Rückwärtsgewandt in den Abgrund…oder… Entwickeln wir uns weiter!?

Die Geschehnisse der letzten Jahre machen mich mehr als nur besorgt: Die massive Schädigung der Natur durch uns, die Pandemie Corona, der Überfall Russlands auf die Ukraine, der Terrorakt der Hamas gegenüber Israel, das Umsichgreifen der verfassungsfeindlichen, antidemokratischen AfD, der schleichende Rückzug der Demokratie in den USA und in Europa, der Antisemitismus von rechts, links und Islamisten, die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche sowie die vielen Naturkatastrophen, Kriege und Terrorakte an die wir uns schon gewöhnt haben oder die keine mediale und persönliche Aufmerksamkeit erhalten.

Es macht mich umso besorgter, als dass wir in Europa glaubten, wir hätten die dunkle Seite der Vergangenheit hinter uns gelassen.

Dieser Blog-Beitrag wird stark motiviert durch einen Beitrag auf LinkedIn [1], in dem angeregt wird, dass die Diskussion um den sogenannten Purpose (Zweck/Sinn) eines Unternehmens unnötig sei, da alleine der Profit das Entscheidende sei, um das Unternehmen am Leben zu erhalten. Nicht wenige aus der Agilen Community haben dieser Aussage zugestimmt. Ich habe daraufhin folgenden Kommentar angefügt:

„Ich bin erschrocken, als ich gelesen habe, dass einige meiner Kolleg:innen, die Transformationen begleiten, der Aussage „Ein Purpose ist für Unternehmen ein Handicap!“ zustimmen und diese Aussage sogar mit der Aussage „Um zu überleben, müssen sie sich auf den Profit konzentrieren.“ verstärken. Stafford Beer als Beleg hierfür anzuführen, macht die Aussagen zu gedanklichen Irrlichtern. – Ich schließe mich der Aussage von Christian Mueller-Bagehl an: „Solche Beiträge passen aus meiner Sicht intellektuell nicht mehr in die Zeit. Sie befördern gegebenenfalls unethisches Verhalten!“ Warum?

Das Zitat von Stafford Beer hat nichts mit der Aussage zu tun, dass Organisationen keinen Purpose/Zweck/Sinn benötigen, sondern ist die Aussage, dass jedes System sich durch Selbstreferentialität ausbildet. D.H. auch u.a., dass man keiner Organisation einen Purpose/Zweck/Sinn aufsetzen kann (wie vermeintlich von nicht wenigen Vorständen/Coaches angenommen), er bildet sich vielmehr von alleine. In der Theorie der Selbstorganisation bezeichnet man die Größe, die eine sich selbständig ausbildende Ausrichtung eines Systems hervorruft, als Ordnungsparameter. – Jedes System hat einen Ordnungsparameter bzw. eine Ordnungsparameter-Hierarchie. So gibt es sicherlich Organisationen, die Geld bzw. Profit, also nicht nur eine Werterzeugung, als obersten Ordnungsparameter haben. Die Mafia gehört meines Erachtens dazu und die Deutsche Bank in der Ära Ackermann’s mit 25% Rendite gehörte auch dazu. Organisationen auf den Ordnungsparameter Profit zu reduzieren, ist meines Erachtens zutiefst kapitalistisch/neoliberal – mit all den Konsequenzen, die wir heute im Klimawandel, der Zerstörung der Natur aber auch in dem Egoismus von Gesellschaften und Individuen sehen. – Es ist eine der großen Errungenschaften des agilen Denkens, den Ordnungsparameter Profit (fast) von seinem Thron gestoßen zu haben. – Ich hoffe, der Thron wird nicht wieder errichtet.“

Was hat dieses, vielleicht auf den ersten Blick, eher harmlose Thema mit den doch sehr viel dramatischeren und schwerwiegenden Welt-Ereignissen zu tun? Ich glaube einiges und ich werde im Folgenden versuchen dies sichtbar zu machen.

Das World Economic Forum hat im Januar seinen World Risks Report rausgebracht. Abbildung 1 zeigt das globale Risikoportfolio auf der Basis von Befragungen: Man darf vermuten, dass die Größe der Kreise nicht dem jeweiligen Risikowert (= potentieller Schaden*Eintrittswahrscheinlichkeit) entsprechen und damit meines Erachtens in nicht wenigen Fällen eine Verharmlosung des jeweiligen Risikos ausdrücken. – Gleichwohl ist der World Risks Report ein wichtiges Dokument. – Mir ist nicht bekannt, dass es auf der Ebene der EU oder Deutschlands eine vergleichbare Risikoportfolioanalyse gibt bzw. öffentlich zugänglich ist. – Aus dem Projektmanagement weiß man, dass proaktives Risikomanagement ein Augenöffner für den Umgang mit Unsicherheit ist und komplexe Projekte erst erfolgreich durchführen lässt.

Abbildung 1: World Economic Forum, Global Risks Perception Survey 2022-2023 [2] – Vergrößern über rechte Maustaste

Diese Risikomap und die eingetretenen Geschehnisse der letzten Jahre werfen bei mir folgende, beunruhigende Frage auf: Bewegen wir uns rückwärtsgewandt auf einen oder sogar mehrere globale Abgründe zu?

In dem Spiegel-Beitrag aus dem Jahre 2021 „Der unvermeidliche Weg in eine grüne Zukunft“ [3] skizziert Stefan Schultz, kurz vor der letzten Bundestagswahl, das Kultur- und Bewusstsein-Entwicklungsmodell Spiral Dynamics [4,5]: Egal wer die Bundestagswahl gewinnt, unser Weg in die Zukunft ist grün, auch wenn dieser Weg über (lange) Umwege (z.B. CDU) dorthin führt. Hiermit bringt er die Beobachtung zum Ausdruck, dass die menschliche Entwicklung über Jahrtausende hinweg zu immer höheren Kultur- und Bewusstseinsstufen erfolgte. Die in Europa anstehende nächste vorherrschende Bewusstseinsstufe wird in Spiral Dynamics mit der Farbe grün gekennzeichnet.

Leider ist es nicht so, dass unsere persönliche und gesellschaftliche Entwicklung zwangsläufig immer in Richtung einer höheren Entwicklungsstufe verläuft. Ein Blick in die Geschichte zeigt dies: Die Zeit des Nazi-Deutschlands war ein gewaltiger Rückschritt, das Auftauchen der AfD ist ebenfalls ein großer Rückschritt. Entwicklung in Jahrhunderten oder -Tausenden gezählt, erfolgte bisher immer zu höheren Entwicklungsstufen, jedoch auf Zeitskalen von Jahrzehnten können erhebliche Rückschritte eintreten. Auf das Spiegel-Beispiel übertragen, könnte dies im Angesicht des Klimawandels heißen, dass eine höhere Kultur- und Bewusstseinsstufe zu spät kommt! 

Das Spiral Dynamics Modell kennzeichnet die Entwicklung von Menschen, Gruppen, Organisationen oder Gesellschaften durch sogenannte value-Meme, kurz v-Meme. V-Meme sind Gedankenschnipsel, Werte, Glaubenssätze oder Grundannahmen, die das Verhalten von Individuen, Gruppen, Organisationen oder Gesellschaften beschreiben. Nach Spiral Dynamics wird unsere Entwicklung durch verschiedene v-Mem Typen beschrieben. Die v-Mem-Typen fassen ähnliche Mem-Erscheinungsformen zusammen und werden durch einen Farbcode gekennzeichnet. Man siehe Abbildung 2.

Abbildung 2: Oben links ist eine Darstellung der derzeit sichtbaren Entwicklungsstufen sowie deren Beziehung zu den vier Grundbedürfnissen gemäß der Neuropsychotherapie [6, 7] zu sehen. Unten links ist die Spiral Darstellung nach Don Beck [8] enthalten. – Die vordere Zahl gibt an, wie viel Prozent der Weltbevölkerung sich (Stand Anfang des 21. Jahrhunderts) auf der jeweiligen höchsten Entwicklungsstufe befindet, die hintere, wie hoch der Anteil des gesellschaftlichen Einflusses der Entwicklungsstufe ist. Das rechte Bild zeigt die globale Entwicklung von Gesellschaften, dargestellt mittels v-Mem Verteilungen [9]. – Vergrößern über rechte Maustaste

Die Entwicklung wird (vereinfacht) durch die jeweils höchste v-Mem Stufe gekennzeichnet. Wobei diese höchste Entwicklungsstufe die darunter liegenden Stufen integriert: Es liegt tatsächlich eine Mischung von v-Memen vor. Diese ist charakteristisch für einen Menschen, eine Gruppe, eine Organisation oder eine Gesellschaft zum jeweiligen Betrachtungs-Zeitpunkt. Das sogenannte ‚center of gravity‘ berücksichtigt den v-Mem Schwerpunkt innerhalb eines Menschen oder innerhalb eines sozialen Systems, und kann damit von der höchsten erreichten Entwicklungsstufe stark abweichen.

Bezüglich der Verbindung von Spiral Dynamics (und der Integralen Theorie) zur Gesellschaftstheorie/Soziologie und Politik verweise ich auf die sehr lesenswerte Magisterarbeit von David Kriegleder [10]. Für einen aktuelle Eindruck von der Bedeutung von Spiral Dynamics im politischen Raum verweise ich auf [4, 5, 11, 12, 13].

Das Spiral Dynamics Modell ist ein zentrales Modell im Management 4.0. Ich habe im Laufe der letzten Jahre mehrmals dieses Modell in diesem Blog verwendet, um Führungs-, Team oder Gesellschaftsfragestellungen zu behandeln:

Der Blog-Beitrag ‚Cultural Entropy: Corona deckt unsere Werte auf!‘ [14] vom März 2020 zeigt anhand von Spiral Dynamics und dem Barrett Value Modell das limitierende Potential von Werten auf: Die stark limitierenden v-Meme Purpur (Mystik), Rot (Macht), Blau (Ordnung) haben in allen westlichen Gesellschaftsschichten eine ähnliche Verteilung. – Bildung und Wohlstand begrenzen leider nicht unmittelbar die Verbreitung limitierender v-Meme.

Der Blog-Beitrag ‚Projekt-Controlling, alles eine Frage der richtigen Werkzeuge!?‘ [15] vom März 2019 zeigt den Zusammenhang von Spiral Dynamics und den vier Grundbedürfnissen des Menschen gemäß Neuropsychotherapie-Erkenntnissen auf. Das rot v-Mem lässt sich dem Grundbedürfnis nach Selbstwertschutz und -Erhöhung zuordnen, das blaue v-Mem wird dem Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle zugeordnet, das orange v-Mem lässt sich dem Grundbedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung zuordnen und das grüne v-Mem wird dem Grundbedürfnis nach Bindung zugeordnet. Ein traditionelles Mindset verorten wir in der Dominanz von rotem v-Mem (Macht, Status) und blauem v-Mem (Ordnung, Kontrolle und Sicherheit). Ein agiles Mindset ist ein Mindset, in dem Offenheit, Neugier und Respekt vor Mensch, Tier und Natur vorherrschen. – Wir verorten hier die orangen und grünen v-Meme.
Hass und Gewalt entwickeln sich aus einer sehr großen Dominanz von mythischen, roten und blauen v-Memen: Wenn Macht und Status sowie Ordnung und Kontrolle aus Sicht der jeweiligen Personen oder Gruppen drohen verloren zu gehen oder schon verloren gegangen sind, entfalten limitierende v-Meme ihre destruktive Wirkung.   

Der Blog-Beitrag ‚Gesellschaftlicher Wandel – Sein oder Nichtsein?- Das ist hier die Frage!‘ [16] vom Mai 2020 skizziert die v-Mem-Struktur der amerikanischen und deutschen Gesellschaft. In beiden Gesellschaften zeigen ca. 40% der Bevölkerung eine höchste Entwicklungsstufe, die durch die limitierenden v-Meme bestimmt wird. – In den USA ist der Anteil sogar größer als in Europa. (man siehe auch Abbildung 2, rechts).

Der Blog-Beitrag ‚Governance: Die hohe Kunst der Führung von Gesellschaft, Unternehmen und Projekten‘ [17] vom September 2018 zeigt, dass Führung entsteht, wenn die v-Meme des Führenden mit den v-Memen des oder der Geführten in Resonanz treten. Führende die lediglich über limitierende v-Meme verfügen, sprechen auch nur Personen mit limitierenden Werten an.

Der Blog-Beitrag ‚Projekte neu gedacht: Entwicklungsstufen, Selbstorganisation und Co-Evolution‘ [18] vom Februar 2019 zeigt, dass eine hohe individuelle Bewusstseinsstufe notwendig ist, um mit Komplexität und daraus resultierender Unsicherheit umgehen zu können. Die individuelle Bewusstseinsstufe kann jedoch keine Wirksamkeit entfalten, wenn der Kontext (die Kultur der Organisation oder Gesellschaft und die verfügbaren Technologien) dies nicht möglich macht.

Berücksichtigen wir all die oben genannten Erkenntnisse, so ergeben sich folgende Aussagen für die oben genannten Geschehnisse und Risiken:

In Deutschland (und Europa) macht die Angst vor dem Verlust von Selbstwirksamkeit (Wohlstandsverlust, Verlust an Macht und Status) und die Angst vor Unsicherheit (Verlust an Ordnungs- und Sicherheitsgefühl) die purpurnen, roten und blauen v-Meme wieder sichtbar: Sie waren in den letzten Jahrzehnten nicht verschwunden, sie werden nur jetzt wieder sichtbar. Dies erklärt meines Erachtens das Auftauchen von Verschwörungstheorien, das Erstarken der AfD, den Antisemitismus, die Fremdenfeindlichkeit sowie das permanente Ausweichen vor schnellen und konsequenten Klimaschutzmaßnahmen. Der Glaube an Markt und Technologie, ausgedrückt im orangen v-Mem, ist leider nicht hilfreich, sondern trägt zum Erstarken der v-Meme mit limitierendem Potential bei. Im integralen Verständnis muss es die Aufgabe der grünen (und orangen) v-Meme sein, mit geeigneten Mitteln, Gesellschaftsgruppen mit purpurnen, roten und blauen v-Memen die Angst vor Wohlstands- und Sicherheitsverlust zu nehmen: Dies wird tragischerweise wahrscheinlich auch heißen müssen, dass die durch Migration hervorgerufene Komplexität reguliert wird: Migranten mit limitierenden v-Memen führen zu einem Erstarken von europäischen Gesellschaftsgruppen mit ebenfalls limitierenden v-Memen. Zusätzlich ist es notwendig alle Themen, die die Selbstwirksamkeit einschränken, mit äußerster Vorsicht zu handhaben.  

In anderen Gesellschaften, wie Russland oder im islamischen Raum, sind die Gesellschaftsanteile mit limitierenden v-Memen deutlich höher als in Europa (man siehe Abbildung 2). – Bezüglich Russlands verweise ich auf das gerade erschienene Buch von Olaf Kühl [19]. Dies wiegt umso schwerer, als die Führung in solchen Ländern selbst durch limitierende v-Meme geleitet wird und aufgrund des oben geschilderten Führungs-Resonanzeffektes die Entwicklung zu höheren Kultur- und Bewusstseinsstufen verhindert. –  Mögliche individuelle oder gesellschaftliche orangene, grüne oder höhere v-Meme haben keine Chancen der Wirksamkeit. Wie die Fehleinschätzung zu Putin zeigt, ist es erforderlich keine naiven Politik-Glaubensätze wie ‚Wandel durch Handel‘ (dies ist ein typisches orangenes Mem mit blauen und roten Anteilen) zu verfolgen, sondern komplexere Strategien, die die oben genannten Zusammenhänge berücksichtigen.

Unsere Gesellschaft differenziert sich immer weiter aus – dies gilt global: Es entstehen durch Selbstorganisation viele unterschiedliche Gruppierungen. Die jeweilige Führung tritt mit ihren jeweiligen v-Memen in Resonanz mit (zukünftigen) Mitgliedern der Gesellschaftsgruppe. Falls die v-Meme einen stark limitierenden Charakter haben, bilden sich auch Ziele als Ordnungsparameter heraus, die diesen limitierenden v-Memen entsprechen. Rahmenparameter wie Ausgrenzung und Isolation verstärken diese Mechanismen noch. Wer sich mit der Selbstorganisation von Organisationen beschäftigt hat, wird diesen Prozess bestätigen können.

Die limitierenden v-Meme erzeugen eine sehr destruktive Kraft, wenn psychische Störungen und/oder traumatische Erlebnisse für Individuum oder für Völker hinzukommen. Im Israel-Palästina Konflikt können wir dies beobachten. Die Israelis sind als Volk durch den Holokaust traumatisiert, die Palästinenser durch die jahrzehntelange Ausgrenzung. Israel hat als Volk eine westliche v-Mem Struktur, auch wenn starke Gruppierungen mit einer limitierenden v-Mem-Struktur zurzeit die Politik bestimmen. Ich gehe davon aus, dass das ‚center of gravity‘ der palästinensischen v-Mem Struktur eher limitierenden Charakter hat. Beide Völker werden meines Erachtens durch Personen vertreten, die keine integrierenden v-Meme erkennen lassen, sondern vielmehr limitierende v-Meme. Dies ist ein Kontext, der einen idealen Nährboden für das Entstehen und Bestehen der Terrororganisation Hamas darstellt.        

Ich komme zurück zu meinem LinkedIn Kommentar: Meines Erachtens lässt die Aussage, dass Unternehmen keinen Zweck/Sinn (Purpose) benötigen, sondern, dass der Profit als Ordnungsparameter völlig genügt, limitierende v-Meme erkennen. Schaut man sich den genauen Wortlaut, auch in den bejahenden Kommentaren an, so zeigt die Aussage, orange v-Meme unterlegt mit blauen und teilweise sogar roten v-Memen. Das merkliche Auftauchen des grünen v-Mems in unserer Gesellschaft hat die Einführung des Purpose ermöglicht und gehört heute elementar zum agilen und komplexitäts-meisternden Handeln.– Deshalb wiegt die Aussage zum Streichen des Purpose umso schwerer, als die kommentierenden und bejahenden Personen zur Agilen Community gehören. An diesem Beispiel kann man sehen, dass rückwärtsgewandtes Denken und Handeln auch in vermeintlich einfachen Zusammenhängen auftreten können. – Tragisch wird es, wenn eine Mehrheit immer öfter rückwärtsgewandtes Handeln und Denken erkennen lässt. – Dann ist es nämlich tatsächlich zu spät für uns!

[1] Oswald A (2023) LinkedIn Kommentar, https://www.linkedin.com/feed/update/urn:li:activity:7118869083718082560/

[2] World Economic Forum (2023) Global Risks Report 2023, https://www.weforum.org/publications/global-risks-report-2023/,

[3] Schultz S (2023) Der unvermeidliche Weg in eine grüne Zukunft, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/bundestagswahl-und-spiral-dynamics-der-unvermeidliche-weg-in-eine-gruene-zukunft-a-0b3fe0ab-a59e-43ae-b868-d61e8c46340d?sara_ref=re-so-app-sh, erschienen am 24.07.2021, zugegriffen am 05.11.2023

[4] Wikipedia (2023a) Spiral Dynamics, https://de.wikipedia.org/wiki/Spiral_Dynamics, zugegriffen am 13.11.2023

[5] Wikipedia (2023b) Spiral Dynamics, https://en.wikipedia.org/wiki/Spiral_Dynamics, zugegriffen am 13.11.2023

[6] Grawe K (2004) Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen

[7] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer Vieweg, Heidelberg. This book is avalaible in English: Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2018) Project Management at the Edge of Chaos, Springer Verlag, Heidelberg

[8] Beck D E, Cowan C C (2007) Spiral Dynamics: Leadership, Werte und Wandel. J. Kamphausen Verlag & Distribution GmbH, Bielefeld

[9] Center for human emergence, middle east (2023) https://www.humanemergencemiddleeast.org/different-values-different-democracy-alan-tonkin.php, zugegriffen am 13.11.2023

[10] Kriegleder D (2010) Die Integral-Theorie Ken Wilbers und ihre Implikationen für die Politikwissenschaft, Magister Arbeit, Universität Wien

[11] Integrales Forum (2023) https://www.integralesforum.org/, zugegriffen am 13.11.2023

[12] SDi / D·A·CH (Spiral Dynamics integral im Raum Deutschland – Österreich – Schweiz), https://spiraldynamics-integral.de/, zugegriffen am 13.11.2023

[13] Institut für Integrale Studien (2023) https://www.ifis-freiburg.de/, zugegriffen am 13.11.2023

[14] Oswald A (2021) Cultural Entropy: Corona deckt unsere Werte auf!, Blog-Beitrag März 2020, https://agilemanagement40.com/cultural-entropy-corona-deckt-unsere-werte-auf

[15] Oswald A (2021) Projekt-Controlling, alles eine Frage der richtigen Werkzeuge!?, Blog-Beitrag März 2019, https://agilemanagement40.com/projekt-controlling-alles-eine-frage-der-richtigen-werkzeuge

[16] Oswald A (2021) Gesellschaftlicher Wandel – Sein oder Nichtsein? – Das ist hier die Frage!, Blog-Beitrag vom Mai 2020, https://agilemanagement40.com/gesellschaftlicher-wandel-sein-oder-nichtsein-das-ist-hier-die-frage

[17] Oswald A (2018) Governance: Die hohe Kunst der Führung von Gesellschaft, Unternehmen und Projekten, Blog-Beitrag vom September 2018,  https://agilemanagement40.com/governance-die-hohe-kunst-der-fuehrung-von-gesellschaft-unternehmen-und-projekten

[18] Oswald A (2019) Projekte neu gedacht: Entwicklungsstufen, Selbstorganisation und Co-Evolution, Blog-Beitrag vom Februar 2019, https://agilemanagement40.com/projekte-neu-gedacht-entwicklungsstufen-selbstorganisation-und-co-evolution

[19] Kühl O (2023) Z: Kurze Geschichte Russlands, von seinem Ende her gesehen, Rowohlt Berlin, 1. Kindle Edition

AI & AM 4.0: Agent Based Modeling – Emergenz – Wunder geschehen!

Kürzlich erschien ein offener Brief zum Thema ‚Pausieren von gigantischen AI-Experimenten‘ à la GPT-3 oder GPT-4 [1].

Der Brief wurde inzwischen von mehr als 30.000 Personen unterschrieben. Er begründet sein Anliegen eines halbjährigen Aussetzens von AI-Groß-Entwicklungstätigkeiten mit folgendem Satz:

“This does not mean a pause on AI development in general, merely a stepping back from the dangerous race to ever-larger unpredictable black-box models with emergent capabilities.”

Es geht die Angst vor ‚emergenten Fähigkeiten‘ um. – An anderer Stelle wird von einer ‚Gottgleichen‘ KI gewarnt, die die Menschheit zerstören könnte [2].

Diese Sorgen mögen berechtigt sein, umso mehr, als man beobachten kann, wie lange sich die EU schon bemüht, den längst fälligen EU AI ACT als EU-Gesetz zu verabschieden [3].

In diesem Blog geht es jedoch nicht um diese Sorge oder Angst, sondern um das Thema Emergenz, das offensichtlich solche ‚Wunder‘ wie das der „Sparks of Artificial General Intelligence: Early experiments with GPT-4” [4] möglich macht. Die Intelligenz-Fähigkeiten von GPT-4, auch im Vergleich zu chatGPT/GPT-3.x, sind sensationell, gleichgültig, ob es um Mathematik, Musik, Bilderzeugung, Sprache und Logik und vielem mehr geht. – In nicht wenigen Fällen zeigt GPT-4 Intelligenz-Fähigkeiten, die überhaupt nicht trainiert worden sind. – Also klare Zeichen von emergenten Eigenschaften.

In Wikipedia wird Emergenz wie folgt definiert: „Emergenz (lateinisch emergere „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“) bezeichnet die Möglichkeit der Herausbildung von neuen Eigenschaften (Systemeigenschaften) oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente.“ [5]. Emergenz ist auch direkt mit dem Begriff der Selbstorganisation verbunden. Selbstorganisierte Systeme zeigen Emergenz bzw. emergente Eigenschaften. Auf der Basis dieser Definition wimmelt es in der Natur und damit in der Mathematik, den Naturwissenschaften/ Psychologie und den Sozialwissenschaften nur so von emergenten Eigenschaften, Strukturen oder Systemen.

In [6] wird auch deshalb zwischen schwacher und starker Emergenz unterschieden. Starke Emergenz liegt im Falle des Lebens vor, das aus Atomen oder Molekülen emergiert. – Oder, im Falle unseres Bewusstseins, das aus der materiellen Struktur unseres Gehirns emergiert. Die meisten anderen überraschenden Eigenschaften von Viel-Agenten Systemen wie zum Beispiel die Supraleitung, die Farbe von Gold, der Collective Mind eines Teams oder die Kultur einer Organisation werden eher der schwachen als der starken Emergenz zugeordnet. Ich halte die Unterscheidung für wenig sinnvoll.- Entscheidend für die Emergenz ist vielmehr, dass das durch die Wechselwirkung von Agenten entstehende Systeme Eigenschaften zeigt, die sich nicht aus den Eigenschaften der Agenten ableiten lassen.  In [7] wird deshalb für die Beschreibung von Large Language Model’s bezüglich Emergenz eine Definition verwendet, die die obige Definition aus [5] weiterführt:

„Emergence is when quantitative changes in a system result in qualitative changes in behavior.”

Abbildung 1: Bilder erzeugt durch die KI DALL-E [8] mit den Prompts: Create a painting in the style of Matisse: (Create a painting in the style of Gauguin:) Collective Mind as an example of social emergence which demonstrates synergies in a team

Im Falle von Large Language Models (LLM) gibt es mehrere quantitative Änderungen, die qualitative Veränderung hervorrufen: u.a. Anzahl der Parameter (Neuronen), Menge der Daten und die Trainingszeit. Aber auch die Architektur der LLM’s spielt eine entscheidende Rolle: u.a. das Transformer/Decoder Design, der Attention Mechanismus, usw.. So zeigt GPT-3 bei etwa 10 hoch 22 (10 Trilliarden) Floating Point Operations (FLOPs) als Maß für die Trainingszeit und 13 Milliarden Parametern einen sprunghaften Anstieg der sogenannten few-shoot prompting Genauigkeit.- Also nach einigen wenigen Lerndaten meistert das AI-System ähnliche Aufgabenstellungen. – Dieser Übergang entspricht einem Phasenübergang. – Ganz ähnlich zu der gesellschaftliche Resonanz für AI-System, die mit dem Erscheinen des einfach zu bedienenden chatGPT sprunghaft emergierte. 

Für die Beschreibung emergenten Systemverhaltens wurde in der Wissenschaftsgeschichte sehr oft der Nobelpreis vergeben: Es geht darum, diejenigen quantitativen Parameter ausfindig zu machen, die einen qualitativen Unterschied machen. Und dies ist meistens sehr schwierig, da man den Parametern nicht ansieht, ob sie in ihrer Zusammenstellung einen Unterschied machen. – Der qualitative Unterschied lässt sich also nicht auf die quantitativen Unterschiede in den Parametern reduzieren.

Jedoch wurde auch in der Geschichte der Wissenschaft aus dem Unverständnis der Emergenz eine unsinnige Spaltung in reduktionistische Wissenschaften und nicht-reduktionistische (holistische) Wissenschaften [9] vorgenommen. Hiernach wurde zum Beispiel die Physik als reduktionistische Wissenschaft angesehen, da angeblich alle System-Eigenschaften in der Physik auf die Eigenschaften der Agenten (z.B. Elementarteilchen, Atome) zurückgeführt werden, also reduziert werden.  Die Sozialwissenschaft mit der Soziologie à la Luhmann wurde zum Beispiel als holistische Wissenschaft wahrgenommen, da Luhmann, die Eigenschaften des sozialen Systems nicht auf die Menschen zurückführte, sondern dem System eine Eigenständigkeit zuerkannte.

Diese teilweise immer noch vorhandene naive Sicht des Gegensatzpaares Reduktionismus-Holismus wird durch das Auftauchen von GPT-4, aber auch schon durch die Erfahrungen mit chatGPT, kräftigst widerlegt: Die technischen Systeme chatGPT/GPT-3.x und chatGPTplus/GPT-4 zeigen mit ihrer Intelligenz eine für alle erfahrbare Emergenz. Diese AI-Systeme wurden auf der Basis bestimmter Daten-Parameter (u.a. Anzahl der Neuronen, Zeit des Trainings, Menge der Trainingsdaten) sowie bestimmten Architektur-Parameter (u.a. Transformer/Decoder und Attention-Mechanismus) mehr oder weniger gezielt kombiniert und es entstanden bei einer bestimmten Kombination dieser Parameter „wie durch ein Wunder“ emergente Intelligenz-Eigenschaften. – Es ist zu vermuten, dass bei Wegnahme z.B. der Attention-Eigenschaft, die emergente Eigenschaft der Intelligenz verschwindet, auch wenn die gigantische Skalierung bleibt.

Deswegen sind die emergenten AI-Eigenschaft jedoch nicht weniger wunderbar.

Dieses Beispiel belegt äußerst eindrucksvoll, dass die Natur, auch wenn sie in Form einer Technologie daherkommt, alle Ingredienzien für starke Emergenz enthält. – Wir ‚finden‘ diese Ingredienzien ‚lediglich‘.

Agent Based Modeling (ABM) spielt beim Auffinden dieser Eigenschaften eine prominente Rolle, auch wenn diese Rolle selbst in der Wissenschaft im Verhältnis zur Bedeutung nur wenigen bekannt sein dürfte. Unlängst hat das Santa Fe Institute neben Netlogo das ABM-Python-Framework MESA als Lecture aufgenommen [10]. Diese Lecture bildet mit moderner Technik das ABM des 25 Jahre alten Buches über ‚Growing Artificial Societies‘ von Epstein und Axtell nach [11]. Epstein und Axtell zeigen, wie man mit einfachen lokalen Agenten-Parametern die emergenten System-Eigenschaften von Gesellschaften erzeugen kann. – Der Überraschungseffekt ist nicht selten groß: So beeinflusst zum Beispiel die Fähigkeit des Sterbens oder der Reproduktion von Agenten ganz erheblich die emergenten Eigenschaften der ABM Ökonomie: Diese Modell-Eigenschaften sind nämlich notwendig, damit sich überhaupt sogenannte Nicht-Gleichgewichts-Handelsmärkte ausbilden können, die mit realen Märkten sehr gut übereinstimmen. – Das immer noch in der Gesellschaft vorherrschende neoklassische Verständnis der Gleichgewichts-Ökonomie kennt solche Zusammenhänge nicht.

In den folgenden Blogbeiträgen beschäftige ich mich mit der Suche nach den Parametern, die das emergente Teamverhalten Collective Mind hervorrufen. Im Management 4.0 gehen wir davon aus, dass die Parameter der Theorie der Selbstorganisation (Rahmen-Parameter, Kontroll-Parameter und Ordnungs-Parameter) die entscheidenden Parameter sind, die emergentes Teamverhalten hervorbringen. Wir kennen diese Parameter (vermutlich) auch schon, jedoch nicht in hinreichend formalisierter ABM Sprache. Die in vorhergehenden Blog-Beiträgen unter Verwendung von Natural Language Processing abgeleitete Similarity-Matrix des Collective Mind (Collective Mind Operator) ist lediglich ein phänomenologisches Modell (siehe Blog-Beitrag vom April und Juni 2022). – Der Collective Mind Operator kann in der Teampraxis sehr gut den Collective Mind messen, er sagt jedoch leider nichts darüber aus, wie der Collective Mind emergiert. Hierzu benötigen wir die formalisierten ABM-Parameter, die die Collective Mind Emergenz hervorbringen. – Die Suche nach diesen formalisierten Parametern ist kein Selbstzweck, denn die Wissenschaftsgeschichte hat gezeigt, dass die Kenntnis der formalisierten Parameter recht oft mit großen Erkenntnisgewinnen verbunden ist. – Die GPT-Geschichte ist der sichtbarste Beweis hierfür.

Der Übergang zur Python-Technologie mit MESA-Python eröffnet auch recht einfach die Möglichkeit intelligente Agenten auf der Basis von chatGPT anzubinden. Das werde ich nicht tun, jedoch hat die Entwicklung hierzu, wie in einem meiner letzten Blogs prognostiziert, schon begonnen. Die Stanford University hat zusammen mit Google eine auf dem Computerspiel ‚The Sims‘ basierendes ABM erstellt, in dem 25 Agenten ihre Intelligenz von chatGPT erhalten [12]. Die Agenten haben eine ‚Gehirn-Architektur‘ aus Langzeit- und Kurz-Zeitgedächnis, dessen kognitive Intelligenz von chatGPT kommt. Die Agenten verfügen zusätzlich über einen sogenannten ‚reflection tree‘, der der Ziel-Hierarchie bzw. der Dilts Pyramide von Management 4.0 sehr nahe kommt [13].- Die Ebenen Identität, Fähigkeiten und Verhalten sowie Kontext (Beobachtung) sind schon vorhanden. – Diese und weitere Ebenen können sicherlich noch ausgebaut werden.

Damit sind die Agenten in der Lage einen individuellen kognitiven PDCA-Zyklus durchzuführen, der ‚reflektiertes‘ Handeln erlaubt.

Es besteht auch die Möglichkeit, dass sich Menschen aktiv in dieses Handeln künstlicher Agenten einbringen können. Damit ist es zum Beispiel möglich hybride Universen aus AI und Menschen zu bilden.

Man stelle sich ein Anwendungsbeispiel von vielen vor: Ein Projektleiter soll ein Projekt durchführen. Er lässt das Projekt zum Test vorab in der künstlichen Welt durchführen und erhält so Hinweise auf seine Durchführbarkeit. –  Oder er lässt parallel zur realen Welt eine künstliche Welt mitlaufen, in die die Daten der realen Welt synchron eingespeist werden, um Forecasting zu betreiben.

In [12] wird berichtet, dass das Handeln der künstlichen Agenten von Menschen auf ‚Menschen-Ähnlichkeit‘ überprüft wurde. Das emergierende ‚believable behavior‘ der Agenten und des emergierenden sozialen Systems wird von den Evaluationspersonen, trotz einiger Fehler, als sehr hoch eingestuft.   

Das nächste Wunder geschieht schon!

    

[1] Future of Life Institute (2023) Pause giant AI Experiments, https://futureoflife.org/open-letter/pause-giant-ai-experiments/, zugegriffen am 22.04.2023

[2] Barkey S (2023) Kurz vor dem Durchbruch: „Gottgleiche“ KI könnte laut Experte Menschheit zerstörenhttps://www.berliner-zeitung.de/news/agi-kurz-vor-durchbruch-gottgleiche-ki-koennte-laut-experte-ian-hogarth-menschheit-zerstoeren-kuenstliche-allgemeine-intelligenz-li.339062, zugegriffen am 22.04.2023

[3] EU (2023) EU AI Act, https://artificialintelligenceact.eu/, zugegriffen am 22.04.2023

[4] Bubeck S et al. (2023) Sparks of Articial General Intelligence: Early experiments with GPT-4, arXiv:2303.12712v3 [cs.CL] 27 Mar 2023, zugegriffen am 22.04.2023

[5] Wikipedia (2023) Emergenz, https://de.wikipedia.org/wiki/Emergenz, zugegriffen am 25.04.2023

[6] Greve J, Schnabel A (Herausgeber) (2011) Emergenz: Zur Analyse und Erklärung komplexer Strukturen, suhrkamp taschenbuch wissenschaft

[7] Wi J et al. (2022) Emergent Abilities of Large Language Models, in Transactions on Machine Learning Research 08/2022, arXiv:2206.07682v2 [cs.CL] 26 Oct 2022

[8] DALL-E (2023) https://openai.com/product/dall-e-2, zugegriffen am 03.05.2023

[9] Wikipedia (2023) Reduktionismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Reduktionismus, zugegriffen am 25.04.2023

[10] Complexity Explorer (2023) MESA-Python Lecture, https://www.complexityexplorer.org/courses/172-agent-based-models-with-python-an-introduction-to-mesa/segments/17326, Santa Fe Institute, zugegriffen am 30.04.2023

[11] Epstein J M, Axtell R (1996) Growing Artificial Societies – Social Science from the Bottom Up, The Brookings Institution, Washington D.C.

[12] Park J S et. al. (2023) Generative Agents: Interactive Simulacra of Human Behavior, arXiv:2304.03442v1 [cs.HC] 7 Apr 2023

[13] Oswald A, Müller W (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3.0, Verlag BoD, kindle edition

Von der Diktatur der Praxis oder der banalen Selbstorganisation

Den ersten Teil des Blog Titels habe ich in Anlehnung an einen Spiegel-Artikel zum Thema „Uhren-Diktatur“ [1] formuliert, der zweite Teil „banale Selbstorganisation“ nimmt Bezug auf meinen März Blog-Beitrag.

Peter Maxwill spricht in [1] mit dem Zeitforscher Karlheinz Geißler, der mit Harald Lesch ein Buch zum Thema „Alles eine Frage der Zeit“ [2] verfasst hat. Etwa zur gleichen Zeit hat Geißler in [3] einen Artikel mit dem Titel „Das Ende der Uhrzeit“ verfasst. 

Während in [3] vom Ende der Uhr und gar vom Ende der Uhrzeit, also dem erwünschten Ende des Diktats der Uhr, gesprochen wird, ist diese Diktatur in [1] noch allgegenwärtig.

Dieser Kampf gegen das Diktat der Uhr ist eine der zentralen Wurzeln aus denen sich das Aufkommen des Agilen Managements oder des agilen Arbeitens vor 25 Jahren! gespeist hat. – Und nach wie vor ist dieser Kampf noch nicht erfolgreich beendet. Die bewusste Gestaltung der Zeit ist eine Kernkompetenz Agilen Arbeitens oder Arbeiten 4.0:  Time Boxing dient u.a. der mentalen Fokussierung und damit der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse und ist eine Grundvoraussetzung für die Erreichung des kollektiven Flow Zustandes Collective Mind; Iterationen, eine spezielle Form von Time Boxing, dienen der empirischen Überprüfung von theoretischen Annahmen in der Praxis und sind eine der Basismittel für den kompetenten Umgang mit Komplexität; die Limitierung des Work-in-Progress pro Person und Zeiteinheit ist ein prominenter Kontrollparameter der Selbstorganisation. Nicht wenige verstehen nach wie vor den Umgang mit Zeit u.a. mittels Time Boxing und Iterationen als „neue methodische Erfindungen“, um in erster Linie Umsatz und Gewinn weiter zu steigern. Der Forderung nach der Begrenzung des WIPs wird in der Praxis selten nachgekommen. Damit eng verbunden ist ein Führungsverständnis, das von „Wahrnehmungsverengung“ bestimmt wird und nicht erkennt, dass „vordergründig unproduktive (Führungs-) Zeit hilft institutionelle Blockaden aufzubrechen“ und damit transformationale Arbeit zu ermöglichen [4].

Denn die bisher geübte Praxis bleibt oft bestehen: Es sei nämlich geübte Praxis, dass man einen übervollen Terminkalender habe, den zwar keiner haben will, gegen den man sich aber auch nicht wehren kann; dass keine Zeit für Pausen gegeben sei, dass man in mehreren oder vielen Projekten aktiv sein müsse, da sonst die Auslastung nicht gegeben sei und das Unternehmen eventuell nicht genug Umsatz hat. – Dies alles sei geübte Praxis und gegen diese könne man sich ja wohl kaum stellen. – Außerdem müsse „man sich“, wenn überhaupt, mit Forderungen zur Abkehr von dieser geübten Praxis an die oberste Führungsebene wenden.

Praxis wird als die unumstößliche Richtschnur angesehen, an der sich Alles andere ausrichten muss, so heißt es! Praxis ist also zuerst einmal nicht eine Wirklichkeit an der sich mentale Modelle und Theorien messen lassen müssen, sondern ist eine Menge von Verhaltensweisen, Methoden, Prozessen und Strukturen, die nicht in Frage zu stellen sind. – Verschiedene Wertvorstellungen, viele Glaubenssätze und unbewusste nicht hinterfragte Grundannahmen stützen die gelebte Praxis. Zurzeit erleben wir im Corona Chaos die Konsequenzen dieses Grundmusters. Denn die in Deutschland in Jahrzehnten erworbene Praxis der Bürokratisierung, der politischen Entscheidungsprozesse und des damit verbundenen Demokratieverständnisse werden selten in Frage gestellt, es ist geübte Praxis, selbst dann, wenn diese Praxis nachweislich zu keinen akzeptablen Ergebnissen der Corona Bekämpfung führt.

Praxis ist also nicht das, an dem sich Theorien oder mentale Modelle messen lassen müssen. Sondern Praxis, das sind oft über Jahrzehnte erworbene Verhaltensweisen, Strukturen und Prozesse, die selten, wenn nicht sogar überhaupt nicht mehr, hinterfragt werden. Damit widersetzt sich die Praxis transformativen Veränderungen, sie ist nicht offen für Anderes und Neues, seien es Perspektiven, Modelle oder Theorien.

Systeme gleichgültig, ob wir selbst, Teams, Unternehmen oder Gesellschaften, sie organisieren sich immer selbst. – Es gibt sicherlich in vielen Fällen Protagonisten, die durch ihre Interventionen das System in eine von ihnen gewünschte Richtung bringen wollen. – Dies wird oft als Führung bezeichnet. Ab einer bestimmten Zeit und Größe übernimmt vielfach das System die Führung. Ist dies für soziale Systeme der Fall, dann spreche ich von banaler Selbstorganisation. Dies liegt vor, wenn das System ein derart großes Beharrungsvermögen zeigt, dass es nur noch bestehende Verhaltensmuster reproduziert und nicht mehr in der Lage ist, neue auszubilden. Dies führt auch dazu, dass die Mehrzahl der Individuen, die in diesen Systemen leben, die Verhaltensmuster des Systems annehmen und kaum noch eigene Verhaltensmuster zeigen. Das System hat unmerklich die System-Selbstorganisation in die Köpfe der beteiligten Individuen gepflanzt.    

Um Komplexität zu beschreiben, benutze ich u.a. den Satz „Die individuellen Elemente „verlieren an Identität“.“ Auf soziale Systeme bezogen kann man diesen Satz vielleicht durch den Satz „Das Ich ergibt sich im sozialen System.“ oder durch „Das Ich ergibt sich nur im Du.“  beschreiben. Während der erste Satz für viele unverständlich oder sogar falsch ist, ist der dritte Satz fast immer positiv belegt. Die Erkenntnis, dass es keine isolierten Objekte gibt und damit keine losgelöste Identität, erschließt sich hingegen kaum. – Es ist die Aussage, dass Kontext oder Kontextualität ein sehr bestimmendes Element unseres Seins ist.

Ich stelle fest, dass diejenigen, die die gelebte Unternehmenspraxis hochhalten und gleichzeitig ihr Gebunden-Sein an diese beklagen, wenig mit dem obigen Satz „Die individuellen Elemente „verlieren an Identität““ anfangen können. – Es fehlt die Metakompetenz aus dem System herauszutreten, und die banale Selbstorganisation abzulegen. – Wir können die Wechselwirkung mit der Welt nicht ablegen, jedoch hinterfragen sollten wir sie schon, um sie ggf. beeinflussen zu können und uns von der banalen Selbstorganisation zu befreien.

Durch das Arbeiten im Home-Office unter Lock-Down Bedingungen wechselwirken auf fatale Weise zwei Effekte, leider oft selbstverstärkend, mit den inzwischen immer öfter beschriebenen krankmachenden Begleiterscheinungen: Die Abgrenzung und die Nicht-Abgrenzung – eine Konsequenz der banalen Selbstorganisation. Das Arbeiten im Home-Office unter Lock-Down grenzt uns von sozialen Kontakten ab. Gleichzeitig gelingt es vielen Menschen nicht sich zumindest temporär von der Macht des Systems „Arbeit“ abzugrenzen. – Die Arbeit dringt in den privaten Bereich vor, und zwar im wesentlichen mit den gleichen Prozessen und Strukturen, die in der Arbeitswelt herrschen: Arbeiten ohne hinreichende Pausen, Work in Progress deutlich höher als 1, Arbeit ohne zeitliche und räumliche „Abgrenzung“. Gleichzeitig fehlt die Entlastung durch zwischenmenschliche Kontakte. Diese Kombination von Abgrenzung und Nicht-Abgrenzung ist toxisch [5, 6]! Die bisherige bestehende Praxis wurde nicht hinterfragt, die toxische Wirkung nicht erkannt und sie entfaltet in dem neuen Kontext Home-Office noch viel stärker ihre toxische Wirkung.- Um so unverständlicher ist für mich der Wunsch nach einem Zurück zu den Vor-Corona Zeiten. Es ist sicherlich der Wunsch, die soziale Abgrenzung einzureißen; in letzter Konsequenz ist es aber auch der Wunsch, die banale Selbstorganisation fortzuführen.

Der Umgang mit Komplexität und die daraus resultierende Unsicherheit lässt sich nicht mit Praxis meistern, deren Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen nicht hinterfragt werden. Die Fähigkeit zur Transformation beruht wesentlich darauf die Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen einer gelebten Praxis zu erkennen und aktiv handelnd in Frage zu stellen, um der banalen Selbstorganisation zu entkommen. Der fortwährende Ruf nach der Praxis ist vielfach der unbewusste Ruf nach Bequemlichkeit im Denken, und selten die anstrengende Falsifikation (mentaler) Modelle und Theorien in der Praxis. – Denn Veränderung ist anstrengend!      

 

[1] Maxwill P (2021) Die Pandemie bietet die Chance, sich aus der Uhren-Diktatur zu befreien, https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-und-klimakrise-es-gibt-ein-zeitsystem-in-uns-das-nichts-mit-uhrzeiten-zu-tun-hat-a-7b396d01-1a56-4b89-8f01-359ad7b3874a, spiegel.de, zugegriffen am 26.04.2021

[2] Lesch H, Geißler K A, Geißler J (2021) Alles eine Frage der Zeit, oekom verlag

[3] Geißler Karlheinz (2021) Das Ende der Uhrzeit, in zfo Zeitschrift für Führung + Organisation, 2/2021

[4] Wüthrich H A (2021) Mutig >>unproduktiv<< sein, in zfo Zeitschrift für Führung + Organisation, 2/2021

[5] Endres H et al. (2021) Wie uns das Homeoffice kaputt macht, https://www.spiegel.de/karriere/wie-uns-das-homeoffice-kaputtmacht-burnout-erschoepfung-depressionen-a-c91f255c-0002-0001-0000-000176982995, spiegel.de, zugegriffen am 26.04.2021

[6] Larenz N (2021) Sind wir zu sozialen Zombies geworden, Herr Schulz von Thun? https://www.spiegel.de/psychologie/friedemann-schulz-von-thun-ueber-die-menschliche-kommunikation-waehrend-corona-a-14aa6c54-fefd-493c-b3bf-7e4984618eb4, zugegriffen am 04.05.2021

„System von Systemen“ oder von der Selbstorganisation des Marktes

Die GDL (Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer) berichtet gerade von einem erfolgreichen neuen Tarifabschluss für die AVG-Lokführer: Bis zum 01.01.2021 erhalten diese eine gestaffelte Lohnerhöhung von 4,1% [1]. Für die Lokführer der DB wurde der Einstieg in neue Verhandlungen mit 4,8% Lohnforderung bekannt gegeben [2]. Als Hintergrundinformation verweise ich auch auf die bemerkenswerte Grundsatzrede von Claus Weselsky [3].

Wir haben in den vorherigen Blog-Beiträgen gesehen, dass es nicht einen Markt gibt, sondern viele bzw. sehr viele Märkte, die mehr oder weniger ihr selbstorganisiertes „Eigenleben“ führen. Auf diesen Märkten bilden sich Preise als Ordnungsparameter (OP) aus und die Knappheit, also die Differenz von Angebot und Nachfrage, wirkt als Kontrollparameter.- Je nachdem wie groß die Knappheit ist, bildet sich ein entsprechender Preis aus, der jedoch nicht statisch ist, sondern dynamisch. – Sobald sich eine der beiden Seiten, Nachfrage oder Angebot, ändert, ändert sich im Normalfall auch der Preis. 

An dem Beispiel der Lokführer Lohnerhöhung erläutere ich einige Aspekte der Selbstorganisation für Lohn- bzw. Preis-Märkte [4]. Auch hier gilt, wie für die vorherigen Blog-Beiträge auch, dass es nicht der Anspruch sein kann, professionell Ökonomie zu betreiben. Sondern es geht darum, mit der Perspektive der Selbstorganisation (SO) auf Märkte, zu erkennen, dass die Prinzipien der Selbstorganisation, die für die neue (postmoderne) Arbeitswelt sowie deren (Projekt) Management gültig sind, auch für die Ökonomie, Politik und Gesellschaft gelten.

Abbildung 1 zeigt den sogenannten Verbraucherpreisindex: Mit Referenz auf das Jahr 2015 (100%) sind die Verbraucherpreise eines standardisierten Warenkorbes auf 6.2 % bis zum QII 2020 gestiegen [5].

Abbildung 1: Verbraucherpreisindex [5]

Auf der Basis des Verbraucherpreisindex und des sogenannten Nominalpreisindex lässt sich der Reallohnindex ermitteln: Reallohnindex = Nominallohnindex/Verbraucherpreisindex. Der Reallohnindex ist ein Maß für die Kaufkraft, die mit der nominellen Lohnerhöhung verbunden ist. Gemäß dem Preiskaleidoskop gehen z.B. die Aufwendungen für die Mobilität (Verkehr) mit 12,9% in den Verbraucherpreisindex ein [6]. Der Nominallohnindex ist in der Zeit von 2015 bis QII 2020 um ca. 5% bis ca. 13 % gestiegen, je nach Lohnbereich [7].

Genau dies ist der Kontext, indem die GDL ihre Forderungen nach Lohnerhöhung stellt. Weselsky drückt das Ziel mit den Worten „Gleicher (fairer) Lohn für gleiche Arbeit aus.“ – Das ist einer der wichtigsten Glaubenssätze, oder besser gesagt Prinzipien, nach denen er offensichtlich handelt [3]. Hierbei sollte man wissen, dass das höchste Lokführergehalt leicht unterhalb des sogenannten mittleren Bruttolohns in Deutschland liegt (ca. 48 T€/Jahr in 2019) [8]. – Was schon sehr verwundert! – Zusätzlich wird angestrebt die Steigerung des nominellen Bruttogehaltes an die Steigerung des Verbraucherpreisindex anzupassen, damit der Lohn, der die Kaufkraft widerspiegelt, also der Reallohn, erhalten bleibt.      

Die sogenannten Ökonomieschulen der Neoklassiker und der Keynesianer haben unterschiedliche Erwartungshaltung an Lohnverhandlungen, ganz ähnlich wie die Arbeitgeber und Arbeitnehmer (Schulen sind Communities mit unterschiedlichen ökonomischen Glaubenssätzen):

  • Ein Neoklassiker bzw. Neoliberaler ist (wahrscheinlich) ein Befürworter möglichst geringer Nominallohnanpassung. Da Unternehmen ein marktwirtschaftliches Risiko tragen, müssen sie ihre Kosten, also auch die Nominallohnkosten, geringhalten. Außerdem sorgt der Markt auch im Nominallohnbereich automatisch für ein Gleichgewicht: Es wird automatisch das bezahlt, was der Markt über Selbstorganisation als Gleichgewichtslohn ermittelt. Deshalb ist Lohnzurückhaltung für die Tarifpartei „Gewerkschaft“ geboten.
  • Ein Keynesianer würde wahrscheinlich dagegenhalten, dass die Arbeit bzw. die Gewerkschaften keinen Einfluss auf den Reallohn, sondern nur auf den Nominallohn haben. Da Lohnempfänger einerseits angemessen am Produktivitätszuwachs des Unternehmens beteiligt werden sollten und auch einen fairen und für einen guten Lebensunterhalt notwendigen Lohn erhalten sollten, ist der Nominallohn anzupassen, spätestens dann, wenn der Reallohn sinkt.

Das Problem bei dieser Fragestellung ist, „Wer hat Recht“ und gibt es tatsächlich ein „Rechthaben“ in jedem Kontext. – Management 4.0 geht von der Grundannahme aus, dass es dies nicht geben kann, also Ökonomieschulen per se keinen Sinn machen, da sie mehr oder weniger „immer“ eine notwendige Glaubenssatzbetrachtung und damit verbunden eine Kontextbetrachtung nicht oder ungenügend durchführen.

Die Betrachtung wird zusätzlich dadurch erschwert, dass z.B. der Verbraucherpreisindex, als ein „kalkulierter“ Ordnungsparameter im Nachhinein (ex-post) vom Statistischen Bundesamt bestimmt wird. Eine Gewerkschaft streitet jedoch immer im Vorhinein (ex-ante) für einen Nominallohn. Und das Unternehmen muss eine evtl. vorhandene Nominalpreiserhöhung irgendwie so „verdauen“, dass es wettbewerbsfähig bleibt. Nominallohn, Preisindex und Reallohn stehen in einem permanenten zyklischen Rückkopplungsprozess.  

Abbildung 2 verdeutlicht den Zusammenhang zwischen ex-post Berechnungen und ex-ante Verhandlungen.

Abbildung 2: Ex-ante Verhandlungen und ex-post Berechnungen

Auf dieser Basis lässt sich der Ausschnitt eines Systems von selbstorganisierten Markt-Systemen skizzieren. Abbildung 3 zeigt die Gesellschaft in einer der üblichen Darstellungen für selbstorganisierte Systeme, nämlich als SO-Kreise. Hier nutzen wir schon die Tatsache aus, dass jedes System als selbstorganisiertes System betrachtet werden kann, lediglich die Anzahl an Freiheitsgraden und damit die Fähigkeit Emergenz zu zeigen, unterscheidet sich. 

Abbildung 3: System von Systemen als selbstorganisierte Kreise

Abbildung 3 zeigt im Wesentlichen zwei selbstorganisierte Kreise (Märkte): Den Verbrauchermarkt und den Arbeitsmarkt. Der Verbrauchermarkt enthält viele Sub-Märkte, d.h. verschiedene Angebot-Nachfrage-Märkte, die über Rückkopplungen, hier dargestellt als grüne Pfeile, Preise als Ordnungsparameter (OP) ausbilden. Ideale Märkte, die sich über einen optimalen Wettbewerb auszeichnen, sind nicht notwendig, damit sich OP’s ausbilden. Im SO-Kreis Arbeitsmarkt habe ich im Wesentlichen den Markt bestehend aus der GDL, die das Angebot „Arbeitskraft Lokführer“ vertritt und verschiedene Unternehmen, die als Nachfrager für die „Arbeitsleistung Lokführer“ auftreten, skizziert: Es bilden sich selbstorganisiert Löhne als Ordnungsparameter heraus. Die GDL vertritt in ca. 45 Unternehmen die Lokführer als Tarifpartner der Unternehmen. Hier liegt in keinem Fall ein idealer Wettbewerb vor. Claus Weselsky ist besonders stolz darauf, dass er feststellen kann: „Der Wettbewerb über die Lohnkosten existiert nicht.“. Diese Aussage spiegelt eine tiefe Überzeugung bezüglich des Wertes menschlicher Arbeit wider: Menschliche Arbeit und deren Entlohnung sollte den Menschen erlauben in Würde ein von existentiellen Sorgen befreites Leben zu führen. Aus diesem Grunde hat die GDL als Tarifpartner vieler Bahnunternehmen einen Weg gefunden, um den Unternehmenswettbewerb von dem Lohnwettbewerb weitgehend abzukoppeln. Im Management 4.0 entspricht dies dem Satz „Management 4.0 sorgt für eine an den Grundbedürfnissen der Menschen orientierte Selbstorganisation und Führung!“ – Es ist die postmoderne Aussage, dass Wettbewerb im Lohnmarkt kein Mittel ist, um Leben in Würde sicherzustellen.

Auf der Basis von Abbildung 3 lassen sich die Aussagen der Ökonomieschulen wie folgt formulieren:

  • Neo-Klassik: Mit dem OP des Arbeitsmarktes wird der OP des Verbrauchermarktes beeinflusst. Dies treibt eine Preisspirale an, außerdem müssen die Lohnerhöhungen vom Unternehmen verkraftet werden. Also ist Lohnzurückhaltung geboten.
  • Keysianer: Mit dem OP des Arbeitsmarktes wird der OP des Verbrauchermarktes, wahrscheinlich nicht beeinflusst. Es kommt also nicht zwingend zu einer Preisspirale, außerdem sind die Arbeitskräfte am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen. Lohnzurückhaltung ist also nicht geboten.

Die Aussage, dass Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren, verliert automatisch an Relevanz, wenn allgemein Lohn aus einem (oft machtverzerrten) Wettbewerb genommen wird. – Eine Unternehmensleistung, die lediglich über Niedriglohn bestehen kann, macht keinen Sinn für die Menschen, die davon leben sollen. Unter dieser Grundannahme diskutiere ich damit lediglich den Aspekt der Kopplung des selbstorganisierten Verbrauchermarktes und des Arbeitsmarktes über Preis- und Lohnindizes.

In beiden stereotypen Aussagen der Ökonomieschulen betrachte ich den Verbraucherpreisindex, den Nominalpreisindex und den Realpreisindex als kalkulierte Ordnungsparameter, die für die Kopplung des selbstorganisierten Verbrauchermarktes und des selbstorganisierten Arbeitsmarktes sorgen. – Also auch zwischen diesen SO-Kreisen liegt eine Rückkopplung vor, hier wieder graphisch verdeutlicht durch die grünen Pfeile.

Es ergeben sich folgende mögliche Kopplungen:

Die unmittelbare Kopplung: Dies ist der Ansatz der Neo-Klassik. Die Ergebnisse der Verhandlungen zum Nominallohn beeinflussen unmittelbar den Verbrauchermarkt. Diese unmittelbare Kopplung könnte nur eintreten, falls das Kaufverhalten der Lokführer direkt einen messbaren Einfluss auf den Verbrauchermarkt hätte. – Dies erscheint in unserem gesellschaftlichen Kontext unwahrscheinlich. – In einem anderen Kontext könnte es aber Lohngruppen geben, die aufgrund ihres Verhaltens oder der schieren Anzahl einen großen Einfluss haben.

Die mittelbare Kopplung: Aufgrund der Leuchtturmwirkung der Lokführer-Verhandlungen erzeugt diese eine Signalwirkung für andere Tarifbereiche. Die wiederum „erzwingen“ ähnlich große oder größere Lohnerhöhungen und dies würde wiederum zu einer Veränderung im Verhalten führen.- Z.B. würde auf Grund des höheren Einkommens mehr Bananen gegessen werden und/oder mehr Auto gefahren werden. Prinzipiell ist solch ein Kontext vorstellbar, die Veränderung dürfte sich jedoch nur langsam und kontinuierlich bemerkbar machen, da der Ordnungsparameter „Preise“ nur langsam über das Verhalten verändert wird.

Die chaotische Kopplung: Das gesamte gesellschaftliche System befände sich in einem Zustand der Instabilität: Kleinste Änderungen im Arbeitsmarkt hätten große oder sogar katastrophale Folgen im Bereich der Verbrauchermärkte. Dies erscheint derzeit unwahrscheinlich.

Prinzipiell lassen sich alle drei Kopplungen vermessen, in dem über statistische Auswertungen Aussagen zu Korrelationen und Chaos ermittelt werden [9].

Zusammenfassend stelle ich fest: Solange sich die Lohnforderungen an dem Verbraucherpreisindex ex-ante orientieren, ist aus diesen Betrachtungen zur Selbstorganisation nicht ableitbar, dass durch Lohnforderungen Nachteile für das System der Märkte entstehen.

 

[1] GDL Pressemitteilung (2020) Tarifrunde abgeschlossen, GDL und AVG beschließen trotz Corona-Krise attraktives Gesamtpaket für Beschäftigte. https://www.gdl.de/Aktuell-2020/Pressemitteilung-1598361781, zugegriffen am 30.10.2020

[2] GDL Pressemitteilung (2020) DB-Tarifabschluss, Mehr Entgelt, höhere Zulagen und das Recht auf echte Freizeit!, https://www.gdl.de/Aktuell-2019/Aushang-1546622281, zugegriffen am 30.10.2020

[3] GDL (2020) Grundsatzrede von Claus Weselsky, https://www.gdl.de/Aktuell-2020/Podcast-1599486436, zugegriffen am 30.10.2020

[4] Norbert Schaffitzel (2020) Verschiedene wertvolle Anregungen meines Kollegen Norbert Schaffitzel aus der GPM Fachgruppe Agile Management  

[5] Statistisches Bundesamt (2020) Verbraucherpreisindex gesamt https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Preismonitor/Preismonitor.html, zugegriffen am 30.10.2020

[6] Statistisches Bundesamt (2020) Preiskaleidoskop https://service.destatis.de/Voronoi/PreisKaleidoskop.svg, zugegriffen am 30.10.2020

[7] Statistisches Bundesamt (2020) Nominallohnindex, https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/post-kurier-expressdienste/_Grafik/_Interaktiv/reallohnindex.html, zugegriffen am 17.11.2020

[8] Lokführergehalt (2020) https://www.mystipendium.de/berufe/lokfuehrer/gehalt#:~:text=Das%20durchschnittliche%20Lokf%C3%BChrer-Gehalt%20eines%20Lokf%C3%BChrers%20bei%20der%20Deutschen,Lokf%C3%BChrer-Gehalt%20von%20rund%203458%20Euro%20brutto%20im%20Monat, zugegriffen am 04.11.2020

[9] Strunk Guido (2019) leben wir in einer immer komplexer werdenden Welt? – Methoden der Komplexitätsmessung für die Wirtschaftswissenschaften, Complexity-Research, Forschung&Lehre Verlag, Wien

 

 

„Einen Feind in einen Freund verwandeln“ oder von der Selbstorganisation des Marktes

„Einen Feind in einen Freund verwandeln“ steht verkürzt für die sogenannte Katallaxie, ein Konzept der Selbstorganisation des Marktes. Dieses Konzept geht im Wesentlichen auf den Ökonomie-Nobelpreisträgers F. A. von Hayek [1] zurück. Von Hayek hat seine Ideen zur „Ökonomie einer freien menschlichen Marktinteraktion als treibende Kraft zur Findung von komplexen ökonomischen Problemstellungen“ in den 60er und 70er Jahren des vorherigen Jahrhunderts entwickelt, zu einer Zeit als die Komplexitätsforschung erblühte und naturwissenschaftliche Theorien zur Selbstorganisation immer mehr an Bedeutung gewannen. Leider fanden die Ergebnisse dieser Komplexitätsforschung keinen direkten Eingang in das Hayek’sche Konzept. – Und selbst ca. 30-40 Jahre später gab es in der Dissertation von Dötsch [2] noch keinen Brückenschlag zwischen Sozial- und Naturwissenschaft.

In der Tabelle 1, der Übersicht wegen am Ende des Blogbeitrages, habe ich das Konzept der Katallaxie auf der Basis von [2] mit den Mittel der Synergetik zusammengefasst. Die Tabelle enthält gemäß [2] auch einige zentrale Vorschläge zur Behebung bzw. Korrektur des Hayek’schen Markt-Selbstorganisations-Verständnisse sowie zum Vergleich einige zentrale Aussagen des Management 4.0 Konzept (M 4.0). – Die Behebungen bzw. Korrekturen aus [2] treffen meines Erachtens den Kern der „Unzulänglichkeiten“ im Hayek’schen Selbstorganisations-Verständnisse, jedoch fehlt der Brückenschlag zu den universellen und modernen Konzepten der Selbstorganisation [3], [4], [5].

Die Beschäftigung mit den ökonomischen Selbstorganisations-Konzepten des Marktes ist deshalb so enorm wichtig, weil diese unser aller Verständnis von Markt, Wirtschaft und letztendlich auch unserer Gesellschaft enorm prägen. Am SO Verständnis scheiden sich die ökonomischen Geister: Die Befürworter der im Wesentlichen unregulierten SO werden als Neoklassiker oder Neoliberale und die Gegner einer unregulierten SO als Keynesianer oder gar als Sozialisten und Kommunisten stigmatisiert. Wie in den vorherigen Blog-Beiträgen skizziert, beruht diese gegenseitige Stigmatisierung auf Glaubenssätzen, die teilweise Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückreichen und auf einem mehr oder weniger guten Verständnis der Theorien der Ökonomiegrößen. Hayek ist eine solche Ökonomiegröße. Es wäre vermessen alle Aspekte seines SO Verständnisse vollständig verstehen und referieren zu wollen, ich glaube jedoch, dass man im Licht der modernen SO-Theorien einen sehr guten Zugang zu den herrschenden ökonomischen Glaubenssätzen bekommt und damit Handwerkszeug für eine notwendige gesellschaftliche Transformation erhält.

Hayek sieht den Wettbewerb „Einen Feind in einen Freund verwandeln“ als „Enabler“ oder wie wir im M 4.0 sagen, als Kontrollparameter der Markt-Selbstorganisation. Wettbewerb ist bei ihm durchweg positiv belegt. Falls die Markt-Regeln eingehalten werden, können sich nach Hayek negative Auswirkungen kaum einstellen. Man beachte, dass Hayek also sehr wohl schon das Eingreifen in den Markt über Regeln und ein Set an Institutionen kennt. – Ein Umstand, der wahrscheinlich vielen (unbewussten) Anhängern der Hayek’schen Ansätze nicht bekannt sein dürfte und der nach wie vor zur Polarisierung zwischen sogenannten Ökonomieschulen führt. – Die integrierende Kraft eines rationalen Selbstorganisations-Verständnisses, ohne behindernde Glaubenssätze, ist in der Ökonomie nach meiner bisherigen Kenntnis wenig verbreitet.

Man beachte, der Markt verliert auch gemäß Hayek aufgrund seiner Markt-Regeln nicht zwangsläufig seine SO! – Die Hayek’schen Markt-Regeln sind eine „einfache“ Form einer SO-Governance.

Seit der Erfindung des LASERs gehört das gezielte Steuern von SO zum Handwerkszeug von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren. – Inzwischen hat sich auch eine neue Forschungsrichtung unter dem Begriff „Guided Self-Organization“ etabliert, die gerade für die Bereiche Künstliche Intelligenz und Robotik immer mehr an Bedeutung gewinnt [5].

Die Führung der Selbstorganisation durch Governance ist das zentrale Werkzeug der Agilen Führung 4.0. Ein Mittel dieser Führung 4.0 ist die regulierte Interaktion bzw. Kommunikation, einen Wettbewerb an Ideen, der durch gegenseitigen Respekt und Wertschätzung reguliert wird.- Deswegen ist es auch verständlich, dass in [2] auf eine „Korrektur“ durch Humberto Maturana hingewiesen wird. Maturana kritisiert den „Wettbewerb“ als entscheidenden Stabilisator des Marktes und verweist stattdessen auf die Liebe als Stabilisator. Im M 4.0 sprechen wir von einer Kommunikation, in der die Persönlichkeit des „Anderen“ über den Austausch von Ideen und Waren wertgeschätzt wird; also einer Liebe, die gleichermaßen Mensch, Tier und Natur als die „Anderen“ einschließt. Diese wertschätzende Form des Austausches ist im Management 4.0 der entscheidende Kontrollparameter der Selbstorganisation. Die SO im M 4.0 Konzept ist also auf Kooperation bzw. Kollaboration ausgelegt, wohingegen die SO im Hayek’schen Sinne kompetitiv angelegt ist.

Das Hayek’sche System „Markt“ kennt nicht wirklich eine Umwelt. Wie in der Systemtheorie sonst üblich, kennt das Hayek’sche Konzept damit das System-bildendende Verhältnis von System und Umwelt nicht. Spätestens seit Ashby gehört jedoch die Regulation der System-Komplexität als „Antwort“ auf die Komplexität der Umwelt zur Adaptionsfähigkeit eines Systems.- In den Naturwissenschaften ist dieser Austausch mit dem Begriff der Entropie bzw. des Entropieaustausches verbunden. Die Selbstorganisation des Marktes hängt also wesentlich mit dessen Fähigkeit zur Regulation von Komplexität zusammen. –  Andere sprechen meines Erachtens fälschlicher Weise von der „Reduktion von Komplexität“, statt von der „Regulation von Komplexität“. Gerade aktuell treffen wir leider wieder sehr oft auf Vertreter der „Reduktion von Komplexität“: Trump, Johnson, Orban, Verschwörungsideologen, AfD und Nazi’s aber auch einzelne Vertreter der Wirtschaft wie Tönnies oder Wirecard reduzieren die Komplexität unseres Seins, um es für sich nutzbar zu machen, ggf. auch unter Verletzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. – Die „Reduktion von Komplexität“ durch vermeintliche Führungskräfte im Angesicht einer komplexen Umwelt ist ein sehr klares Indiz für eine wertvernichtende (Selbst-) Führung.

Dahinter verbirgt sich auch der Glaubenssatz „der Markt ist (nahezu) Alles“. Dies trägt auch dazu bei, dass die Fehlentwicklungen des Marktes nicht gesehen werden können. Die Fehlentwicklungen eines gesellschaftlichen Subsystems, wie diejenigen des Marktes, werden erst sichtbar, wenn man sie im Lichte eines größeren Ganzen betrachtet: Tönnies, der seine Welt auf seinen Markt reduziert, wird die damit verbundenen Fehlentwicklungen nicht erkennen; die Manager der Autoindustrie, die ihre Welt auf das Auto reduzieren, werden den Schaden, den Sie eventuell für Generationen anrichten, nicht erkennen.- Diese Reduktion ist sogar vielmehr notwendig, um in der so geschaffenen reduzieren Welt handlungsfähig zu bleiben.

Das Hayek’schen Konzept erkennt zwar viele „richtige“ Bestandteile und Wirkzusammenhänge der Selbstorganisation, jedoch fehlt die klare Ausgestaltung von Rahmenparametern und Kontrollparametern, d.h. der Bedeutung von System-Umwelt, der Regulation von Komplexität und der entsprechenden Relativierung der Bedeutung des Wettbewerbs. Was auch fehlt ist das Erkennen von Ordnungsparametern oder Attraktoren als Ordnung hervorrufender Bestandteil der SO. Preise werden zwar als Ordnung schaffende Makro-Ergebnisse eingeführt, wobei jedoch eher die Knappheit eines Gutes über die Preisbildung als ordnungsschaffend angesehen wird. Knappheit oder das Bedürfnis nach der Überwindung von Knappheit ist meines Erachtens ein Kontrollparameter, der auch manchmal gezielt von Produktanbietern eingesetzt wird, um die Nachfrage und die Preise anzukurbeln. Ordnungsparameter sind Parameter, die sich zeitlich in größeren Zeithorizonten verändern, sogenannte „slow variables“, sie ordnen das Verhalten von sogenannten „fast variables“. In [3] wurde gezeigt, dass man ökonomische Theorien nach den in der Theorie ausgewählten Ordnungsparametern („slow variables“) charakterisieren kann. – In allen dort aufgeführten Theorien wird die Technologie als die langsamste der veränderlichen Größen angesehen. – Die Technologie ist also ein dominanter Ordnungsparameter.- Am Beispiel der deutschen Autoindustrie kann man erkennen wie das Festhalten am Verbrennungsmotor, das Denken dieser Industrie dominiert. Gemäß [3], kann man die Theorienschulen in den mathematischen Modellen, die vereinfachend nur wenige Systemparameter enthalten, nach den verwendeten Ordnungsparametern unterscheiden: Zum Beispiel favorisiert die Theorieschule nach Keynes Gehälter (und Preise) als Ordnungsparameter; die Neoklassik favorisiert Kapital (und Arbeit) als Ordnungsparameter. – Die Synergetik kann also einen Brückenschlag zwischen Theorienschulen liefern, in dem die Auswahl der Systemparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) zur Beschreibung von ökonomischen Mustern sich am jeweiligen gesellschaftlichen Kontext orientiert und nicht am Glaubenssatz!

Die Verwendung von Ziel-Hierarchien (z.B. Collective Mind Informationshierarchie, Story Map oder OKR) nutzt genau diese Erkenntnis: Ziele auf oberster Ebene (u.a. Vision/Mission) verändern sich langsamer bzw. sollen sich langsamer verändern als untergeordnete Ziele (u.a. SMARTe Ziele). Ziele mit langsamer zeitlicher Veränderung dienen als Anker für die untergeordneten Ziele mit schnellerer zeitlicher Veränderung, sie sind Sinn-Geber! Und genau hier setzt die Kritik von Niklas Luhmann an: Preise sind zwar untergeordnete Ordnungsparameter, jedoch können sie keinen Sinn erzeugen. Sie sind allenfalls in ihrer untergeordneten Rolle Ausdruck eines übergeordneten Sinns. Knappheit ist auf keinen Fall ein Sinn-Geber, allenfalls ist die Auflösung von Knappheit, wie oben schon gesagt, ein Kontrollparameter. Man kann hier wiedererkennen, dass wesentliche SO-Wirkmechanismen in dem Hayek’schen SO-Verständnis nicht enthalten sind. Auch wenn Hayek die Integration von individuellen Zielen durch den Marktmechanismus thematisiert, so lässt sich auch hier die Wirkung des Glaubenssatzes „der Markt ist (nahezu) Alles“ wiedererkennen.

Im Lichte aktueller Entwicklungen (Klima, Corona und wirtschaftlicher Fehlentwicklungen u.a. wie Tönnies und Dieselskandal) und der bisherigen Blogbeiträge zur Selbstorganisation des Marktes ergibt sich die klare Erkenntnis:

Der Markt kann seine innovative Kraft auch zeigen, wenn er als selbstorganisiertes System mittels Governance in ein übergeordnetes gesellschaftliches System eingebettet ist.

Das übergeordnete gesellschaftliche System liefert den Sinn (d.h. die obersten Ordnungsparameter) für das Subsystem Markt. – Markt allein macht keinen Sinn und damit auch keine sinnvolle Ordnung! 

[1] Wikipedia (2020) Friedrich August von Hayek,  https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_August_von_Hayek, zugegriffen am 04.10.2020

[2] Dötsch Jörg (2012) Wettbewerbliche Ordnung als fragiles System, Systemtheoretische Überlegungen zum Ansatz Friedrich August von Hayeks, Dissertation Universität Bayreuth

[3] Zhang Wei-Bin (1991) Synergetic Economics – Time and Change in Non-linear Economics, Springer

[4] Liening Andreas (2017) Komplexität und Entrepreneurship: Komplexitätsforschung sowie Implikationen auf Entrepreneurship-Prozesse, Springer Gabler, Kindle Ausgabe

[5] Prokopenko Mikhail (Editor) (2014) Guided Self-Organization: Inception, Springer

 

Rahmen-
parameter
Kontroll-
parameter
Ordnungs-
parameter
Makro-
Struktur
HayekFehlt: Regulation von Komplexität in einem Netzwerk von gestaffelten System-Umfeld-Beziehungen
Fehlt: Einbettung in ein SO-horizontales-vertikales Umfeld
historische/ tradierte Regeln

historische/tradierte Regeln
Motivation der Individuen mit unterschiedlichen Identitäten

Regeln und Regelfriktionen (Regeln sind Voraussetzung, aber auch Gefährder der Ordnung)

Set an Institutionen

Markt durch Wettbewerb und Entdeckung (Wettbewerb unterstützt menschliche Bedürfnisse)

endogene/exogene (!) Selbstorganisation“ auf der Basis von Grundannahmen/Regeln des Marktes: Schutz der Privatsphäre, freier Zugang zum Markt, Gewalt und Betrug werden verhindert, Schutz des Eigentums, Pflicht zur Vertragseinhaltung: „Disziplin der Freiheit“
Fehlt: Preise/ Knappheit ermöglichen arbeitsteilige OrdnungOrdnung mit
evolutionärer Weiterentwicklung durch „stochastische“ Optimierung, die zu Innovation führt

Integration individueller Ziele und gemeinsamer Werte ( er sieht aber auch, dass dies in der Praxis zu Problemen führen kann)

Höherer Wohlstand
Behebung/
Korrektur nach [2]
Röpke: System-Umfeld, Reduktion von Komplexität (in [2] wird von Reduktion und nicht Regulation gesprochen)Maturana: Liebe als wesentliches Element der Kommunikation
Röpke: Selbststabilisierung des Marktes durch verschachtelte System-Umwelt-Interaktion zur gegenseitigen Reduktion von Komplexität
Luhmann: Sinn als Struktur-Geber der Kommunikation
M 4.0Horizontale und vertikale Einbettung von SO-Kreisen (System und Subsysteme)

System- und Subsystem-Historien (u.a. Kultur/Mindset)
Komplexes
dynamisches Netzwerk an SO-Kreisen mit SO-Governancen.

Dieses Netzwerk, von der grobkörnigen zur feinkörnigen Governance, gibt hohe Freiheitsgrade und ermöglicht Resonanz und Synchronisation auf allen Ebenen und in allen SO-Kreisen.

Die SO-Governancen respektieren (bestehende) individuelle, organisationale und gesellschaftliche Mindsets und beruhen auf nachhaltigen Werten und Grundannahmen; Regeln und Institutionen werden minimiert.

Der Wert „Macht“, der bisher in unserer Gesellschaft als Kontrollparameter recht oft dominant vorliegt, wird in seine Schranken verwiesen, denn er ist in seiner dominanten Ausprägung SO verhindernd.
Komplexes Netzwerk an Ordnungsparametern/Attraktoren auf der Basis des komplexen SO-Netzwerkes

Diese erzeugt Ordnung, Ausrichtung und Sinn. (Die Ziel-Hierarchie ist ein Beispiel für eine Ordnungsparameter-Hierarchie)
Nachhaltige, evolutionäre Ordnung, die Innovationen und würdiges Leben für alle ermöglicht.
Tabelle 1: Hayek’sches Verständnis der Selbstorganisation des Marktes