Im März 2025 erschien in Spektrum der Wissenschaft der Beitrag ‚Die Kernschmelze der Demokratie – Erosion politischer Systeme‘ [1].
Der Spektrum der Wissenschaft Beitrag beruht auf einem wissenschaftlichen Artikel [2], in dem die Risikoerkenntnisse der Atomwirtschaft auf gesellschaftliche Risiken, insbesondere den Übergang von Demokratie zu Autokratie übertragen werden.
Abbildung 1 aus [2] visualisiert die wesentlichen Aussagen zur sogenannten Drift-to-Danger Theorie. Hiernach ist der Übergang Demokratie-Autokratie von folgenden Faktoren gekennzeichnet:
- Der Verletzung von Normen durch Eliten (u.a. Lügen, Verschwörungstheorien, Negieren von wissenschaftlichen Erkenntnissen, u.ä.)
- Die Schwelle zur Autokratie (durchgezogene rote horizontale Linie) ist durch eine Reihe von Sicherheitsschichten (dünne rote Linien) geschützt. Verhaltensbezogene Normen und Maßnahmen unterstützen diese Sicherheitsschichten. Falls jedoch diese erodieren, also z.B. ein Teil der Presse die Verletzung der Normen unterstützt oder in der Gerichtsbarkeit ‚wohlwollende Richter‘ eingesetzt werden, driftet die Demokratie in Richtung Autokratie.
- Jeder Fall einer Sicherheitsschicht ist mit einem ‚Beinahe-Unfall‘ verbunden. Halten alle Sicherheitsschichten nicht mehr, kommt es zum Übergang zur Autokratie.

Abbildung 1: Drift-to-Danger Theorie angewendet auf den Übergang von einer Demokratie zur Autokratie [2].
Meines Erachtens ist das Thema des Übergangs Demokratie-Autokratie das wichtigste gesellschaftspolitische Thema unserer Zeit. Ausgelöst sicherlich durch die eindeutig autokratischen Maßnahmen der Trump Administration, und verstärkt durch die rechtsradikalen gesellschaftlichen Bewegungen in Europa.
Es ist mir völlig unverständlich, wie Menschen durch ihre Wahlstimme helfen können, dass sich Demokratien in Autokratien transformieren, da die Geschichte und das aktuelle Leid überall auf der Welt, hervorgerufen durch autokratische Systeme, Menschen eines Besseren belehren sollten.
Die amerikanischen Tech-Milliardäre haben im Rahmen der Trump Präsidentschaft gezeigt, dass moderne Technologien und eine offene am Menschen orientierte innere Haltung nicht unbedingt zusammengehören. – Deshalb halte ich inzwischen die Gefahr eines Übergangs Demokratie-Autokratie, die von solchen Personen ausgeht, mindestens für so groß wie diejenige, die von Trump selbst ausgeht. – In meinen Blog-Beiträgen ‚Rückwärtsgewandt in den Abgrund…oder… Entwickeln wir uns weiter!? vom November 2023‘, ‚Gesellschaftlicher Wandel – Sein oder Nichtsein? – Das ist hier die Frage! vom Mai 2020‘ und in ‚Cultural Entropy: Corona deckt unsere Werte auf, vom März 2020‘ bin ich auf die sogenannten limitierenden Bewusstseinsniveaus und die daraus resultierenden limitierenden Werte eingegangen. Hiernach tragen solche Limitierungen und die damit verbundene Polarisierung mittels Lügen, Negierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Verschwörungstheorien das Potential für Autokratie in sich. Gemäß dieser Blog-Beiträge haben die USA (schon seit längerem) ein deutliches Potential für Autokratie. – Jetzt ist dieses leider Realität geworden!
Autokratie „wird in der Politikwissenschaft [als] eine Herrschaftsform bezeichnet, in der eine Einzelperson oder Personengruppe unkontrolliert politische Macht ausübt und keinen verfassungsmäßigen Beschränkungen unterworfen ist“ [3]. – Eine sehr gelungene Darstellung zum Thema Demokratie-Autokratie findet sich in [4].
Bei einigen, die die Maßregelung von Vance und Trump gegenüber Selenskyj im Fernsehen verfolgten, stellt sich vielleicht die Erinnerung an das ein oder andere ‚Mitarbeitergespräch‘ ein. – Leicht abgewandelt lässt sich die Autokratie-Definition auch als Definition für autokratische Organisationen verwenden. – Eine Organisation oder ein Teil einer Organisation kann, hervorgerufen durch ihre Führungskräfte, einer Autokratie ähneln. In diesem Sinne sind mögliche Erkenntnisse dieses Beitrages auch auf organisationale oder institutionelle Systeme übertragbar.
In diesem Beitrag, und zukünftigen Beiträgen, will ich versuchen, dieses Phänomen mit Hilfe mathematischer Modelle etwas auszuleuchten. Ich benutze zur Gewinnung dieser Modelle und der daraus resultierenden Python Programme wieder ChatGPT4o1 als KI-Assistenzsystem.
Ich starte in diesem Blog-Beitrag mit einem einfachen phänomenologischen Modell. Die wichtigsten Formeln dieses Modells sind:





Die obigen Formeln stammen aus einer heuristischen Modellierung – das heißt, sie basieren nicht auf einer einzelnen wissenschaftlichen Quelle oder einem etablieren Standardwerk. Stattdessen habe ich – mittels ChatGPT 4o1 – verschiedene Ideen aus System- und Sozialdynamik aufgegriffen und auf einfache Weise in ein numerisches Modell übertragen.
Im Einzelnen:
- Autokratie = Stress – Ordnungswert (Demokratie)
- Diese Gleichung erfasst den politischen Zustand als Differenz zwischen „Stress“ (kritische Faktoren wie Polarisierung, mediale Radikalisierung etc.) und einem „demokratischen Ordnungsparameter“ (d.i. Ordnungswert (Demokratie) resultierend aus Zukunftsvertrauen, WerteKohaesion, Bedürfniskohaesion).
- Die Gleichung signalisiert: Wenn „Stress“ größer ist als der vorhandene Ordnungswert, wird das System eher autokratisch. Umgekehrt, wenn der Ordnungswert den Stress kompensiert, bleibt es demokratisch.
- Stress = (Polarisierung^2 + mediale Radikalisierung^1.5 + Vertrauensverlust^1.2 + Wirtschaftsprobleme) / 4
- Hier sind Exponenten wie 2, 1.5 oder 1.2 keine wissenschaftlich ermittelten Werte, sondern heuristische Größen, um den Effekt gewisser Variablen (z. B. Polarisierung) zu betonen.
- Beispielsweise wird Polarisierung^2 benutzt, um zu sagen: „Wenn Polarisierung ansteigt, wirkt sie überproportional auf den Stress.“
- „Wirtschaftsprobleme^1.0“ ist lediglich ein fester Wert in diesem Beispiel, um das Modell zu vereinfachen. Genauso könnte man andere Exponenten verwenden, wenn man davon überzeugt ist, dass Wirtschaft eine dominate Rolle beim Stress hat.
- Diese Parametrisierung ist nicht aus einer einzigen Quelle übernommen, sondern angelehnt an die Idee, dass manche Faktoren (Polarisierung, mediale Radikalisierung) über lineare Effekte hinaus die Gesellschaft polarisieren oder radikalisieren.
- Lineare Abzüge für Zukunftsvertrauen, WerteKohäsion und BedürfnisKohäsion
- Formeln wie WerteKohaesion = max(0, WerteKohaesion_init − c1 × Stress) stammen aus System Dynamics-Denkmustern, in denen man sagt: „Bei höherem Stress wird ein Teil der gesellschaftlichen Kohäsion aufgezehrt.“ – Die spezielle Formel implementiert eine Rückkopplung im System und erlaubt damit die explizite Modellierung von Nicht-Linearitäten.
- Die Faktoren (z. B. 0.5, 0.4, 0.3) sind ebenfalls heuristisch gewählt: Sie wurden so eingestellt, dass das Modell in manchen Situationen in die Autokratie kippt, in anderen stabil demokratisch bleibt. Eine wissenschaftliche Herleitung bräuchte empirische Studien, in denen man z. B. statistisch ermittelt, wie stark Stress tatsächlich das Zukunftsvertrauen, die WerteKohäsion und die BedürfnisKohäsion senkt.
- Ordnungswert (Demokratie) = (Zukunftsvertrauen + WerteKohaesion + BeduerfnisKohaesion) / 3
- Diese Formel ist eine Vereinfachung nach dem Motto: „Wir nehmen den Durchschnitt der drei reduzierten Variablen als Gesamtmaß für die ‘demokratischen Werte’ im System.“
- Man könnte alternativ gewichten (etwa 0.3 × Zukunftsvertrauen + 0.4 × WerteKohäsion + 0.3 × BedürfnisKohäsion), oder man könnte ganz andere Mechanismen nutzen.
Abbildung 2 zeigt einen möglichen Drift-Verlauf berechnet mit dem Modell und den oben genannten Parametern: Obwohl die Ordnungswerte hoch sind (WerteKohaesion=0.7, BedürfnisKohaesion=0.6, Zukunftsvertrauen=0.5 (alle Werte sind im Bereich 0 bis 1)), reicht dies nicht aus, um einen deutlichen Anstieg der Autokratie zu verhindern, da die Stressfaktoren ebenfalls oberhalb 0.5 liegen.

Abbildung 2: Die Modell-Simulation wurde mit folgenden Initialisierungswerten durchgeführt: WerteKohaesion=0.7, BedürfnisKohaesion=0.6, Zukunftsvertrauen=0.5, Polarisierung=0.6, Wirtschaftsprobleme=0.5, Mediale Radikalisierung=0.6, Vertrauensverlust=0.5.
Das V-Dem (The Varieties of Democracy Institute) der University of Gothenburg, Department of political science erhebt Daten zur globalen Demokratie-Autokratie Entwicklung und erkennt auch Drift-Muster in diesen [5].
Hiernach wird das obige Drift-Muster der Abbildung 2, als ‚diminished democracy‘ Muster bezeichnet. Mit Hilfe unseres Modells lassen sich auch die anderen Drift-Muster nachbilden.
Abbildung 2 zeigt das ‚reverted liberalization‘ Drift-Muster: Der Autokratie-Wert geht in einem Zeitfenster etwas zurück, um dann wieder anzusteigen.

Abbildung 3: Die Modell-Simulation wurde mit folgenden Initialisierungswerten durchgeführt: WerteKohaesion=0.45, BedürfnisKohaesion=0.45, Zukunftsvertrauen=0.45, Polarisierung=0.9, Wirtschaftsprobleme=0.9, Mediale Radikalisierung=0.8, Vertrauensverlust=0.9.
Zusammenfassend stelle ich fest: Die Drift-to-Danger Theorie ist eine sehr plausible Theorie, die aktuelle Demokratie-Autokratie Entwicklungen gut wiedergibt. Mit unserem einfachen phänomenologischen mathematischen Modell lassen sich reale Drift-Muster gut und plausible nachbilden. Wir haben damit eine gute Ausgangsbasis gewonnen, um das vorliegende Modell zu erweitern. Erweiterungen könnten sein:
- Einführung von autokratischen und demokratischen Agenten, die die Drift-Muster beeinflussen. Diese Agenten könnten programmierte Agenten oder KI-Agenten sein.
- Untersuchung der Drift-Muster hinsichtlich ihres Phasenübergangsverhaltens.
- Vergleich von Theorie und länderspezifischen Demokratie-Autokratie-Scoring-Daten im Zeitverlauf.
- Erkenntnisse, wie die Drift Demokratie-Autokratie verhindert werden kann oder der Übergang Autokratie-Demokratie gelingen kann.
Sehen wir, was möglich ist!
[1] Könneker C (2025) Die Kernschmelze der Demokratie – Erosion politischer Systeme, in Spektrum der Wissenschaft, https://main-diewocheconnect-spektrum.content.pugpig.com/news/gefaehrliche-erosion-das-drift-to-danger-modell-der-demokratie/2257940/d_app_controller/subcontent/page
[2] Abels C M et al. (2024) Dodging the autocratic bullet: enlisting behavioural science to arrest democratic backsliding, Behavioural Public Policy (2024), 1–28, doi:10.1017/bpp.2024.43, Cambridge University Press
[3] Wikipedia (2025) Autokratie, https://de.wikipedia.org/wiki/Autokratie
[4] Schmidt M G (2020) Demokratien und Autokratien: Ein vergleichender Überblick, in Deutschland & Europa, Heft 79, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
[5] Maerz S F et al. (2021) A Framework for Understanding Regime Transformation: Introducing the ERT Dataset, V-Dem, University of Gothenburg, Department of political science