die Wertedebatte, Wie fünf Ökonominnen Wirtschaft und Politik neu verbinden“ [6] werden die volkswirtschaftlichen Konzepte der fünf bedeutenden Ökonominnen Mariana Mazzucato, Kate Raworth, Esther Duflo, Stephanie Kelton und Carlota Pérez skizziert. Ich zitiere beispielhaft hieraus zu einem „neuen Lebensstil für das 21. Jahrhundert“:    

„Voraussetzung wäre jedoch auch in ihren Augen der Abschied von traditionellen Theorien der Volkswirtschaft. Statt sich weiter an den Modellen der industriellen Massenproduktion zu orientieren, bei denen Wachstum, Erwerbsarbeit, Besitz und dergleichen wichtig sind, gelte es, einen neuen Lebensstil für das 21. Jahrhundert zu entwickeln.

Die Zukunft ist nicht immer die Fortführung der jüngsten Vergangenheit. Der Staat muss die Wettbewerbsbedingungen in eine synergistische Richtung lenken. Eine Richtung, in der das, was einer tut, allen anderen zugutekommt, sodass wir diese fantastische gemeinsame Energie für Wachstum und Wohlbefinden bekommen.

Erste Trends in diese Richtung gibt es ja bereits. Wir könnten noch mehr Gebrauchsgüter gemeinsam nutzen, statt einzeln zu besitzen. Eine individuelle maßgeschneiderte Produktion von qualitativ hochwertigen und langlebigen Einzelstücken könnte die heutige Massenproduktion von Billigteilen ersetzen. Wir könnten mehr Zeit für Familie, gegenseitige Fürsorge, Bildung und Kultur aufwenden statt um jeden Preis an überflüssig gewordenen Erwerbsarbeitsplätzen festzuhalten. Klingt utopisch?“

Die Erkenntnisse des Zukunftsinstituts, der modernen (Nachhaltigkeits-) Ökonomie und des Management 4.0 zeigen in die gleiche Richtung. Analog dem Agilen Manifest schlage ich auf dieser Basis ein ökologisch-ökonomisches Manifest vor:

  • Die Selbstorganisation der Gesellschaft ist wichtiger als die Selbstorganisation des Marktes.
  • Der Markt dient der Gesellschaft, und nicht die Gesellschaft dem Markt.
  • Eine geführte Selbstorganisation des Marktes ist wichtiger als eine ungeführte Selbstorganisation des Marktes.
  • Einheit in der Vielfalt ist wichtiger als Einheit.
  • Kollaboration ist wichtiger als Wettbewerb.
  • Lokalität ist wichtiger als Globalisierung.

Die nachfolgende Abbildung 1 fasst einige Aussagen der Blog-Reihe „Selbstorganisation des Marktes“ zusammen:

Abbildung 1: Die Selbstorganisation der Gesellschaft ist wichtiger als die Selbstorganisation des Marktes.

Viele Individuen tragen mit ihrem individuellen Verhalten in verschiedenen Kontexten auf der Mikro-Ebene zur Ausbildung von Mustern bei, die sich auf der Makro-Ebene des Marktes und der Gesellschaft zeigen. Damit tragen die individuellen Makro-Ebenen mit ihren individuellen Werten und Glaubenssätzen, ihren Identitäten und dem Sinn, den jeder seinem Leben gibt, zu den gesellschaftlichen Makro-Strukturen bei. – Es bilden sich mehr oder weniger viele Gesellschaften bzw. Teilgesellschaften sowie ein Markt bzw. Teilmärkte.

Die sozialen Makro-Ebenen (Markt/Märkte bzw. Gesellschaft/Teilgesellschaften) lassen sich wiederum durch unterschiedliche Ordnungsparameter beschreiben. So habe ich im letzten Blog z.B. erwähnt, dass man die unterschiedlichen ökonomischen Theorien u.a. auch durch die Reihenfolge der Markt-Ordnungsparameter charakterisieren kann. Der in allen ökonomischen Theorien oberste Ordnungsparameter ist die Technologie, sie ändert sich am langsamsten. – Die Schnelligkeit oder Langsamkeit, mit der sich die Größen im Verhältnis zueinander ändern, habe ich durch stärkere oder weniger starke Schwingungen angedeutet. So zeigt das Verhalten der Menschen auf Mikro-Ebene die (wahrscheinlich) stärkste Dynamik.

Der Markt ist Teil des gesellschaftlichen Systems. Berücksichtigt man, dass Modelle immer ihre Limitierungen haben, so hat die Ökonomie gezeigt hat, dass man mit mathematischen Modellen den Markt vielfach sehr gut beschreiben kann. – Man kann sogar mit Hilfe der mathematischen Theorien der Komplexitätsforschung und der Selbstorganisation für den Markt wichtige Erkenntnisse gewinnen. – Es ist jedoch wichtig, festzuhalten, dass der Markt bzw. die Märkte zwar emergierende Makro-Strukturen zeigen, jedoch in sich keine soziale Rechtfertigung tragen. – Sie sollten, trotz aller „selbstorganisierter Komplexität“ nur als „formale“ Repräsentationen gesellschaftlicher Makro-Strukturen betrachtet werden und diesen untergeordnet werden, damit sich die integralen Werte-Meme entwickeln können. Genau dies ist für mich die Quintessenz eines „neuen Lebensstils für das 21. Jahrhundert“. – Wenn man sieht, dass Management 4.0 gerade die organisationale Welt verändert, dann kann man die berechtigte Hoffnung haben, dass der Kapitalismus für das Leben im 21. Jahrhundert seine Dominanz verliert, Innovationen mehr integrale gesellschaftliche Relevanz zeigen und der „Glücksfaktor“ wächst.  

[1] Bayer Anna und Künßberg Jann-Luca (2020) Interview mit dem Zukunftsforscher Daniel Dettling über Deutschland 2050, „Der Westen wird sich dem Osten angleichen“, Spiegel,  https://www.spiegel.de/geschichte/deutschland-2050-der-westen-wird-sich-dem-osten-angleichen-a-5d614ef4-1d3a-4022-afde-49d6f1ddd7d4, zugegriffen am 24.10.2020

[2] Wiedmann Thomas, Lenzen Manfred, Keyßer Lorenz T., Steinberger Julia K. (2020) Scientits‘ warning on affluence, nature communications, (2020)11:3107

[3] Oswald, Y., Owen, A. & Steinberger, J.K. (2020) Large inequality in international and intranational energy footprints between income groups and across consumption categories, Nature Energy volume 5, page 349(2020)

[4] Ollie Williams (2020) Rich People Are Bad For The Planet Studies Show, https://www.forbes.com/sites/oliverwilliams1/2020/09/21/rich-people-are-bad-for-the-planet-studies-show/#2e6f07db2b46, zugegriffen am 24.10.2020

[5] Oswald Alfred, Müller Wolfram (editors) (2020) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, BoD, Norderstedt

[6]  Schrupp Antje (2020) Die Wertedebatte, Wie fünf Ökonominnen Wirtschaft und Politik neu verbinden, Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/die-wertedebatte-wie-fuenf-oekonominnen-wirtschaft-und.1184.de.html?dram:article_id=485902&utm_source=pocket-newtab-global-de-DE, zugegriffen am 24.10.2020

Systemwandel, nein danke! oder von der Selbstorganisation des Marktes

Im vorherigen zweiten Teil dieser Reihe zur Selbstorganisation (SO) des Marktes [1] habe ich erläutert, dass Preise sogenannte Ordnungsparameter des sozialen Systems der Preisbildung sind. Preise wirken als Ordner, auf die sich das System „Angebot und Nachfrage“ einschwingt. – Preise können Lebensmittelpreise, Wohnungspreise und -mieten oder auch Gehälter sein. In vielen Fällen bildet sich ein mehr oder weniger stabiler (dynamischer) Preiszustand aus. – Nicht selten vergleicht man diesen stabilen Zustand mit dem Zustand einer Kugel, die auf dem Boden eines Tals angelangt ist. Wenn dieser Preiszustand nicht z.B. durch Gier, Innovationen, neue Marktteilnehmer oder Eingriffe des Staates „gestört“ wird, kann er eine erstaunliche Stabilität zeigen. Ich habe auch verdeutlicht, dass in den so sich ausbildenden Preisen vielfach nur ein Teil der Kosten für z.B. ein Produkt enthalten sind.- Dies bringt zum Ausdruck, dass die Preisbildung sehr stark vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext abhängt: Unsere Preise werden von vorherrschenden Rahmenparametern (u.a. Gesetze, Dominanz der Marktplayer, europäischen Lohnniveaus usw.) sowie den Kontrollparametern (insbesondere den Werte- und Glaubenssystemen) mitbestimmt.

Man stelle sich vor, die Autohersteller, oder auch wir, müssten alle Kosten, die mit dem ökologischen Fußabdruck der Autos verbunden sind, mittragen.- Wahrscheinlich gäbe es dann deutlich weniger Autos auf unseren Straßen. – Oder man stelle sich vor, die deutschen Milliardäre der Schwerindustrie würden nachträglich für die in Jahrzehnten verursachten Umweltschäden herangezogen. Oder die deutsche Industrie oder wir Verbraucher müssten die Kosten des ökologischen Fußabdrucks und der Ausbeutung der Menschen, die mit der Entsorgung unserer Abfälle in der dritten Welt verbunden sind, übernehmen. 

Im letzten Blog bin ich schon auf vorherrschende Glaubenssätze wie „Selbstorganisation ist gut und notwendig“ und „Wachstum ist gut und notwendig“ eingegangen. Diese Glaubenssätze werden durch weitere Glaubenssätze ergänzt (deshalb spricht man auch von einem Glaubenssystem).

Hinter der Nicht-Berücksichtigung des ökologischen Fußabdrucks bei der Preisbildung stecken zwei weitere zentrale Grundannahmen bzw. blinde Flecken des ökonomischen bzw. gesellschaftlichen Handelns:

  • Jeder – Mensch, Organisation, Gesellschaft – ist nur für sein unmittelbares Handeln verantwortlich, systemische Auswirkungen bleiben unberücksichtigt: Also, wie die Rohstoffe oder Basisprodukte zur Autoherstellung erzeugt werden, liegt nicht in der Verantwortung des Autoherstellers und was nach dem Verkauf des Autos an einen Konsumenten mit dem Auto passiert und welche Auswirkungen das Auto auf die Umwelt hat, dies alles gehört nicht in den Verantwortungsbereich des Autoherstellers.
  • Die Natur stellt ein unendliches Reservoir an Rohstoffen dar und sie stellt auch ein unendliches Reservoir für die Aufnahme von Abfällen dar: Menschen, Tiere, Pflanzen, Boden, Wasser und Luft sind zuerst einmal nur Ressourcen für den ökonomischen Prozess.

Mit diesen Grundannahmen wird ökonomisches Handeln, so wie wir es aktuell kennen, erst möglich: Die Preisbildung ist meistens „lokal“, sie wird im Wesentlichen von allen systemischen Einflüssen befreit und damit bleibt sie relativ einfach. Lokal heißt z.B., dass die mittelbaren und langfristigen Auswirkungen auf Menschen, Tier und Natur weitgehend unberücksichtigt bleiben. Menschen, Tiere und Natur werden bei der Angebotserstellung der Ökonomie untergeordnet. Bei der Nachfrage spielt das Wohl der Menschen, der Tiere und der Natur, die im Angebotsprozess oft ausgebeutet werden, nahezu keine Rolle mehr.

Die Oxford Ökonomin Kate Raworth hat ein Bild, die Doughnut Economics [2], geprägt, um die durch diese Grundannahmen entstandene Situation zu verdeutlichen: Die Menschheit und die Natur bilden jeweils zwei konzentrische Kugeln (dazwischen befindet sich der Doughnut). Die Menschheit bildet die innere Kugel und die Natur die äußere Kugel. Die Menschheit hat ihre Kugel im Lauf der letzten 200 Jahre immer weiter in Richtung der Kugel der Natur ausgedehnt. Da die Natur sich nicht weiter ausdehnen kann (die natürlichen Aufnahme- und Abgabe-Ressourcen sind endlich), wird sie zunehmend durch uns „ersetzt“. Dies ist ein Bild für das Zeitalter des Anthropozäns.

Soll sich hieran etwas ändern, so ist es wichtig die SO Rahmen- und Kontrollparameter zu verändern. Wie wir schon gesehen haben, liegt ein unglaubliches Geflecht von SO-Strukturen vor: Z.B. hat alleine in Europa jedes Land andere SO-Strukturen und innerhalb der Länder haben die Regionen unterschiedliche SO-Strukturen, usw..- Im Rahmen der Corona-Bewältigung können wir ja täglich die Auswirkungen der föderalen Bundestruktur wahrnehmen – positiv wie negativ…

Die Ausgestaltung von Rahmenparametern kann helfen SO-Strukturen zu verändern: So ist die Einführung der CO2 Bepreisung durch den Gesetzgeber eine solche Maßnahme. Sie bildet einen Teil der Kosten für den ökologischen Fußabdruck ab. Der Staat drückt und zieht hiermit am Verhalten der Gesellschaft. Einerseits hofft er, dass damit die CO2 Belastung reduziert wird und andererseits sich das Verhalten der Gesellschaft nachhaltig verändert. Nachhaltig wäre die Verhaltensänderung nur, wenn die Gesellschaft ohne CO2 Bepreisung einen stabilen Zustand der CO2 Vermeidung einnehmen würde. Dies setzt voraus, dass sich das gesellschaftliche Glaubenssystem verändert hat. Wie schwer dieser Prozess der Veränderung von Glaubenssystemen ist, kann man sehr gut am Fall Tönnies erkennen: Es gibt wohl nicht wenige gesetzliche Regelungen, jedoch findet die Fleischindustrie immer wieder Schlupflöscher, diese auszuhöhlen oder zu umgehen. – Sie hat also ihr Glaubenssystem nach Jahrzehnten nicht geändert. Dies hängt auch damit zusammen, dass das Glaubenssystem der Fleischindustrie eine Resonanz im Glaubenssystem der Gesamtgesellschaft findet. – Die Einbettung der SO-Mechanismen der Fleischindustrie in den gesellschaftlichen Kontext macht dies möglich. – Also, wir alle machen es möglich!

Ein Systemwandel in einer Demokratie wird nur möglich, wenn sich das gesellschaftliche Glaubenssystem mehrheitlich ändert!

Ein System mit stabilen Strukturen und den dahinter liegenden Glaubensstrukturen zu verändern, ist sehr, sehr schwer.

Abbildung 1: Selbstorganisation und Transformation 4.0 (emoji’s von https://emojipedia.org/)

Abbildung 1 zeigt, wie wir im Management 4.0 Szenarien einer nachhaltigen Veränderung, einer Transformation, verstehen.

Hierzu habe ich die Metapher der Kugel verwendet, die sich in einer veränderbaren Berglandschaft bewegt. – Ist die Kugel einmal in einem Tal angelangt, ist es sehr schwer sie dort wieder herauszubekommen. Preise stellen solche Kugeln dar, d.h. es bildet sich ein stabiles Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage, falls nicht etwas im Umfeld/Kontext passiert…; Glaubenssysteme kann man als solche Kugeln verstehen, d.h. sie bilden sich durch Erfahrungen aus, sie stellen Vereinfachungen des Denkens dar, damit wir im Alltag schneller und einfacher zurechtkommen und sie bleiben, wenn nicht etwas „dramatisches“ passiert…; Menschen und soziale Systeme (Team, Organisationen und Gesellschaften) verharren ebenfalls oft in stabilen Zuständen.- Stabile Zustände vermitteln Sicherheit oder umgekehrt ihr Verlassen erzeugt Unsicherheit, nicht selten Angst.

Für Individuen ist Veränderung schon sehr schwierig und erfordert zumindest in Ansätzen Metakompetenz [3]. Eher selten entsteht eine Dynamik auf der Basis vieler: Meistens sind äußere Einflüsse notwendig, damit sich etwas verändert. Fridays for Future hat ihren Schubs durch die Klimakrise erhalten: Die antizipierte Klimakrise ist der neue Kontext, der die Veränderungsbereitschaft erleichtert. Je nachdem wie stark diese Betroffenheit und damit das Urteilen über die Klimakrise ausfällt, umso stärker ist die Veränderungsbereitschaft.

Corona hat ebenfalls den Kontext verändert und damit die Veränderungsbereitschaft erleichtert. Man sieht aber auch, dass die Kontextveränderung hinreichend lang und massiv sein muss, damit eine Veränderung geschieht: Z.B. hat eine Kontextveränderung von ca. einem halben Jahr nicht ausgereicht, damit sich das Schulsystem nachhaltig auf einen Online-Unterricht einlässt.

Die Selbstorganisation des Marktes bzw. der Gesellschaft benötigt also (meistens massive) Kontextveränderungen, damit sehr stabile Zustände sich auflösen. Von alleine könnte der Markt oder die Gesellschaft sich kaum aus diesem stabilen Zustand befreien. – Massive (soziale) Veränderung oder Krisen sind notwendig. Aus der praktischen Erfahrung aber auch der Forschung zu Komplexität und Selbstorganisation weiß man, dass diese Veränderungen oder Krisen nicht immer in bessere andere stabile Zustände führen, sondern z.B. u.a. auch chaotische Zuständen mit sich bringen können. – Leider kann selbst die „beste“ Führung dies nur sehr bedingt beeinflussen, denn komplexe Systeme sind in ihrem Verhalten nicht vorhersehbar. 

In agilen organisationalen Transformationen begegnen uns ähnliche Probleme: Agile Inseln in Organisationen helfen selten alleine, eine Organisation zu verändern. Falls der Markt, in dem eine Organisation aktiv ist, sich nicht verändert, sich also der Unternehmenskontext nicht massiv verändert, ist die Organisation selten bereit, sich zu verändern. Die deutsche Automobilindustrie brauchte Tesla als Kontextveränderer und selbst als der Kontext sich zusätzlich noch durch Corona, Klimakrise und Fridays for Future dramatisch änderte, war die Veränderungsbereitschaft ausgesprochen gering.

Auf die Politik bezogen, ist es auch so, dass es politische Inseln gibt, die in der Lage wären, eine Politik 4.0 [4] einzuführen. – Jedoch ohne Hilfe von „Außen“, also z.B. Corona, wird es Veränderung, wie wir sie aktuell sehen, eventuell geben, wenn, dann jedoch viel später. – Die Tatsache, dass Corona ein globales Phänomen ist, hilft zusätzlich die Veränderungsbereitschaft anzustoßen. – Auch und gerade in der Politik. Am Beispiel der überbordenden Luftfahrt oder des enormen Tourismus kann man erkennen, dass Corona zu einem globalen Umdenken beigetragen hat. Falls Corona z.B. lediglich auf Deutschland als Insel beschränkt gewesen wäre, so hätte dies ganz sicherlich zu keiner nachhaltigen Verhaltensänderung geführt. Auch deswegen, weil unsere Politik in ein globales politisches Netzwerk eingebunden ist.

Betrachten wir es positiv: Corona ist ein aktueller Rahmenparameter der Selbstorganisation, der den Kontext verändert und damit neue emergente Strukturen ermöglicht.

Nun sollten wir nicht auf weitere Krisen, wie Corona warten, sondern bewusst selbst Kontextveränderungen herbeiführen. – Eine nachhaltige Ethik für Mensch, Tier und Natur mit entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen ist ein Schritt in diese Richtung. – Jedoch gesetzliche Rahmenbedingungen alleine, ohne eine Veränderung des gesellschaftlichen Glaubenssystems, sind nicht nachhaltig. Auch dies wissen wir aus der Praxis des Agilen Managements: Die Einführung von agilen Techniken ohne Mindset- bzw. Kulturwandel macht meistens die Situation nicht besser, sondern schlimmer!   

 

[1] Oswald Alfred (2020) The (in)visible hand oder von der Selbstorganisation des Marktes, https://agilemanagement40.com/the-invisible-hand-oder-von-der-selbstorganisation-des-marktes, zugegriffen am 21.08.2020

[2] Raworth Kate (2017) Doughnut Economics: Seven Ways to Think Like a 21st-Century Economist, Kindle Ausgabe, Cornerstone Digital

[3] Oswald Alfred (2019) Metakompetenz Selbstorganisation 4.0, https://agilemanagement40.com/metakompetenz-selbstorganisation-4-0, zugegriffen am 21.08.2020

[4] Oswald Alfred (2019) Politik 4.0: Politik im Angesicht von Komplexität und Selbstorganisation, von Schmetterlingseffekt, Tipping Point und selbstorganisierter Kritikalität, https://agilemanagement40.com/politik-4-0-politik-im-angesicht-von-komplexitaet-und-selbstorganisation-von-schmetterlingseffekt-tipping-point-und-selbstorganisierter-kritikalitaet, zugegriffen am 21.08.2020

The (in)visible hand oder von der Selbstorganisation des Marktes

Einer der hartnäckigsten Mythen unserer Gesellschaft und insbesondere der Grundannahmen des vorherrschenden Ökonomieverständnisses ist das der invisible hand [1]. – Hiernach besteht der Glaube, dass das (egoistische) Handeln im Markt über die Mechanismen der Preisbildung sich zum Wohle der Gesamtgesellschaft entwickelt.

Dass dies vielfach ein Irrtum ist, zeigen meine Beispiele im letzten Blog [2].

Wie in Organisationen auch, haben Mythen eine blockierende Wirkung und verhindern notwendige Veränderungen oder einen Systemwechsel. Mythen gehören zur Kategorie der Glaubenssätze, die sich meistens schon viele Jahre, manche Jahrhunderte, gehalten haben. Will man Veränderungen hervorrufen, ist es deshalb unabdingbar, die Beseitigung dieser Blockaden vorzunehmen. Gerade in demokratischen Gesellschaften geht einer wesentlichen Strukturänderung eine solche Blockadenbeseitigung voraus.

Schauen wir uns das Thema Preisbildung etwas genauer an:

Die Preisbildung ist eine Form der Selbstorganisation: Preise sind Ordnungsparameter, die sich in Abhängigkeit von Rahmen- und Kontrollparametern, in Subsystemen unseres Systems Gesellschaft einstellen. Rahmen- und Kontrollparameter des Subsystems Preisbildung (es gibt natürlich sehr viele dieser Subsysteme) werden durch die Historie (u.a. auch Mythen und Glaubenssätze) sowie Gesetze, Steuerabgaben, Innovationen oder auch Marktmonopole ausgebildet. Mythen und Glaubenssätze, Gesetze, Steuerabgaben, Innovationen sowie Marktmonopole sind wiederum durch weitere andere selbstorganisierte Prozesse entstanden. Die Preisbildung ist also in eine Hierarchie (vertikal wie horizontal) von selbstorganisierten Strukturen und Prozessen eingebettet. Vielfach ist mit dem Verständnis der Selbstorganisation ein großes Missverständnis, um nicht zu sagen ein Glaubenssatz, verbunden: Selbstorganisation läge nur dann vor, wenn es keinerlei „Eingriffe“ gibt. Aber was sind „Eingriffe“. Allein die Systemumgebung zum Subsystem Preisbildung ist schon ein „Eingriff“. Dieser „Eingriff Systemumgebung“ bestimmt nämlich ganz wesentlich welche Strukturen und Prozesse das so selbstorganisierte Subsystem Preisbildung ausbildet. Und diese Systemumgebung kann man beeinflussen, also z.B. durch Führung gestalten. – Im New Work spielt u.a. die Raum- und Zeitgestaltung als Systemumgebung eine ganz besondere Rolle. In Agilen Frameworks (wie z.B. Scrum) wird diese Erkenntnis schon sehr lange angewendet, wenngleich dies dort eher als starrer Rahmen(parameter) vorgegeben wird, da die Wirkmechanismen der Selbstorganisation den Anwendern der Frameworks selten bekannt sein dürften. Andere „Eingriffe“ sind Werte und Glaubensätze, die ebenfalls in Selbsorganisationsprozessen entstanden sind und auf den Prozess der Preisbildung auch als Rahmen- oder Kontrollparameter wirken. So liegt also ein unglaublich komplexes Netzwerk an selbstorganisierten Prozessen vor, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. – Selbstorganisation kennt also sehr wohl „Eingriffe“.

In (einfachen) mathematischen Modellen, die die Realität nur bedingt abbilden, sind die Rahmen- und Kontrollparameter wirklich Parameter, also einzelne Zahlen, in die die obigen Rahmen- und Kontrollparameter der Realität (Werte, Glaubenssätze, Mythen, andere Prozesse und Strukturen) abgebildet werden. Der Kontrollparameter ist dann eine Zahl, deren Veränderung u.a. Selbstorganisation oder auch chaotisches Verhalten im mathematischen Modell hervorruft. So kann man in einem einfachen Modell zu Preisbildung, das auf der logistischen Gleichung beruht, bei Variation des Kontrollparameters u.a. chaotisches Preisbildungsverhalten erzeugen [3]. 

Hinter diesen Systemparametern versteckt sich also in mathematischen Modellen auch das böse oder gute Verhalten einzelner Personen oder Gruppen, die erheblichen „Eingriff“ in die Selbstorganisation vornehmen.

Wie in anderen Blogbeiträgen schon dargelegt, kann der Mechanismus der Selbstorganisation jedoch selbst nicht zwischen gut und böse unterscheiden.

In meinem letzten Blog [2] habe ich gezeigt, dass eine unregulierte Preisbildung, also eine unregulierte Selbstorganisation, „böse“ Ergebnisse zeigen kann.

Mit dem Glaubenssatz „Die unsichtbare Hand erzeugt Gemeinwohl“ ist der weitere Glaubenssatz „Den Markt sollte man sich selbst überlassen, der Staat sollte nicht eingreifen!“ eng verbunden. Dieser Glaubenssatz wird leider durch viele Erfahrungsbeispiele „bestätigt“. – Denn vielfach hat man in den Markt eingegriffen, aber ohne die Zusammenhänge der Selbstorganisation zu berücksichtigen. – Die Resultate waren oft negative Erfahrungen, die den obigen Glaubenssatz wieder untermauert haben.

Andreas Liening zeigt in [3] an vielen (realen) Beispielen wie mittels der Synergetik ein tieferes und ganzheitlicheres Verständnis ökonomischer Prozesse gelingt: Preise sind Ordnungsparameter. Es gilt das Prinzip, dass man Ordnungsparameter einer Selbstorganisation nicht vorgeben darf. – Vorgeben heißt strikt vorgeben. – Eine Intervention reingeben und schauen was das System daraus macht, dies ist keine strikte Vorgabe. – Im Agilen Management sagen wir, dass eine Führungskraft durchaus auf einen Ordnungsparameter Einfluss nehmen darf, jedoch nur soweit wie alle anderen auch. – In machtorientierten Organisationen ist dies sicherlich ein sehr schwieriges Unterfangen. Falls man es doch tut, spätestens dann gehen die Vorteile der Selbstorganisation verloren. – Im Management, agil wie traditionell, kennen wir die negative Wirkung von vom Management vorgegebenen Ordnungsparametern wie Vision, Mission oder auch Werten. – In nahezu allen Fällen geht die sinnstiftende Wirkung verloren, und damit auch die intendierte Wirkung als Mittel der Ordnungsbildung, also als Mittel der Ausrichtung auf ein gemeinsames unternehmerisches Ziel hin.

Je nach Kontext, können völlig unerwartete und unerwünschte Makrostrukturen entstehen, z.B. kann eine Preisdeckelung (als massiver Eingriff in die Ausbildung eines Ordnungsparameters) bei den Anbietern eines Produktes zu einer Angebotsreduktion führen, d.h. die Anbieter befürchten, dass sie nicht genug Gewinn machen und ziehen Ihr Angebot zurück. Für lebenswichtige Produkte wie Wohnungen oder Nahrungsmittel kann dies katastrophale Folgen haben. – Bei entsprechender Kenntnis von Selbstorganisationsmechanismen, wäre man sicherlich auf diese Zusammenhänge gestoßen und hätte einen anderen Systemparametermix gefunden. Andere Systemparameter, die als Rahmen- oder Kontrollparameter z.B. für den Wohnungsmarkt wirken, sind: Wohnberechtigungsscheine, Sozialer Wohnungsbau, progressive Besteuerung von Gewinnen aus Mietgewinnen, usw….

Wenn der Staat nicht eingreifen soll und egoistisches Handeln im Markt sich letztendlich für die Gesellschaft positiv auswirkt, dann ist damit auch ein dritter Glaubenssatz verbunden: „Ökonomisches Wachstum ist sinnvoll, da es unseren Wohlstand garantiert“. – Wie wir sehen, bin ich jetzt schon beim dritten Glaubenssatz angelangt. – Wir sprechen im Management 4.0 von Glaubenssatzsystemen. – Das Erkennen und Hinterfragen von Glaubenssatzsystemen ist eine Fähigkeit der Metakompetenz Selbstorganisation 4.0. – Im Markus Lanz Talk [4] zur Neuausrichtung unserer Ökonomie kann man sehr gut die derzeit vorliegenden ökonomischen Glaubenssätze unseres Denkens erkennen und wie diese die Fruchtlosigkeit des Talks bedingen und wahrscheinlich unser Unvermögen den Systemwandel bald möglichst einzuleiten.

Nehmen wir das Beispiel Tönnies: Tönnies wirbt auf der eigenen Internetseite [5] mit „Fleischexport: Wertschöpfung für In- und Ausland“ sowie Millardenumsätzen. – Der Exportanteil liegt bei über 50%. – Das Wachstum hat (vermutlich) sogenannte Skaleneffekte ermöglicht, also eine enorme „Effizienz“ mit sich gebracht, was bei niedrigen Lohnkosten und sehr preisbewussten Käufern zu niedrigen Fleischpreisen führt. Man könnte also auf die Idee kommen, dass die Selbstorganisation doch prima funktioniert, denn alle haben was davon: Niedrige Fleischpreise, viele Arbeitsplätze, hohe Steuereinnahmen, gute Gewinne. Und dies untermauert wieder den Glaubenssatz „Ökonomisches Wachstum ist sinnvoll, da es unseren Wohlstand garantiert.“. Nur was heißt „unseren Wohlstand“? Wie bemessen wir den Wohlstand der Tiere? Wie bemessen wir die Folgen der einseitigen Tierhaltung (u.a. Futtermittelproduktion, Gülle, usw.) und deren Folgen für die Natur? Wie bemessen wir die Folgen für unsere Gesundheit, weil wir (und die Menschen im Ausland, wohin ca. 50% exportiert werden) zu viel Fleisch essen? Wie bemessen wir den umweltschädlichen Transport ins Ausland? Wie bemessen wir die Folgen für die Arbeiter in den Fabriken? Wie bemessen wir die Folgen von Corona und ähnlichen Krisen? usw.

Im nächsten Blogbeitrag versuche ich diese Fragen weiter zu diskutieren.

        

[1] Wikipedia (2020) Unsichtbare Hand, https://de.wikipedia.org/wiki/Unsichtbare_Hand

[2] Oswald, Alfred (2020) Von bösen und guten Preisen oder der Selbstorganisation des Marktes, https://agilemanagement40.com/von-boesen-und-guten-preisen-oder-der-selbstorganisation-des-marktes

[3] Liening Andreas (2017) Komplexität und Entrepreneurship, SpringerGabler, kindle Version

[4] ZDF-Markus Lanz (2020) https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-7-juli-2020-100.html, zugegriffen am 28.07.2020

[5] Tönnies (2020) https://toennies.de/fleischexport-wertschoepfung-fuer-in-und-ausland/, zugegriffen am 28.07.2020

Von bösen und guten Preisen oder der Selbstorganisation des Marktes

Es ist einige Zeit her, ich glaube es war in der Sendung AnneWill, als ich einen Beitrag zum Thema Nahrungsmittelpreise und unsere Landwirtschaft gesehen habe. Ich war tief betroffen und wütend, als ein Ökonomieprofessor in etwa sinngemäß folgende Aussage traf: „Landwirtschaft und die damit verbundene Tierhaltung sowie die daraus gewonnenen Lebensmittel unterliegen dem Markt.“

In den Medien, u.a. in [1], konnte man die Tage lesen, dass Uli Hoeneß seinen Freund, den Fleischfabrikanten Tönnies mit den folgenden Worten verteidigt: „Wenn Fehler gemacht wurden, muss man dazu stehen. Das tut er ja. Wenn Dinge zu ändern sind, dann muss man das auch tun. Ich gehe davon aus, dass er das tut, wenn es notwendig ist.“  – Man beachte die mehrfach relativierende Satzkonstruktion „Wenn…dann…wenn es notwendig ist.“

Ich frage, sind das Fehler? – Wenn man Menschen und Tiere über Jahrzehnte ausbeutet und selbst auf dieser Basis Milliarden abschöpft.

Es folgt in [1] der Satz „…was er für eine große Firma aufgebaut hat, jetzt plötzlich in Schutt und Asche redet…“. – Beachtet man seinen eigenen Werdegang, so spricht vieles für ein dominantes ego-heroisches Werte Mem, wenn nicht sogar eine narzisstische Persönlichkeitsstörung flankiert von einem ausschließlich individuell oder spezifischen Gruppen dienenden autoritären Werte Mem von Orientierung und Kontrolle.  

Nikolaus Blome [2] hat in der Spiegel Kolumne zum Thema Tönnies unter dem Titel „Billig ist nicht böse“ einen Beitrag geschrieben. Dieser Beitrag lässt unmittelbar den Glaubenssatz erkennen, dass ein Preis, hier der Preis des Fleisches, das wir im Supermarkt kaufen, nicht böse sein kann, denn der Preis ist ja durch das „objektive“ Einschwingen von Angebot und Nachfrage in einen makroökonomischen Gleichgewichtszustand entstanden. – Personen, die dementsprechend einem Preis die Eigenschaft „böse“ zuordnen, verstehen nichts von Ökonomie.

Selbstverständlich entsteht, der Preis auf diese Weise und er ist auch in diesem Sinne „objektiv“, jedoch keinesfalls frei von Werten. Ein Gleichgewicht stellt sich immer auch auf der Basis von weiteren Systemparametern ein und diese Systemparameter können durchaus moralisch-ethisch verwerflich sein: Wenn die Landwirtschaft Tiere und Natur ausbeutet, Tönnies die Ausbeutung von Tier und Arbeitern fortsetzt, der Einzelhandel seine Zulieferer erpresst und sich in Preisschlachten gegenseitig unterbietet und wir als Verbraucher nach noch billiger gieren, weil Geiz geil ist oder weil wir uns nicht mehr leisten können, dann ist mit all dem sehr wohl eine böse Dynamik verbunden, nämlich ein nach immer niedrigeren Preisen gerichteter (temporärer) Preis-Gleichgewichtszustand. – Niedrige Löhne in der Fleischindustrie und in anderen Branchen führen fasst automatisch zu einem Zustand, in dem Preise niedrig sein müssen, damit sich diese Menschen die Lebensmittel leisten können. – Und wir anderen profitieren dann auch sehr von diesen niedrigen Preisen. Deshalb müsste es eigentlich das Ziel von Kolumnisten sein, nicht zur Stabilisierung dieser unsäglichen ökonomischen Glaubensätze beizutragen, sondern bewusst dazu beizutragen, dass ein „Denken lernen“ einsetzt [3], indem tradierte Glaubenssätze hinterfragt werden, damit ein gesellschaftlicher Wandel eintritt.   

Das Erste [4] hat einen Beitrag zu den Ursachen der Abstürze der Boeing 737 MAX veröffentlich. Auch hier spielte der Preis oder die Gier nach Markt- bzw. Macht-Anteilen die entscheidende Rolle. Die Boeing 737 geht in ihrer Urversion auf die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. – Im Laufe der Jahrzehnte wurde sie in verschiedenen Modellen weiterentwickelt. Mit dem Airbus 320 bot Airbus ein sparsameres Modell an. Die Sparsamkeit der Triebwerke beruht u.a. auf ihrer Größe. Also hat Boeing aus Kosten und Zeitgründen an die 737 größere als ursprünglich vertretbare Triebwerke angebaut. Das Resultat war, dass das Flugverhalten durch diese Übergröße instabil wurde und man dies mit einer entsprechenden versteckten Software korrigierte.- Nach Aussagen von [4] wussten die Piloten der Unglücksmaschinen nichts von dieser Software. Die Software war fehlerhaft und steuerte die Maschinen Kopf-vor in den Boden. Der Bericht legt nahe, dass dieses Verhalten kein Einzelfall ist, sondern Sicherheit systematisch dem Profit geopfert wurde und noch wird. – Auch hier wieder, der sich selbst überlassene Markt konnte es nicht zum Besseren führen.

Dies Alles, so glaubt man, kann an Perfidität nicht übertroffen werden. Doch es geht, wie Michael Moore in seiner zweistündigen Dokumentation im ZDF [5] zeigt: „Fahrenheit 11/9, Amerikas Betriebstemperatur, Wie konnte Donald Trump US-Präsident werden? Und was kann man jetzt tun?“

Auch hier herrschen Gier, Machtlust, Skrupellosigkeit, Rassismus, Sexismus, offener und verdeckter Betrug und Ego-Zentrik vorallem in den republikanischen Kreisen aber auch bei den Demokraten vor. Das Tragische ist, dass diese zerstörerischen Werte bei den Demokraten den Aufstieg von Trump erst ermöglicht haben.  – Moore zeigt an sehr vielen Beispielen die zerstörerische Macht der ego-heroischen, autoritären Werte Meme.

Ein herausgegriffenes Beispiel: Unter dem Deckmantel von Freiheit und Markt wurde eine ganze Stadt an bleivergiftetes Trinkwasser angeschlossen, obwohl reines Wasser zur Verfügung stand. Damit konnten einige wenige viel Geld abschöpfen und zudem wurde dieses Verhalten durch deren Rassismus sanktioniert. Die Stadt besteht nämlich überwiegend aus Afroamerikanern. – Es wurde die Gesundheit von mehreren zehntausend Menschen auf Generationen hin geschädigt. Auch hier hat der sich selbst überlassene Markt nicht funktioniert: Er hat es nämlich nicht ermöglicht, dass die Einwohner der Stadt zu einem akzeptablen Preis sauberes Wasser erhalten haben. Die Republikaner haben diese Schandtat ermöglicht und die Demokraten, namentlich Barack Obama, haben es nicht verhindert und sogar nachträglich sanktioniert.

Betrachtet man die letzten Jahrzehnte, so kann man diese Liste mühelos erweitern: Dieselskandal, deutsche Banken Skandale, Kindesmissbrauch, sexuelle Übergriffe, Waffenexporte, massenweise Steuerhinterziehungen, usw. …

Betrachtet man dieses „böse“ Verhalten des Marktes, so sind immer zwei Aspekte von Bedeutung:

  • Ein unentwickeltes Mindset bei Individuen, Gruppen oder gesellschaftlichen Teilen (unentwickeltes Mindset bedeutet, dass die magischen, ego-heroischen und autoritären Werte Meme vorherrschen)
  • Systemstrukturen, die das „böse“ Verhalten begünstigen oder zumindest nicht verhindern

Liegen diese zwei Aspekte zusammen vor, entwickeln sich mittels Selbstorganisation „böse“ Systemstrukturen in bestimmten Gruppen oder gesellschaftlichen Teilen. Diese „bösen“ Systemstrukturen sind deswegen „böse“ weil sie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf breiter Basis auf Kosten der gesamten Gesellschaft massiv verletzen.

Es kann jedoch nicht darum gehen, eine „gute“ Selbstorganisation durch eine doktrinäre Umerziehung zu erzwingen oder Selbstorganisation durch immer mehr Regularien abzuwürgen. Ziel müsste es sein, eine gesellschaftliche Transformation einzuleiten, die durch eine kluge Governance, die eine „gute“ Selbstorganisation ermöglicht, reguliert wird. Man siehe auch den Blogbeitrag zur Politik 4.0 [6].

Im meinem nächsten Blog beschäftige ich mich weiter mit der Selbstorganisation des Marktes und möglichen Governance-Ansätzen.

 

[1] FAZ (2020) HOENESS VERTEIDIGT TÖNNIES: „Das kann es nicht sein“, https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/uli-hoeness-verteidigt-clemens-toennies-nach-corona-skandal-16837550.html, zugegriffen am 07.02.2020

[2] Blome Nikolaus (2020) Billig ist nicht böse, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/fleischindustrie-billig-ist-nicht-boese-kolumne-a-9e513549-d37a-43b1-9ee9-75f3de7559d1, zugegriffen am 07.02.2020

[3] Oswald Alfred (2020) Denken lernen: „Durch Umgang und Erfahrung lässt sich in der modernen komplexen Gesellschaft in vielen Lebensbereichen kaum etwas erlernen.“!, https://agilemanagement40.com/denken-lernen-durch-umgang-und-erfahrung-laesst-sich-in-der-modernen-komplexen-gesellschaft-in-vielen-lebensbereichen-kaum-etwas-erlernen, zugegriffen am 07.02.2020

[4] Exclusiv im Ersten (2020) Boeing – Das tödliche System, https://www.ardmediathek.de/ard/video/reportage-und-dokumentation/exclusiv-im-ersten-boeing-das-toedliche-system/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuL2MwMDBkNzE3LTQ4NzMtNDI3Ny04N2Q2LWM4ZjY4MmY3NGJlMA/, zugegriffen am 02.07.2020

[5] Moore Michael (2020) Fahrenheit 11/9, https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/fahrenheit-11-9-von-michael-moore–100.html, zugegriffen am 02.07.2020

[6] Oswald Alfred (2019) Politik 4.0: Politik im Angesicht von Komplexität und Selbstorganisation, von Schmetterlingseffekt, Tipping Point und selbstorganisierter Kritikalität, https://agilemanagement40.com/politik-4-0-politik-im-angesicht-von-komplexitaet-und-selbstorganisation-von-schmetterlingseffekt-tipping-point-und-selbstorganisierter-kritikalitaet, zugegriffen am 02.07.2020

Management 4.0 und Megatrends: Konnektivität, New Work, Wissenskultur

Vor Kurzem haben sich die Fachgruppenleiter der GPM Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement getroffen. Ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt war die Auswirkungen der Megatrends für das Projektmanagement. Von den vom Zukunftsinstitut definierten Megatrends [1] werden insbesondere die Megatrends Konnektivität, New Work und Wissenskultur als wichtig für das Projektmanagement wahrgenommen.

Das Zukunftsinstitut schreibt hierzu [1]:

„Konnektivität ist der wirkungsmächtigste Megatrend unserer Zeit. Das Prinzip der Vernetzung dominiert den gesellschaftlichen Wandel und eröffnet ein neues Kapitel in der Evolution der Gesellschaft. Digitale Kommunikationstechnologien verändern unser Leben grundlegend, reprogrammieren soziokulturelle Codes und lassen neue Lebensstile und Verhaltensmuster entstehen. Um diesen fundamentalen Umbruch erfolgreich zu begleiten, brauchen Unternehmen und Individuen neue Netzwerkkompetenzen und ein ganzheitlich-systemisches Verständnis des digitalen Wandels.

…New Work beschreibt einen epochalen Umbruch, der mit der Sinnfrage beginnt und die Arbeitswelt von Grund auf umformt. Das Zeitalter der Kreativökonomie ist angebrochen – und es gilt Abschied zu nehmen von der rationalen Leistungsgesellschaft. New Work stellt die Potenzialentfaltung eines jeden einzelnen Menschen in den Mittelpunkt…

Der Megatrend Wissenskultur wirkt ungebrochen. Insbesondere das Zusammenspiel mit dem Megatrend Konnektivität verändert unser Wissen über die Welt und die Art und Weise, wie wir mit Informationen umgehen. …Komplexere, unvorhersehbare Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt und neue, kollaborative Formen der Wissensaneignung verlagern zudem den Fokus: hinzu lebenslangem Lernen…“

Zur Wissenskultur gehört das Thema Lernen und hier insbesondere die durch die Digitalisierung noch zu erwartenden Veränderungen. Ich war deshalb im Januar auf der LearnTec in Karlsruhe [2]. Schwerpunkt auf dieser Konferenz und Messe ist das Thema Digitalisierung des Lernens. Zu den digitalen Techniken gehören Lernmanagementsysteme, Augmented Reality, Virtual Reality, Diverse Chat Bot Techniken, Sprachübersetzungstechniken sowie Spiele, die Lernen unterstützen (Gamification). Die LearnTec Messe hatte dieses Jahr in Karlsruhe zwei große Hallen belegt und nächstes Jahr soll alleine für den Bereich Schule eine Halle neu hinzukommen.

Auf der Konferenz war Artifical Intelligence das dominante Thema. – Bei den Ausstellern auf der Messe war es noch nicht wirklich ein Thema. Verschiedene Vortragende waren sich einig, dass AI based learning in den nächsten Jahren kommen wird. – Hierzu zählen dann auch Training Bots und Coaching Bots. Für eine Zusammenstellung von Unternehmen, die hier an vorderster Front sind, verweise ich auf [3]. Das Thema Smart Learning Environment geht noch einen Schritt weiter: Lernräume werden mit Sensoren und Actoren ausgestattet, die das Lernen über von digitalen Systemen wahrgenommene Verhaltensweisen ( z.B. längeres Verweilen bei einem Satz oder (Fremd-) Wort, Augenbewegungen, Hautfärbung oder ähnliches) monitoren, den Lernenden auf dieser Basis individuell führen und dem Lehrer, Trainer oder Coach über People Analytics Informationen Eingriffsmöglichkeiten geben.

Bosch arbeitet an entsprechenden Lernumgebungen und von der TU Kaiserlautern wurde ein sehr beeindruckender Prototyp für das multimediale Lernen im Physikunterricht vorgestellt. – Je nachdem was die Sensoren mittels KI ermitteln, stellen Actoren die Lerninhalte ad hoc zusammen. Der Lehrer oder Trainer kann eingreifen, muss es aber nicht. Zusätzlich werden Informationen zu typischen Lernmustern aller Lernenden bereitgestellt.

Mittels „Leuchtürmen“, sogenannten Beacons oder Beacon-ähnlicher Technologie können Räume weiter smart gemacht werden. – Dies erlaubt u.a. die individuelle oder projektspezifische Bereitstellung von Informationen sobald Räume betreten oder verlassen werden [4].

Interaktionsräume für agile Projektteams könnten mit ähnlichen Techniken entsprechend weiter „aufgerüstet“ werden. – Ähnliche Ideen hierzu sind im Bereich People Analytics schon relativ alt (man siehe hierzu meinen Blog [5]), erfreuen sich aber in Datenschutz-orientierten Gesellschaft bisher (noch!) weniger Freunde.- Auch hier werden sich vermutlich Smart Working Environments oder Smart Project Environments etablieren. – Spätestens hier muss klar werden, dass Datenschutzgesetze alleine nicht ausreichen, sondern eine ganzheitliche Ethik gefordert ist, die nicht auf „Verliebtsein in Innovation, Erfolg und Geld“ ausgerichtet ist.

Der Jobfuturomat des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit [6] weist für Projektleiter einen Digitalisierungsanteil von ca. 33 % aus, für Manager einen Anteil von 25%. Details der Analyse sind leider nicht transparent verfügbar. – So wird nicht wirklich klar, ob damit z.B. 33% der Projektleiteraktivitäten durch die Digitalisierung ersetzt wird oder 33% durch die Digitalisierung verändert wird. – Es ist von Automatisierung die Rede.
Mediatoren, Verhaltenstrainer/Kommunikationstrainer sollen hiernach einen Digitalisierungsgrad von 0% haben. – Die LearnTec lässt auch für diese letzte Berufsgruppe vermuten, dass sich das Berufsbild auch dieser Gruppe durch die Digitalisierung völlig verändern wird und enorme Möglichkeiten der Machtausübung damit verbunden sind.

Damit die Digitalisierung, wie Scobel sagt, nicht zu einer weiteren Entfremdung führt [7] oder wichtige Techniken der Selbstführung, wie diejenige der Achtsamkeit oder Meditation missbraucht werden [8], ist es notwendig, die Megatrends durch eine tiefgreifende Werteorientierung oder Ethik zu regulieren. Unreguliert führen sie zu vermeintlich schönen Hüllen: New Work ist nämlich nicht in erster Linie die Gestaltung von neuen mobilen, smarten oder work-life-balance Arbeitsumgebung, sondern wie wir im Management 4.0 sagen, eine an den menschlichen Grundbedürfnissen ausgerichtet Arbeit, bei der die Sinnfrage in jeder Hinsicht den nachhaltigen Bezugsrahmen setzt. – Im vorherigen Blog habe ich hierfür den Begriff Glück verwendet. – Unternehmen, die die Systemparameter des Unternehmens nicht so ausrichten, dass sie damit aktiv zum Glück der Mitarbeiter beitragen, praktizieren kein New Work [9,10].

Deshalb praktizieren Fluide Organisationen 4.0 Selbstorganisation und! wollen sich bewusst in Richtung einer Ethik mit türkisenen value-Memen entwickeln (d.h. insbesondere: ganzheitlich, nachhaltig, menschlich, naturverbunden). Man siehe hierzu meinem Blog [11] und auch den Beitrag „Interaction Patterns for the Digital Transformation“ in [9].

Schon Marx hat die Mechanismen der Selbstorganisation erkannt [12] und diagnostiziert, dass diese Mechanismen im 19ten Jahrhundert nicht an den menschlichen Grundbedürfnissen ausgerichtet waren. An verschiedenen Stellen im Blog habe ich darauf hingewiesen, dass die Selbstorganisation ein universelles Phänomen ist und damit nicht zwischen Gut oder Böse unterscheidet. Wie die Achtsamkeit auch, benötigt die Selbstorganisation eine Ethik.- Es ist also wichtig, zwischen der Selbstorganisation und einem ethischen Rahmen zu unterscheiden. Wenn wir von Selbstorganisation 4.0 sprechen, dann meinen wir eine Selbstorganisation, die auf den universellen Prinzipien beruht und die türkisenen value-Meme lebt. Diese Ethik wird umso wichtiger, als die Selbstorganisation mittels smarter Techniken unterstützt wird!

Wie ich im Blog über Davos [13] skizziert habe, sind meines Erachtens die Top-Führungskräfte der europäischen Unternehmen und Politik sowohl von dem Verständnis der Selbstorganisation als auch dem einer türkisenen Ethik sehr weit entfernt. Und damit schließt sich der Kreis wieder: Die Potentiale, die sich durch die Megatrends Konnektivität, New Work und Wissenskultur ergeben, können nicht gehoben werden. – Es besteht vielmehr das Risiko, dass die Megatrends unter diesen Bedingungen zur Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt werden.   

 

[1] Zukunftsinstitut (2020) https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrends/, zugegriffen am 27.02.2020

[2] Leantec (2020) https://www.learntec.de/de/, zugegriffen am 27.02.2020

[3] AI in education (2020) https://builtin.com/artificial-intelligence/ai-in-education, zugegriffen am 27.02.2020

[4] Beacon (2020) https://de.ryte.com/wiki/Beacon, zugegriffen am 27.02.2020

[5] Oswald Alfred (2019) #PAFOWLondon – People Analytics & Future of Work – Deutschland, wo bist Du?, https://agilemanagement40.com/pafowlondon-people-analytics-future-of-work-deutschland-wo-bist-du

[6] Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (2020) https://job-futuromat.iab.de/, zugegriffen am 27.02.2020

[7] Scobel Gert (2020) Marx – wie sieht Entfremdung heute aus?, https://www.youtube.com/watch?v=FWhszTgMdec, zugegriffen am 27.02.2020

[8] Scobel Gert (2020) Achtsamkeit kann auch gefährlich sein, https://www.youtube.com/watch?v=QukUtDNeQ1I, zugegriffen am 27.02.2020

[9] Oswald A, Müller (Hrsg.) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3, BoD Verlag, Norderstedt

[10] Lutze Matthias, Schaller Philipp D., Wüthrich Hans A. (2019) New Work, Zurück in die Zukunft der Motivation, Zeitschrift Führung +Organisation 6/2019

[11] Oswald Alfred (2019) Projekte neu gedacht: Entwicklungsstufen, Selbstorganisation und Co-Evolution, https://agilemanagement40.com/projekte-neu-gedacht-entwicklungsstufen-selbstorganisation-und-co-evolution, zugegriffen am 27.02.2020

[12] Oswald Alfred (2018) Karl Marx und die Theorie der Selbstorganisation, https://agilemanagement40.com/karl-marx-und-die-theorie-der-selbstorganisation

[13] Oswald Alfred (2020) Vom Davos-Kindergarten der Führung, oder…Vom Systemwandel und der globalen Revolution der Führung!, https://agilemanagement40.com/vom-davos-kindergarten-der-fuehrung-odervom-systemwandel-und-der-globalen-revolution-der-fuehrung, zugegriffen am 27.02.2020

 

 

 

Fluide Organisation 4.0 – Die „fast“ ideale Organisationsform!

Von der natürlichen Evolution wissen wir, dass es das ideale Lebewesen, das in allen Kontexten überlebensfähig ist, nicht gibt. Leben bildet sich passend zum vorherrschenden Kontext, d.h. zur Umwelt, aus. Es passt sich entsprechend seiner inneren Möglichkeiten fortwährend an diesen an. Lebewesen überleben, wenn die inneren Möglichkeiten, also die jeweiligen Fähigkeiten, zum Kontext passen. Im Management 4.0 sagen wir, dass das Lebewesen über hinreichende Agilität verfügt, den Kontext wahrzunehmen. Es passt seine innere Komplexität so an, dass es die kontextuellen Gegebenheiten für sein Überleben ausnutzt. Hieraus leitet sich die Frage ab: „Gibt es eine Organisationsform, die es Organisationen ermöglicht, ihren jeweiligen Kontext in möglichst vielen Facetten wahrzunehmen, um die innere Komplexität schnell und flexibel anzupassen, um das Überleben zu sichern?“ – Vor kurzem hat Conny Dethloff auf Linkedin eine ähnliche Frage gestellt: „Gibt es eine passfähige primäre Organisationsform?“ [1].

Beginnend mit den Jägern und Sammler, wird die soziale Evolution von einer zunehmenden Funktionalisierung unserer Gesellschaft geprägt: Steine werden zu Werkzeugen, später werden Metalle zu Werkzeugen; immer mehr Werkzeuge erzeugen immer mehr Werkzeuge: Die Werkzeuge werden zu etwas Bestimmtem genutzt und erfüllen damit eine Funktion. – In der Moderne werden Menschen in funktionalen Organisationen zu „Werkzeugen“ organisiert: Die Vertriebsorganisation macht Vertrieb, die Produktionsorganisation produziert ein oder mehrere Produkte… Sie alle erfüllen eine Funktion. – Unsere Wahrnehmung schränkt sich nahezu automatisch auf die Erfüllung dieser Funktion ein. Es erfolgt eine zunehmende Spezialisierung.

Vor kurzem nimmt Christian Stöcker in der Spiegel Kolumne Stellung zu einem Beispiel (verdeckter) Funktionalisierung [2]: Er schildert, wie sich der derzeitige Lufthansa-Chef massiv darüber wundert, dass niemand bereit ist, den CO2 Ausstoß des eigenen Fluges durch Geld (es ist von ca. 360 € die Rede) zu kompensieren. Stöcker wundert sich seinerseits, dass der Lufthansa-Chef, sich wundert und nicht bereit ist, dafür zu sorgen, dass seine Flotte weniger CO2 ausstößt. – Und dass er nicht bereit ist, bis zur Reduktion des CO2 Ausstoßes, die Kompensation durch die Lufthansa selbst aufzubringen. Dies ist ein extremes Beispiel für Funktionalisierung: Der Lufthansa-Chef nimmt offensichtlich den Standpunkt ein, dass er eine Serviceleistung, eine Funktion, erbringt und dafür möchte er zu Recht Geld bekommen. Die Werkzeuge, also u.a. die Flieger, die er hierzu benutzt, gehören nicht zu seinem Funktionsbereich, darum sollen sich andere kümmern.

Man kann an diesem Beispiel auch erkennen, dass dieses Denken bzw. dieses Mindset sehr stark an entsprechende Werte geknüpft ist: Erfolgs- bzw. Geld-Orientierung ohne die geringste Verantwortungsübernahme für die mit diesem Erfolg verbundenen Konsequenzen für unsere Umwelt… Ähnliche Beispiele lassen sich nahezu beliebig in anderen Branchen finden: Herstellung und auch Verwendung von Autos, Herstellung von Textilien für Modeketten, Herstellung von Nahrungsmitteln und die Konsequenzen für Umwelt und Tier, Handel mit Finanzderivaten der großen deutschen Banken usw..

Es ist auch nicht verwunderlich, wenn entsprechende Vorstände Agiles Management einführen wollen, um genau diese Funktionalisierung weiter am Leben zu erhalten: Agiles Management ist aus deren Perspektive ein weiteres Werkzeug, um schneller und flexibler Erfolg zu haben und Profit zu machen. Der mit dem Agilen Management verbundene Paradigmenwechsel wird noch nicht einmal ansatzweise verstanden, also insbesondere: Handeln gemäß Integraler Werte, Reduktion des Work-in-Progress, Ausrichtung am Sinn der Arbeit.      

Da die Umwelt nach wie vor als unerschöpflich wahrgenommen wird – „so schlimm wird es schon nicht sein“ – beutet man die vorhandenen Ressourcen (Luft, Wasser, Boden, Bodenschätze, Menschen) einfach aus, um die gesellschaftlichen Strukturen funktional zu erhalten und weiter auszugestalten.  Die innere Komplexität einer Organisation wird über Funktionalität an den Kontext Markt angepasst. Solange die Ausgestaltung der internen Komplexität in Struktur und Dynamik mit der externen Komplexität annähernd mithalten konnte, war „Agilität durch Funktionalität“ das vorherrschende Organisationsparadigma. Doch es ist schwierig in diesem Organisationsparadigma „ein Schauen über den Tellerrand“ oder gar „ein Wahrnehmen von Zusammenhängen“ zu etablieren. Innovationen werden deshalb außerhalb der funktionalen Organisationsformen durch Projekte erbracht und wieder in die funktionalen Organisationen eingebracht. Dies Alles ist sehr mühsam und wenig agil: Die alten Funktionen wehren sich gegen die neuen (in Projekten erbrachten) Funktionen, denn sie wollen nicht „sterben“. – Die Funktionen bestimmen unser Denken, unser Mindset, und unser Mindset bestimmt unsere Funktionen. Mit jeder neuen Funktion erhöhen sich die (unvorhergesehenen) Abhängigkeiten: Die ungewollte! Vernetzung steigt. Die funktionale Organisationsform, die uns ohne Zweifel viel ermöglicht hat, stößt immer mehr an ihre Grenzen. Um Agilität also Lebensfähigkeit zu erhalten, ist eine neue Leit-Organisationsform notwendig: Sie muss ermöglich, dass die Organisation sich leicht an den Kontext anpassen kann, Temporalität und gleichzeitig Stabilität ermöglichen, sowie Crossfunktionalität beinhalten und Innovation erzeugen. Überwiegend stabile funktionale Anforderungen werden in entsprechende Organisationen „ausgelagert“, die vermutlich zunehmend durch robotergestützte Organisationen abgelöst werden. – Die digitale Technik ist der „Katalysator“ dieser (Digitalen) Transformation.

Für uns Menschen „übrigbleibt“ die temporäre Fluide Organisation: D.h. es werden temporäre Organisationen, die für eine gewisse Zeit stabil sind, aufgebaut und zu Netzwerken von Organisationen „zusammengeschaltet“. Für die Zeit der organisationalen Stabilität führen die Organisationen Aufgaben oder Projekte durch, um danach durch neue temporäre Organisationen für neue Aufgaben und Projekte abgelöst zu werden. – Die heute noch oft gepflegte „Feindschaft“ von Aufgaben für die Linienorganisation und Aufgaben für Projekte wird gegenstandslos. Im Management 4.0 sprechen wir von Fluiden Organisationen 4.0. Abbildung 1 illustriert die Organisationsform Fluide Organisation 4.0.

Abbildung 1: Fluide Organisation 4.0

Diese Organisationsform baut sich aus selbstorganisierten Teams auf. Die selbstorganisierten Teams bilden emergente Strukturen aus, die mittels teamspezifischer Systemparameter, den Rahmenparametern (RP), Kontrollparametern (KP) und Ordnungsparametern (OP) beschrieben werden. Die Teams werden wiederum zu Teams-of-Teams zusammengefasst, die ihrerseits mit Teams-of-Teams spezifischen Systemparametern beschrieben werden, usw. … bis die gesamte Organisation abgedeckt ist. Man kann unschwer die in den Scaled Agile Frameworks (z.B. SAFe oder LeSS) verwendete Teams-of-Teams Struktur, oder die im Critical Chain Project Management verwendete Project-of-Project Struktur oder die in Holacracy verwendete Circle-of-Circle Struktur wiedererkennen. Wie die Systemparameter RP, KP und OP ausgestaltet werden, ist Framework-spezifisch.

Im Management 4.0 gehen wir davon aus, dass die gesamte Organisation der Selbstorganisation unterliegen sollte. Die Systemparameter der Selbstorganisation bilden also ein „Parameter-Netzwerk“, das auf allen organisationalen Ebenen horizontal wie vertikal entsprechend abzustimmen ist. – Dies ist eine sehr anspruchsvolle Führungsaufgabe. – Der OKR Ansatz ist ein Beispiel, diese Systemparameter auszugestalten [3]. Story Maps sind Beispiele für die Struktur von Ordnungsparametern (OP). In [4] haben wir gezeigt, dass nicht alle o.g. genannten Frameworks gleich gut das Kriterium der Selbstorganisation erfüllen. Als Maß für den Grad der Selbstorganisation in den Frameworks benutzen wir die Organisationsperformance, die von der (mittleren) Teamperformance und der Skalierungsperformance abhängt. – Ich verweise hierfür auf [4].

Im Titel habe ich von der „fast“ idealen Organisationsform gesprochen: Der Mensch ist das selbstorganisierte System, schlechthin. – Und auch das kann man über Systemparameter der Selbstorganisation modellieren: In der obigen Abbildung erhielte jeder Mensch auch eigene RP’s, KP’s, OP’s: Jeder Mensch lebt in seinen eigenen Kontexten, er verfügt über sein Temperament, seine Motive, Werte und Glaubenssätze und er versucht seinem Leben dem ihm eigenen Sinn zu geben. – Man siehe hierzu auch den letzten Blogbeitrag Metakompetenz Selbstorganisation 4.0.

Sobald jedoch mehrere oder gar viele Menschen ins Spiel kommen, ist man gezwungen der unglaublichen Anzahl an Freiheitsgraden Rechnung zu tragen. – Es ist nicht mehr möglich, eine ideale „Ausrichtung“ aller Systemparameter zu erhalten. – Die Organisationsform Fluide Organisation 4.0 wird zur „fast“ idealen Organisationsform. – Es ist die Aufgabe der Agilen Führung 4.0 diese Lücke möglichst gut zu schließen.    

[1] Conny Dethloff (2019) Die passfähige primäre Organisationsform, https://www.linkedin.com/posts/conny-dethloff-6b9b0942_ich-habe-gerade-meinen-beitrag-zu-einem-buchprojekt-activity-6609675046090747904-J0R-/

[2] Stöcker Christian (2020) Wir machen‘ s kaputt, und Ihr bezahlt, Spiegel.de, 12.01.2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/klimaschaedliche-firmen-wir-machen-s-kaputt-und-ihr-bezahlt-kolumne-a-c8f0e3c3-2f5f-4817-b16e-36d6097e58d5

[3] Wikipedia (2020) OKR’s https://de.wikipedia.org/wiki/Objectives_and_Key_Results

[4] Oswald A, Müller (Hrsg.) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3, BoD Verlag, Norderstedt

Metakompetenz Selbstorganisation 4.0

Wie schon im vorherigen Blogbeitrag angesprochen, biete ich, in Kooperation mit meiner Kollegin Sonja Armatowski, ab 2020 erstmalig Seminare und Lerncoaching für das Thema „Metakompetenz Selbstorganisation 4.0“ an.

Auch die Personalentwicklung beschäftigt sich mit den Themen Agilität, Lernen und Selbstorganisation. Das kürzlich erschiene Buch ‚Agiles Lernen‘ von Graf, Gramß und Edelkraut gibt hierzu einen guten Einstieg [1]. Die Autoren definieren Metakompetenz wie folgt: „Metakompetenzen sind Kompetenzen, die jeder Mitarbeiter – unabhängig von seinem Job – im Rahmen der veränderten Arbeitswelt haben sollte, um erfolgreich und gesund zu bleiben. In den 1990er Jahren war das im Zuge der ersten Projekte die Kompetenz ‚Teamfähigkeit‘.“ – Achtung: Mit dieser Definition zu Metakompetenz könnte man auch Deutsch- oder Englischkenntnisse als eine Metakompetenz verstehen.

Die Autoren weisen auch auf eine erst kürzlich durchgeführte Befragungsstudie zum Thema Metakompetenz hin. Derzeit sind (lediglich) die Studienergebnisse verfügbar [2]. Hiernach werden die Metakompetenzen in Elementare Metakompetenzen, Notwendige Metakompetenzen und (von den Befragten) Ausgeschlossene Kompetenzen unterteilt: Zum Beispiel sind Selbstorganisation und Resilienz hiernach Elementare Metakompetenzen, Selbstwirksamkeit und kritisches Denken Notwendige Metakompetenzen sowie Achtsamkeit und Transdisziplinarität sind Ausgeschlossene Metakompetenzen. Man beachte, dass diese Aussagen aus einer Befragungsstudie stammen und damit der „Regression zum Mittelwert“ unterliegen.  Meines Erachtens können die Ergebnisse damit keinen Anspruch auf „tiefergehende“ Erkenntnisse haben. – Denn man kann sich beispielsweise fragen, wie sich Resilienz aufbauen kann ohne die ausgeschlossene Kompetenz Achtsamkeit. – Man siehe hierzu u.a. die youtube-Videos von Lesch und Scobel [3], [4]. – Man kann sich zum Beispiel auch weiterhin fragen, wie man Agilität und Kreativität ausbilden kann, ohne Fokus und Offenheit, den Kernelementen der Achtsamkeit und der Agilität.

Die Studie gibt stattdessen wertvolle Hinweise für das verbreitete Verständnis des Begriffes Metakompetenz. – So wird dort unter anderem Selbstorganisation vermutlich gemäß dem üblichen Verständnis benutzt, also „wir organisieren uns selbst“. Dieses Verständnis erfolgt ohne Rückgriff auf das aus der Komplexitätsforschung seit Jahrzehnten bekannte Verständnis „Selbstorganisation basiert (wahrscheinlich) auf universellen Prinzipien und führt zu emergenten Phänomen und Prozessen, die sich in komplexen Systemen ausbilden“. – Dieses Verständnis liegt Management 4.0 zu Grunde [5], [6].       

In [5] definieren wir Metakompetenz wie folgt: Metakompetenz bedeutet die Ausprägungen der eigenen Persönlichkeit, die der Kommunikationspartner und der Organisationen entlang der jeweiligen Mindsets souverän wahrzunehmen und einzuordnen. Also nicht nur das Verhalten zu sehen, sondern den Kontext, in dem dieses Verhalten gezeigt wird und die damit verbundenen Ausprägungen der höheren logischen Ebenen (Anm.: logische Ebene der Dilts Pyramide als Modell eines individuellen oder organisationalen Mindsets). Es bedeutet auch, sich falls notwendig (in Gedanken) aus dem jeweiligen System herauszunehmen und das System über externe Wahrnehmungspositionen (Meta-Wahrnehmungs-positionen) zu beobachten.

Mit der Perspektive „Selbstorganisation“ bedeutet „Ausprägungen der eigenen Persönlichkeit, die der Kommunikationspartner und der Organisationen entlang der jeweiligen Mindsets souverän wahrzunehmen und einzuordnen“ die jeweiligen Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter wahrzunehmen und deren Wechselwirkung in komplexen Systemen und Systemen von Systemen einzuordnen und selbst im Rahmen der Möglichkeiten zu gestalten.

Damit widerspricht diese Definition nicht der in [1] vorgeschlagenen Definition, jedoch ergibt sich hieraus eine völlig andere Perspektive. Um diese Perspektive zu verdeutlich zitiere ich die aus [5] entnommene Erläuterung zu den vier Stufen des Lernens nach Gregory Bateson. Dieses Modell zu den Lernstufen dient nämlich der praktischen Umsetzung der obigen Definition zur Metakompetenz [5]:  

Der Systemtheoretiker Gregory Bateson unterscheidet vier Stufen des Lernens (kurz Lernstufen), die Dilts, DeLoizier und Bacon Dilts in [7] den logischen Ebenen der Dilts Pyramide zugeordnet haben (Anm.: man siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Dilts Pyramide und die Stufen des Lernens nach Bateson

Wir erläutern die Stufen des Lernens nach Bateson an Hand des Lernens im Projektmanagement eines fiktiven Projektleiters Paulchen, der sich zum exzellenten Projektleiter Paul entwickelt:

Lernen null:

In der Stufe „Lernen null“ liegt kein Lernen vor, der Mensch verfügt über ein Repertoire an Verhaltensmustern, die er stets anwendet, gleichgültig um welche Situation es sich handelt.

Beispiel: Projektleiter Paulchen verwendet immer wieder das gleiche Verfahren, um ein Projekt durchzuführen.

Lernen I:

In der Stufe I werden in geringem Umfang die Verhaltensmuster angepasst oder angereichert.

Beispiel: Projektleiter Paulchen hat von agilen Methoden gehört und reichert seine Planung hiermit an. Er hat sich nicht bewusst gemacht, in welchem Kontext agile Methoden sinnvoll sind und wann nicht.

Lernen II:

In der Stufe II beginnt sich erstmals eine schwache Metakompetenz auszubilden. Der Kontext und die für den Kontext sinnvollen Verhaltensweisen und die dazugehörigen relevanten Fähigkeiten werden erkannt. Verhaltensmuster aus anderen Situationen werden übernommen und die Fähigkeiten entsprechend erweitert.

Beispiel: Projektleiter Paulchen erkennt, dass seine Planungsmethode in dem einen Kontext zu einem besseren Projektergebnis führt, jedoch in einem anderen Kontext zu schlechteren Ergebnissen. Paulchen überprüft zukünftig den Projektkontext und wählt seine Planungsmethode entsprechend aus.

Lernen III:

In der Stufe III beginnt die Metakompetenz sich zu entfalten. Die eigene Persönlichkeit wird in ihren Facetten wahrgenommen. Der Mensch erkennt sein Temperament und seine Motive und die daraus resultierenden Verhaltensmuster. Glaubenssätze, Grundannahmen und Werte werden erkannt und das eigene System an Überzeugungen und Werten kann nach Bedarf tiefgreifend verändert und nach Bedarf komplett ausgetauscht werden. Der Mensch hat die Fähigkeit, für ihn völlig neue Muster anderer Personen zu erkennen, zu modellieren und anzuwenden.

Beispiel: Projektleiter Paul erkennt welche Werte und Glaubenssätze ihn geleitet haben, seine Projektplanungsmethode einzusetzen. Er überprüft welche Prinzipien in welchem Projektkontext sinnvoll sind und wählt seine Projektmethodik entsprechend aus.

Lernen IV:

In der Stufe IV hat sich die Metakompetenz vollständig ausgebildet. Der Mensch ist in der Lage aus sich als einem System, aber auch aus anderen Systemen wie Team, Organisation oder Gesellschaft „herauszutreten“ und diese Systeme wie von außen zu betrachten. Der Mensch tritt damit in das umfassendere System der Systeme ein. Auf dieser Stufe des Lernens wird ein Zustand der Offenheit und Verbundenheit mit dem „großen Ganzen“ erreicht. Stufe IV hat damit auch eine eindeutig transzendente Dimension.

Beispiel: Paul ist inzwischen Senior Projektleiter geworden und erkennt, dass selbst der souveräne Einsatz eines Portfolios von Projektmethodiken im Kontext von Unsicherheit und Ungewissheit zu schlechten Projektergebnissen führen kann. Er stellt sich die Frage „Welche völlig neuen Ansätze sind notwendig, um zu lernen, mit Unsicherheit und Ungewissheit umzugehen?“ Durch die Synthese von theoretischen Überlegungen, Hypothesenbildung, experimentellem Handeln und entsprechender Korrektur seines Handelns kreiert er eine neue Art von Projektmanagement.

Aus dieser Darstellung kann man entnehmen, dass „Meta“ bedeutet, die Stufen der Dilts Pyramide zu erklimmen: „Probleme kann man niemals auf derselben Ebene lösen, auf der sie entstanden sind“, entsprechend dem Bonmot von Albert Einstein.

Das Erklimmen der Stufen des Lernens ist auch !! ein emergenter Prozess der Selbstorganisation unserer komplexen neuronalen Gehirnstruktur und der damit verbundenen Körperfunktionen: Demjenigen, dem das Bild der Pyramide zu statisch ist, der möge sich zum Beispiele eine Rakete vorstellen, deren verschiedene Stufen gezündet haben müssen, damit sich die Rakete ihrem Ziel der „Metakompetenz Selbstorganisatin 4.0“ näheren kann. Selbstorganisation 4.0 ist eine Metakompetenz im Sinne von [3], in dem sie die Muster der Selbstorganisation auf allen Ebenen des Seins erkennt und durch geeignete Interventionen beeinflusst. In diesem Sinne ist sie die Basis für das Handeln in komplexen Systemen, sie emergiert aber erst, wenn eine ganze Reihe von Kompetenzen erfüllt sind. – In diesem letzteren Sinne ist sie keine Elementare Kompetenz, sondern eine sich entwickelnde Kompetenz.   

Abbildung 2 verwendet u.a. die in [2] vorgeschlagenen Kompetenzen ergänzt um die Kompetenzen, die wir für nötig erachten, damit sich eine (persönliche) Selbstorganisation 4.0 emergent ausbildet und zu einer Metakompetenz wird.

Abbildung 2: „Rakete“ Selbstorganisation 4.0

Auch hier noch eine Anmerkung zur Bedeutung von „Meta“: Nach [2] gehört die Transferfähigkeit zu den Notwendigen Metakompetenzen, jedoch Transdisziplinarität zu den Ausgeschlossenen Metakompetenzen. Komplexe Systeme, die heute vielfach aus natürlichen, sozialen und technischen Subsystemen bestehen erfordern jedoch ein „out-of-the-box“, „out-of-the-silo“ oder „out-of-the-ideology“ Denken: Die großen Themen unserer Zeit wie Klima, Digitalisierung oder Ungleichheit lassen sich nicht mehr mittels Disziplinarität auflösen, sie sind vielfach gerade hierdurch entstanden: Z.B. tobt in der Ökonomie  zwischen unterschiedlichen Denksilos seit Jahrhunderten der Kampf zwischen „der guten unsichtbaren Hand des Marktes“ und „der Zügelung des bösen Marktes durch den guten Staat“. – Meines Erachtens ein Paradebeispiel für die Auflösung der Denksilos durch die Anwendung der Metakompetenz Selbstorganisation. Oder: Die Abstraktion von Mustern und Prinzipien der Psychologie und Neurowissenschaften und entsprechende Anwendung in der Informatik und vice versa, haben erst die enormen Erfolge der AI und der Neurowissenschaften möglich gemacht. Falls jedoch über Transdisziplinarität keine integrative Perspektive, zum Beispiel zu den gesellschaftlichen Auswirkungen, hinzukommt, werden uns, über kurz oder lang, aus der AI neue Probleme erwachsen. Auch in diesem Sinne ist „Meta“ als ganzheitlich integral zu verstehen.   

Wie man unschwer aus der Abbildung 2 „Rakete“ Selbstorganisation 4.0 erkennen kann, müssen relativ viele Kompetenzen zusammenkommen, damit sich die Metakompetenz Selbstorganisation 4.0 entwickeln kann. Die Abbildung 2 suggeriert möglicherweise bei dem ein oder anderen einen linearen Prozess, in dem nacheinander alle Kompetenzen der Reihe nach abgehakt werden. – So ist die Abbildung 2 nicht zu verstehen: Im Komplexen, und wir Menschen sind komplex, können kleine Änderungen (man siehe zum Schmetterlingseffekt die anderen Blog Beiträge) plötzlich und unerwartet die gesamte Rakete zum Fliegen bringen. In unserem Trainingsangebot berücksichtigen wir diese Erkenntnis, in dem wir Lerncoaching anbieten: In einem zweitägigen Seminar legen wir die Grundlage für den Treibstoff und das Zünden der Rakete. Möglicherweise zündet die Rakete noch nicht im Seminar. In den meisten Fällen zündet die Rakete wahrscheinlich erst später. Das Vermittelte wird durch weitere Reflektion und Übungen zum Fliegen gebracht. Durch geeignete Interventionen des Lerncoaches und vor allem durch „zufällige“ Ereignisse im Leben des Coachee entfaltet sich dann die bewusst herbeigeführte Selbstorganisation des Coachee „wie von selbst“.

Wir bieten das Erlernen der Metakompetenz Selbstorganisation als offenes Seminar mit dem Produktnamen SelbstOrganisation Genius (SO Genius) und als Inhouse Seminar für Teams und Organisationen mit dem Produktnamen SO Collective Mind an. – SO Genius und SO Collective Mind können beide zusätzlich mit Lerncoaching für die anschließende Prozessbegleitung (SO Genius + und SO Collective Mind +) gebucht werden. Die SO Genius Termine sind auf der Internetseite von Sonja Armatowski zu finden [8]:

  • SO Genius, im Wald Hotel in Heiligenhaus (Nähe Essen) vom 18.05.2020 bis 19.05.2020 [keine Buchung mehr möglich]
  • SO Genius, im Kloster Heiligkreuztal in Altheim (Schwäbische Alb) vom 22.06.2020 bis 23.06.2020 [keine Buchung mehr möglich]
  • SO Genius, im Kloster Heiligkreuztal in Altheim (Schwäbische Alb) vom 28.09.2020 bis 29.09.2020 [keine Buchung mehr möglich]
  • SO Genius, im Kloster Heiligkreuztal in Altenheim (Schwäbische Alb) vom 08.10.2020 bis 09.10.2020 [keine Buchung mehr möglich]

Das Inhouse Seminar für Teams und Organisationen SO Collective Mind bzw. SO Collective Mind + bieten wir auf Anfrage firmenspezifisch an: Bitte schreiben Sie bei Interesse eine eMail an info(at)socialtechnologies.de.

[1] Graf N, Gramß D, Edelkraut F (2019) Agiles Lernen – Neue Rollen, Kompetenzen und Methoden im Unternehmenskontext, 2. Auflage, Haufe Verlag

[2] Metakompetenzstudie (2019) https:// selbst-gmbh.de

[3] Lesch H, Scobel G (2019) Achtsamkeit: Hype oder Heil? https://www.youtube.com/watch?v=Y6iOExsSVxE&feature=push-fr&attr_tag=meUEqo6DaYzLCCwN%3A6

[4] Scobel G (2019) Achtsamkeit – was ist das eigentlich? https://www.youtube.com/watch?v=c259e3BmxiE

[5] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos, Springer

[6] Oswald A, Müller (Hrsg.) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3, BoD Verlag, Norderstedt

[7] Dilts RB, DeLozier J, Bacon Dilts D (2013) NLP II – die neue Generation: Strukturen subjektiver Erfahrung – die Erforschung geht weiter. Junfermann Verlag

[8] Sonja Armatowski (2019) www.armatowski.com