„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ oder „Viel Lärm um nichts“

Anfang Dezember 2020 wurde ich von youtube im Kanal „Sternstunde der Philosophie – SRF Kultur“ auf das Gespräch von Wolfram Eilenberger mit dem Philosophen Markus Gabriel aufmerksam gemacht [1]. Der reißerische Titel «Falsch: Alle Philosophien der letzten 2500 Jahre!» sprach mich direkt an, zumal ich ein paar Jahre vorher ein Buch von Gabriel auch mit einem reißerischen Titel „Warum Es Die Welt Nicht Gibt“ gelesen hatte und ich hierzu keine Erinnerung mehr abrufen konnte [2]. – Während des SRF Beitrages erfährt man, dass der offizielle Titel des Beitrages „Für einen neuen Existenzialismus“ lautet. – Ein Grund mehr mir den Beitrag anzusehen, da die intensive Beschäftigung mit dem Existenzialismus Camus’ und Sartres’ mich vor vielen Jahren sehr beeindruckt und auch wahrscheinlich geprägt hat [3].

Ich gehe in diesem Beitrag auf Aussagen aus dem Interview und dem Buch ein: Wie zu erwarten, betrachte ich beide mit meiner Brille zu den Themen Komplexität und Selbstorganisation. – Wir werden sehen, dass es einige Überschneidungen gibt, aber auch deutliche Unterschiede.

Der Titel dieses Blog-Beitrag besteht aus zwei Teilen:

„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“, dies ist der Anker-Satz aus dem 100 Jahre alten genialen Werk „Tractatus logico-philosophicus“ von Ludwig Wittgenstein, auf den Gabriel sehr zentral referenziert [4]. – Man siehe auch die Anmerkung [0]

„Viel Lärm um nichts“ ist einerseits ein umgangssprachliches Bonmot und andererseits der deutsche Titel eines der Shakespeare Werke [5]. In diesem Werk Shakespeare‘s erzeugen Irrtümer viel Lärm, und der Lärm verschwindet, sobald diese sich aufgelöst haben. 

Das SRF-Gespräch dreht sich um drei, von Gabriel identifizierte Irrtümer: Diese Irrtümer sind nach Gabriels Meinung die größten globalen und seit langer Zeit in unterschiedlichen Ausprägungen vorkommenden Irrtümer bzw. Irrtumsfelder der Menschheit. Die bisherige 2500-jährige Philosophie habe erheblich zu diesen Irrtümern beigetragen. Der Anspruch von Gabriel ist, dass er diese Irrtümer nicht nur als solche erkannt hat, sondern auch eine neue Philosophie zur Verfügung stellt, um die Auswirkungen dieser Irrtümer jetzt zu heilen.

Diese Irrtümer sind gemäß [1]:

  1. Die gesamte Wirklichkeit ist physikalisch erfassbar und messbar. Es gibt nichts, was nicht physikalisch messbar ist. (Physikalismus)
  2. Unsere Gedanken, unser Geist sind emergente Phänomene unseres Gehirns. (Neurozentrismus, ergibt sich aus dem Materialismus)
  3. Es gibt keine objektiv feststehenden Wertmaßstäbe. (moralischer Nihilismus)

In seinem Buch [2] tauchen mindestens noch folgende Irrtümer auf:

  1. Alles Existierende ist materiell (Materialismus). Vereinfacht ausgedrückt: es gibt die Welt, und sie ist nur materiell. Damit direkt verbunden ist der Irrtum: das Universum ist das Ganze.
  2. „Die populäre Behauptung, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien löse möglicherweise einen Tornado in Texas aus, ist schlicht falsch. – Vieles hängt mit vielem zusammen, aber es ist falsch (genau genommen sogar unmöglich!) dass alles mit allem zusammenhängt.“
  3. „Der Konstruktivismus basiert auf der Annahme, dass es überhaupt keine Fakten, keine Tatsachen an sich gibt, dass wir vielmehr alle Tatsachen nur durch unsere vielfältigen Diskurse und wissenschaftlichen Methoden konstruieren.“ Vereinfacht ausgedrückt: es gibt die Welt (vielleicht), aber wir können sie nicht erkennen und jeder konstruiert sich seine Welt.

Dem setzt Gabriel folgende Konzepte als Lösungen entgegen:

  1. Neuer Realismus: „Der Neue Realismus geht vielmehr davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie an sich ist.“ „Der Neue Realismus nimmt also an, dass Gedanken über Tatsachen mit demselben Recht existieren wie die Tatsachen, über die wir nachdenken.“
  2. Neues Weltbild: „Wir können niemals das Ganze erfassen. Es ist prinzipiell zu groß für jeden Gedanken.“ „Es gibt also viele kleine Welten, aber nicht die eine Welt, zu der sie alle gehören.“
  3. Die Welt gibt es nicht: „Die Welt ist weder die Gesamtheit aller Gegenstände oder Dinge noch die Gesamtheit der Tatsachen. Sie ist der Bereich aller Bereiche.“ „Die Welt ist das Sinnfeld [der Bereich] aller Sinnfelder [Bereiche], das Sinnfeld, in dem alle anderen Sinnfelder erscheinen.“ Die Welt existiert nicht, „weil, es kein Sinnfeld gibt, in dem [sie] erscheinen kann.“
  4. Neo-Existentialismus: „Existenz = Erscheinung in einem Sinnfeld.“ „Der Sinn ist dann die Art, wie ein Gegenstand erscheint.“

Die Auswirkungen der Irrtümer, also der vermeintlichen Wahrheitsströmungen, spüre ich oft sehr schnell, wenn ich mit Pädagogen, Soziologen oder Psychologen spreche, die in den 70-80er Jahren studiert haben. Falls sie erfahren, dass ich Physiker bin, wird mir oft sehr schnell unterstellt, dass ich alles mit Physik erklären wolle (Physikalismus) und lediglich beobachtbare materielle Dinge als wesentlich ansähe (Materialismus). Die Ausführungen werden flankiert von der unumstößlichen Wahrheit, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt, bzw. geben kann und daher jede individuelle Perspektive gleich wahr sei (Konstruktivismus). In Konsequenz heißt dies, dass diese Perspektiven alle gleichberechtigt nebeneinander stehen bleiben müssten. – Daraus wird abgeleitet, dass nur so auch Wertschätzung gezeigt werden könne.

Mit diesem Verhalten verbunden ist auch oft die Sicht, es gäbe die Welt der Physiker, die sich mit dem Universum, den materiellen Dingen, beschäftigen und auf der ganz anderen Seite gäbe es die Welt der Soziologen, Psychologen, Pädagogen, die sich mit der Welt des Sozialen und Psychischen befassen. – Zwei Welten, völlig unvereinbar, so heißt es! U.a. führt dies dazu, dass die Selbstorganisationsprinzipien, die man in der Natur erkannt hat, so wird gesagt, keinesfalls auf das Soziale oder Psychische anwenden kann. Damit ist für meine Kollegen, die sich dieser Sicht anschließen der mentale Zugang zur Synergetik und deren Anwendung z.B. im Management 4.0 automatisch versperrt.    

Solche vermeintlichen Wahrheits-Strömungen wie den Materialismus oder den radikalen Konstruktivismus, an denen ja tatsächlich ein Funke oder vielleicht auch mehrere Funken Wahrheit anhaften, gibt es in der Menschheitsgeschichte sehr viele. – Kein Lebensbereich oder Wissenschaftsbereich ist frei von solchen temporären Wahrheits-Strömungen oder Irrtümern. – Lediglich kommt der eine Lebens- bzw. Wissenschaftsbereich besser damit zurecht als der andere. – Die Naturwissenschaften schaffen es meistens recht gut in Zeiträumen von ein bis zwei Jahrzehnten ihre Irrtümer aufzudecken; bei der Philosophie sprechen wir wahrscheinlich eher von Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden. Das hängt damit zusammen, dass die Philosophie im strengen Sinne nicht falsifizierbar ist und eigentlich (leider) immer erst durch die falsifizierbaren Wissenschaften, und dazu gehört nicht nur die Physik, revidiert bzw. erneuert wird. Deswegen spürt man in den Ausführungen von Gabriel so etwas wie ein Minderwertigkeitsgefühl (insbesondere im youtube Video), wenn er nämlich sagt, dass man der Philosophie (endlich wieder) den Platz geben soll, der ihr zusteht. Hierzu müsse die Philosophie einen Quantensprung machen, d.h. u.a. sie muss andere Wissenschaften integrieren, um eine integrierte Ontologie (Was es gibt – Was es nicht gibt) zur Verfügung zu stellen.

Wie ich oben schon ausführte, erfahre ich diese Irrtümer immer wieder in Diskussionen, und ich vermute auch, dass diese Irrtümer immer noch virulent in der Gesellschaft sind, und damit unser Handeln bzw. unsere Erkenntnisfähigkeit massiv behindern. – Das Unterfangen von Gabriel, diese Irrtümer als Irrtümer aufzudecken, ist sehr löblich!

Meines Erachtens unterliegt auch Gabriel den von ihm identifizierten Irrtümern.

Ich frage, ist es heute noch notwendig zwischen Universum und Welt in dieser Form zu unterscheiden? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Wissenschaftler von Weltrang gibt, die nicht wissen bzw. nicht glauben, dass es mehr gibt als das, was wir als Materie identifizieren. – Wir wissen ja noch nicht einmal was Materie ist. – Wer sich etwas mit der Physik der letzten 100 Jahre beschäftigt hat, wird dies überall spüren. – Deshalb sollte es kaum Physiker von Weltrang geben, die wirklich an den Physikalismus oder Materialismus glauben. – Dass diese Glaubenssysteme nach wie vor in der Gesellschaft existieren, ist unbestreitbar, es sind aber Glaubenssysteme, die weniger von den Naturwissenschaften (heute) getragen werden, als von den Glaubenssystemen der Nicht-Naturwissenschaftlern über die Naturwissenschaft.- Glaubenssysteme entstehen durch unzulässige Vereinfachungen gepaart mit Nicht-kennen. Entsprechend ist der Irrtum „Neurozentrismus“ auch ein Irrtum, der so in den Neurowissenschaften meines Erachtens keine Basis hat.- Es wäre interessant, diese meine Aussage durch eine entsprechende Befragung unter allen Wissenschaftlern zu falsifizieren.

In verschiedenen Blogbeiträgen habe ich das Thema Emergenz angesprochen. Die zentrale Erkenntnis hierzu ist, dass wir nicht wissen, was Emergenz ist. Derzeit steht Emergenz einfach dafür, dass Systeme plötzlich unerwartete System-Eigenschaften zeigen, die wir uns nicht erklären können. – Wenn wir also nicht wissen, was Emergenz ist, wie kann Gabriel sinnvoll behaupten, dass Gedanken keine emergenten Phänomene unseres Gehirns sind. – Wir wissen einfach nicht, was unsere Gedanken sind. – Auch so ambitionierte Ideen wie die von Tononi und Koch haben meines Erachtens interessante Ansätze zum Thema Bewusstsein hervorgebracht, sind aber immer noch sehr weit von einem ersten wirklichen Verständnis entfernt [6]. – Gleichwohl müsste eine moderne Philosophie sich mit dieser Begriffswelt auseinandersetzen.

Beim Lesen oder Hören der Philosophie Gabriel’s mache ich sehr oft folgende Beobachtung: Es werden immer wieder Aussagen in den Raum gestellt, die an wesentlichen Stellen die Integration mit den anderen Wissenschaften oder Lebensbereichen vermissen lassen. Also, …wenn „Emergenz“ als ein Kriterium angeführt wird, dann ist es notwendig, dieses Kriterium sauber zu definieren. Falls man dieses nicht kann, sollte man dies sagen und im ungünstigsten Fall nicht als Kriterium verwenden. Dass es eventuell Personen gibt, die glauben, dass unsere Gedanken in unserem Gehirn verortet sind, kann doch nicht dazu führen, dass man dies den Neurowissenschaftlern anlastet. Wenn überhaupt, müsste man dieses zum Beispiel den Glaubenssystemen der Philosophie anlasten. – Und damit sind wir bei dem meines Erachtens richtigen Wunsch von Gabriel, dass die Philosophie eine integrative Rolle unter den Wissenschaften einnimmt. – Dies erfordert aber auch, dass die Philosophen mit gutem Beispiel voran gehen und versuchen das Nicht-Kennen zu minimieren.

In [1] behauptet Gabriel, dass es sehr wohl objektiv feststehende Wertmaßstäbe (eine Moral) gäbe. Im SRF-Gespräch konnte ich leider keine Begründung hierfür erkennen. Ich habe lediglich wahrgenommen, dass sich Behauptung an Behauptung reihte. Auch ich bin der Meinung, dass es aus heutiger Sicht, also mit unserem heutigen Bewusstsein betrachtet, sehr wohl diese „objektiv feststehenden Wertmaßstäbe“ gibt. Ich begründe diese Aussage mit der Konsistenztheorie der menschlichen Grundbedürfnisse und den Aussagen des Kultur- und Bewusstseinsmodells Spiral Dynamics [1]. Diese meine Schlussfolgerung mag nicht korrekt sein, etwas ähnlich Überprüfbares vermisse ich jedoch bei Gabriel.  

Ich möchte meinen Wunsch „Philosophen gehen mit gutem Beispiel voran“ noch an folgendem Irrtum eines Irrtums aus [2] erläutern: „Die populäre Behauptung, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien löse möglicherweise einen Tornado in Texas aus, ist schlicht falsch. – Vieles hängt mit vielem zusammen, aber es ist falsch (genau genommen sogar unmöglich!), dass alles mit allem zusammenhängt.“

Ich benutze diese populäre Aussage zum Schmetterlingseffekt sehr oft, um zu verdeutlichen was Komplexität bzw. Chaos ist, nämlich u.a., dass kleinste Veränderungen in einem komplexen System enorme Auswirkungen haben können. Ich weise daraufhin, dass die Aussage vom Flügelschlag eine Metapher mit Wahrheitsgehalt ist, nämlich in dem Sinne, dass die Wahrscheinlichkeit nicht null ist (wenn auch sehr sehr klein), dass ein Flügelschlag die Luftmoleküle in Brasilien bewegt und, dass falls die Atmosphäre zwischen Brasilien und Texas in einem „geeigneten“ Zustand ist, dann einen Tornado in Texas hervorruft. Dieser Metapher also das Prädikat „falsch“ zu geben, ist schlicht einfach nur „reißerisch“. Die nächste Aussage, dass nicht alles mit allem zusammenhängt ist jedoch fundamental, meines Erachtens so fundamental, dass sie zu den langjährigen Erkenntnissen der Komplexitätsforschung gehört: Selbstorganisation und Leben kann nur in mehr oder weniger abgeschlossenen Systemen entstehen. Diese Systeme sind mit ihrem Umfeld verbunden, jedoch nicht mit allen Elementen des Umfeldes. Man stelle sich vor, unser Leben würde unmittelbar von den Ereignissen eines 100 Lichtjahren entfernten Sterns abhängen, also Licht würde uns z.B. unmittelbar beeinflussen, ganz zu schweigen vom Licht der vielen anderen Sterne. – Man könnte vielleicht auf die Idee kommen, dass die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit genau hierin begründet liegt, nämlich dafür zu sorgen, dass nicht alles mit allem zusammenhängt. Oder, … ich stellte mir vor, mein Leben würde davon abhängen, welches Frühstück ein bestimmter Chinese (oder alle Chinesen) an einem bestimmten Tag (oder an allen Tagen) einnimmt… Deshalb spielen die sogenannten Rahmenparameter in der Selbstorganisation auch so eine große Rolle: Ein System, das mit allen anderen Systemen verbunden ist, wird maximal antiagil, es kann also keine Information und keine Energie mehr aufnehmen, es verhält sich so gesehen, wie ein System, das keinerlei Verbindungen hat. – Damit wäre Leben nicht mehr möglich. – In [7] zeige ich, wie die Veränderung der Qualität und Quantität der Verbindungen Selbstorganisation ermöglicht oder verhindert. Ich merke auch an, dass die Komplexität unseres Gehirns ganz wesentlich auf dieser „Modularisierung“ beruht und moderne Theorien zum Bewusstsein hiervon explizit Gebrauch machen [6].

An einem weiteren Beispiel möchte ich meine fundamentale Kritik zur Philosophie Gabriel‘s erläutern: Falls die Philosophie den Anspruch erhebt Wissenschaften (und ggf. Erkenntnisse anderer Lebensbereiche) zu integrieren, um eine zeitgemäße, in die Zukunft gerichtete Ontologie bereitzustellen, muss sie die verschiedenen wissenschaftsspezifischen Ontologien kennen, verstehen und gemeinsame Muster ableiten, um auf einer abstrakteren Ebene zu neuen ontologischen Erkenntnissen zu kommen.

Im Buch geht Gabriel auch auf das Thema „Gibt es einen Supergegenstand, eine Substanz, aus der alles andere abgeleitet wird, oder gibt es vielleicht mehrere?“ ein. Diese Fragestellung wird seit Jahrhunderten unter den Begriffen Monismus (eine Substanz, z.B. die Materie), Dualismus (zwei Substanzen, z.B. vielleicht Geist und Materie/Natur) oder Pluralismus in der Philosophie diskutiert. Gabriel gibt an, dass er eher ein Vertreter des Pluralismus ist. Warum und wieso er zu dieser Aussage kommt, kann ich nicht nachvollziehen. Als Beispiel für den Pluralismus zitiert er die Monadentheorie von Leibniz; die Monaden sind Beispiele für den Pluralismus der Substanzen. Bei allem Respekt für unsere großen Denker, und hier insbesondere den genialen Leibniz, wäre es heute nicht eher angebracht sich Gedanken zu machen, was die verschiedenen Disziplinen zum Thema Substanz sagen, und hier insbesondere was ist Materie, Energie und Information, was unterscheidet lebende Materie von „nicht-lebender“ Materie und was unterscheidet Leben von bewusstem Leben, was ist Bewusstsein und gibt es überhaupt Unterschiede und wenn ja wo könnten diese Unterschiede liegen? Ich glaube, dass sich die Philosophie Gabriel’s diesen Fragen nicht wissenschaftsintegrativ stellt, wohlgemerkt integrativ bezogen auf die Wissenschaften des 21. Jahrhunderts. – Denn ich kann an keiner Stelle erkennen, dass er in seiner Philosophie auch nur ansatzweise auf die Ontologien der anderen Wissenschaftsbereiche zu sprechen kommt. Wie Gabriel selbst sagt, hat seine Philosophie damit ihre Daseinsberechtigung verwirkt.

Damit komme ich zum zentralen Aspekt der Philosophie Gabriels, dem oder den Sinnfeldern und dem Neo-Existentialismus.

„Sinnfelder, sind Bereiche, in denen etwas, bestimmte Gegenstände, auf eine bestimmte Art erscheinen.“ „Der Sinn ist dann die Art, wie ein Gegenstand erscheint.“

Ich nähere mich dem Thema Sinn bzw. Sinnfeld über das Verständnis im Management 4.0: In der Umgangssprache sprechen wir von: das gibt uns Sinn, das erscheint uns sinnvoll; Sinn, ist das, an dem wir uns selbst ausrichten; das gibt unserem Leben Sinn. Im Management 4.0 haben wir Sinn als Ordnungsparameter der sozialen Selbstorganisation identifiziert. Sinn ist etwas zutiefst Menschliches, d.h. Sinn gibt es nur mit/in psychischen oder sozialen Systemen. Erscheint ein Gegenstand mit/im Sinn, dann bildet der Gegenstand und das Individuum ein Sinnfeld, wir sprechen auch von einem emergenten Makrozustand. – Hier dürfte nach meinem bisherigen Kenntnisstand ein wesentlicher Unterschied zum Sinnfeldkonzept nach Gabriel liegen: Das Sinnfeld kreiert sich nach meinem Verständnis selbstorganisiert und damit selbstkonsistent in einem System, hierbei kann das System auch aus einem oder mehreren Dingen/Tatsachen/Gedanken/Fiktionen und einem Menschen bestehen. Wir (und Gabriel) sprechen hier sogar in Analogie zur Physik von einem Feld, das sich in einem System ausbildet (bitte nicht an Physikalismus denken!). In einem Team bildet sich das Sinnfeld im System Team aus, indem das Team einen gemeinsamen Ordnungsparameter ausbildet, den Sinn. Die Organisation, in der sich das Team befindet, bildet wiederum ein weiteres anderes Sinnfeld aus. Hieran kann man erkennen, dass es sehr viele ineinander verschachtelte und parallele Sinnfelder gibt. Damit Menschen Sinn ausbilden und erfassen können, müssen sie den Gegenstand oder Gegenstandsbereich erfassen können. Falls sie diese nicht erfassen können, bildet sich auch kein Sinnfeld aus. Wenn ich jetzt noch hingehe und das unfassbare Große mit der Welt identifiziere und versuche dieser ein Sinnfeld zuzuordnen, kann man sehr schnell nachvollziehen, dass dies nicht gelingt, nicht gelingen kann.- Unsere mentalen Kapazitäten sind dafür einfach nicht ausgelegt, also gibt es die Welt nicht. Oder anders ausgedrückt, sobald ich das Sinnfeld aller Sinnfelder dem Begriff „Die Welt“ zuordne, kommt man automatisch zur Aussage, dass es Die Welt nicht gibt. Das hat schon was „reißerisches“, oder?    

Der Neo-Existentialismus, sagt aus, dass die Menschen ein Leben im Licht ihrer Vorstellung von sich selbst und der Welt führen. Oder Schein ist Sein! Im Coaching und in der Therapie ist dies eine bekannte Erkenntnis, die man sich dort explizit zu Nutzen macht, um Sein zu „produzieren“: Erst dann, wenn der Coachee eine Vision/Fiktion, aber auch das Team, oder die Organisation eine gemeinsame Vision/Fiktion entwickelt haben, entwickelt sich das Sein, also die konkreten Handlungen. Wir sprechen im Management 4.0 davon, dass sich ein mentaler Ordnungsparameter ausgebildet hat, der zu einer realen Ordnung führt. Um den mentalen Ordnungsparameter hervorzurufen, verwenden wir die Ziel-Hierarchie, die sozusagen als Fiktion des (zukünftigen) Seins dem Sein, also dem Team, der Organisation eine Ausrichtung gibt. – Also, Management 4.0 ohne Sinnfelder macht keinen Sinn!

Der Begriff des Sinnfeldes und seiner Grenzen, kann man direkt mit einem sozialen Selbstorganisationskreis (SO-Kreis oder SO-circle) assoziieren. Da es unendlich viele SO-Kreise gibt, gibt es unendlich viele Sinnfelder und vice versa.

Existenz ist der Umstand, dass etwas in einem Sinnfeld erscheint. Falls wir die Gleichung „Existenz = Erscheinung/Vorkommen in einem Sinnfeld“ so verstehen, dass sie eine Selbstkonsistenzbedingung beschreibt, die sich über Selbstorganisation einstellt, so ist dies auch das Management 4.0 Verständnis.

Für mich ist das Sinnfeld keine fundamental neue Erkenntnis, sie begleitet mich und die meisten meiner Kollegen schon fast ein ganzes Berufsleben. Denn ohne Sinnfeld ist Coaching, Beratung und Führung einfach nicht möglich!  Was im Management 4.0  jedoch neu ist, das ist die Verbindung zur Komplexitätstheorie und zur Theorie der Selbstorganisation. – Und damit wird meines Erachtens eine ontologische Brücke zwischen völlig unterschiedlichen Sinnfeldern, nämlich der Komplexitäts- und Selbstorganisationsforschung und dem Management, geschlagen.

Ich komme zum Schluss:

Ich tue mich schwer zu glauben, dass es unter post-modernen Menschen mit entsprechenden transformationalen Werte-Memen (man siehe die vorherigen Blog-Beiträge zu value-Memen und Spiral Dynamics) Vertreter des hier beschriebenen Physikalismus, Konstruktivismus, Materialismus, Naturalismus oder Neurozentrismus gibt. – Denn dies entspricht einem Denken in Denkschulen und entspricht nicht einer vernetzten-systemisch-holistisch-transzendentalen Bewusstseinsstufe. – Und die Philosophie des 21. Jahrhunderts sollte diese Bewusstseinsstufe unterstützen und jegliches Denken in Denkschulen überwinden.  

Der Neue Realismus ergibt sich hieraus unmittelbar. – Es gibt keinerlei Indizien in der modernen Wissenschaft und in unseren täglichen Erfahrungen, die den radikalen! Konstruktivismus unterstützen.

Meines Erachtens wird Gabriel seinem eigenen Anspruch, nämlich eine integrative Ontologie vorzulegen nicht gerecht. – Hierzu ist eine viel bessere Auseinandersetzung mit den anderen Wissenschaften/Sinnfeldern und deren Ontologien nötig.

Das Konzept des Sinnfeldes macht Sinn, ist jedoch meines Erachtens in anderen (wissenschaftlichen) Sinnfeldern längst etabliert. Auch hier wäre es wichtig, diese Bereiche (Sinnfelder) in das philosophische Verständnis (Sinnfeld) zu integrieren und etwas wirklich ganzheitlich Neues zu kreieren.

„Warum es die Welt nicht gibt“ mutet eher reißerisch an. Das Sinnfeldkonzept schimmert meines Erachtens schon aus dem Konzept von Wittgenstein „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ hervor. – Falls man den Menschen (etwas) expliziter in das Konzept von Wittgenstein einführt und z.B. stattdessen formuliert „Unsere Welten sind alles, was Sinn macht.“ ist der Schimmer klar zu erkennen.

 

[0] Der „Tractatus logico-philosophicus“ ist übrigens als Satz-Hierarchie formuliert, einer speziellen Form einer Ziel-Hierarchie, also eines Ordnungsparameters, der ein Sinnfeld erzeugt bzw. erzeugen will.

 

[1] Gabriel M (2020) Für einen neuen Existenzialismus, «Falsch: Alle Philosophien der letzten 2500 Jahre!» | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur – YouTube, Markus Gabriel im Gespräch mit Wolfram Eilenberger

[2] Gabriel M (2013) Warum Es Die Welt Nicht Gibt, 3. Auflage, Ullstein Buchverlag, Berlin

[3] Wikipedia (2021) Existentialismus,  https://de.wikipedia.org/wiki/Existentialismus, aufgerufen am 02.01.2021

[4] Wittgenstein L (1963) Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung, edition suhrkamp

[5] Shakespeare W (2012) Viel Lärm um nichts, Zweisprachige Ausgabe, Deutsch von Frank Günther, 5. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München

[6] Tononi G (2020) Consciousness and the brain, https://www.youtube.com/results?search_query=integrierte+informationstheorie+tononi, zugegriffen am 07.01.2021

[7] Oswald A, Köhler J, Schmitt R. (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer, Heidelberg

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