Von der natürlichen Evolution wissen wir, dass es das ideale Lebewesen, das in allen Kontexten überlebensfähig ist, nicht gibt. Leben bildet sich passend zum vorherrschenden Kontext, d.h. zur Umwelt, aus. Es passt sich entsprechend seiner inneren Möglichkeiten fortwährend an diesen an. Lebewesen überleben, wenn die inneren Möglichkeiten, also die jeweiligen Fähigkeiten, zum Kontext passen. Im Management 4.0 sagen wir, dass das Lebewesen über hinreichende Agilität verfügt, den Kontext wahrzunehmen. Es passt seine innere Komplexität so an, dass es die kontextuellen Gegebenheiten für sein Überleben ausnutzt. Hieraus leitet sich die Frage ab: „Gibt es eine Organisationsform, die es Organisationen ermöglicht, ihren jeweiligen Kontext in möglichst vielen Facetten wahrzunehmen, um die innere Komplexität schnell und flexibel anzupassen, um das Überleben zu sichern?“ – Vor kurzem hat Conny Dethloff auf Linkedin eine ähnliche Frage gestellt: „Gibt es eine passfähige primäre Organisationsform?“ [1].
Beginnend mit den Jägern und Sammler, wird die soziale Evolution von einer zunehmenden Funktionalisierung unserer Gesellschaft geprägt: Steine werden zu Werkzeugen, später werden Metalle zu Werkzeugen; immer mehr Werkzeuge erzeugen immer mehr Werkzeuge: Die Werkzeuge werden zu etwas Bestimmtem genutzt und erfüllen damit eine Funktion. – In der Moderne werden Menschen in funktionalen Organisationen zu „Werkzeugen“ organisiert: Die Vertriebsorganisation macht Vertrieb, die Produktionsorganisation produziert ein oder mehrere Produkte… Sie alle erfüllen eine Funktion. – Unsere Wahrnehmung schränkt sich nahezu automatisch auf die Erfüllung dieser Funktion ein. Es erfolgt eine zunehmende Spezialisierung.
Vor kurzem nimmt Christian Stöcker in der Spiegel Kolumne Stellung zu einem Beispiel (verdeckter) Funktionalisierung [2]: Er schildert, wie sich der derzeitige Lufthansa-Chef massiv darüber wundert, dass niemand bereit ist, den CO2 Ausstoß des eigenen Fluges durch Geld (es ist von ca. 360 € die Rede) zu kompensieren. Stöcker wundert sich seinerseits, dass der Lufthansa-Chef, sich wundert und nicht bereit ist, dafür zu sorgen, dass seine Flotte weniger CO2 ausstößt. – Und dass er nicht bereit ist, bis zur Reduktion des CO2 Ausstoßes, die Kompensation durch die Lufthansa selbst aufzubringen. Dies ist ein extremes Beispiel für Funktionalisierung: Der Lufthansa-Chef nimmt offensichtlich den Standpunkt ein, dass er eine Serviceleistung, eine Funktion, erbringt und dafür möchte er zu Recht Geld bekommen. Die Werkzeuge, also u.a. die Flieger, die er hierzu benutzt, gehören nicht zu seinem Funktionsbereich, darum sollen sich andere kümmern.
Man kann an diesem Beispiel auch erkennen, dass dieses Denken bzw. dieses Mindset sehr stark an entsprechende Werte geknüpft ist: Erfolgs- bzw. Geld-Orientierung ohne die geringste Verantwortungsübernahme für die mit diesem Erfolg verbundenen Konsequenzen für unsere Umwelt… Ähnliche Beispiele lassen sich nahezu beliebig in anderen Branchen finden: Herstellung und auch Verwendung von Autos, Herstellung von Textilien für Modeketten, Herstellung von Nahrungsmitteln und die Konsequenzen für Umwelt und Tier, Handel mit Finanzderivaten der großen deutschen Banken usw..
Es ist auch nicht verwunderlich, wenn entsprechende Vorstände Agiles Management einführen wollen, um genau diese Funktionalisierung weiter am Leben zu erhalten: Agiles Management ist aus deren Perspektive ein weiteres Werkzeug, um schneller und flexibler Erfolg zu haben und Profit zu machen. Der mit dem Agilen Management verbundene Paradigmenwechsel wird noch nicht einmal ansatzweise verstanden, also insbesondere: Handeln gemäß Integraler Werte, Reduktion des Work-in-Progress, Ausrichtung am Sinn der Arbeit.
Da die Umwelt nach wie vor als unerschöpflich wahrgenommen wird – „so schlimm wird es schon nicht sein“ – beutet man die vorhandenen Ressourcen (Luft, Wasser, Boden, Bodenschätze, Menschen) einfach aus, um die gesellschaftlichen Strukturen funktional zu erhalten und weiter auszugestalten. Die innere Komplexität einer Organisation wird über Funktionalität an den Kontext Markt angepasst. Solange die Ausgestaltung der internen Komplexität in Struktur und Dynamik mit der externen Komplexität annähernd mithalten konnte, war „Agilität durch Funktionalität“ das vorherrschende Organisationsparadigma. Doch es ist schwierig in diesem Organisationsparadigma „ein Schauen über den Tellerrand“ oder gar „ein Wahrnehmen von Zusammenhängen“ zu etablieren. Innovationen werden deshalb außerhalb der funktionalen Organisationsformen durch Projekte erbracht und wieder in die funktionalen Organisationen eingebracht. Dies Alles ist sehr mühsam und wenig agil: Die alten Funktionen wehren sich gegen die neuen (in Projekten erbrachten) Funktionen, denn sie wollen nicht „sterben“. – Die Funktionen bestimmen unser Denken, unser Mindset, und unser Mindset bestimmt unsere Funktionen. Mit jeder neuen Funktion erhöhen sich die (unvorhergesehenen) Abhängigkeiten: Die ungewollte! Vernetzung steigt. Die funktionale Organisationsform, die uns ohne Zweifel viel ermöglicht hat, stößt immer mehr an ihre Grenzen. Um Agilität also Lebensfähigkeit zu erhalten, ist eine neue Leit-Organisationsform notwendig: Sie muss ermöglich, dass die Organisation sich leicht an den Kontext anpassen kann, Temporalität und gleichzeitig Stabilität ermöglichen, sowie Crossfunktionalität beinhalten und Innovation erzeugen. Überwiegend stabile funktionale Anforderungen werden in entsprechende Organisationen „ausgelagert“, die vermutlich zunehmend durch robotergestützte Organisationen abgelöst werden. – Die digitale Technik ist der „Katalysator“ dieser (Digitalen) Transformation.
Für uns Menschen „übrigbleibt“ die temporäre Fluide Organisation: D.h. es werden temporäre Organisationen, die für eine gewisse Zeit stabil sind, aufgebaut und zu Netzwerken von Organisationen „zusammengeschaltet“. Für die Zeit der organisationalen Stabilität führen die Organisationen Aufgaben oder Projekte durch, um danach durch neue temporäre Organisationen für neue Aufgaben und Projekte abgelöst zu werden. – Die heute noch oft gepflegte „Feindschaft“ von Aufgaben für die Linienorganisation und Aufgaben für Projekte wird gegenstandslos. Im Management 4.0 sprechen wir von Fluiden Organisationen 4.0. Abbildung 1 illustriert die Organisationsform Fluide Organisation 4.0.
Diese Organisationsform baut sich aus selbstorganisierten Teams auf. Die selbstorganisierten Teams bilden emergente Strukturen aus, die mittels teamspezifischer Systemparameter, den Rahmenparametern (RP), Kontrollparametern (KP) und Ordnungsparametern (OP) beschrieben werden. Die Teams werden wiederum zu Teams-of-Teams zusammengefasst, die ihrerseits mit Teams-of-Teams spezifischen Systemparametern beschrieben werden, usw. … bis die gesamte Organisation abgedeckt ist. Man kann unschwer die in den Scaled Agile Frameworks (z.B. SAFe oder LeSS) verwendete Teams-of-Teams Struktur, oder die im Critical Chain Project Management verwendete Project-of-Project Struktur oder die in Holacracy verwendete Circle-of-Circle Struktur wiedererkennen. Wie die Systemparameter RP, KP und OP ausgestaltet werden, ist Framework-spezifisch.
Im Management 4.0 gehen wir davon aus, dass die gesamte Organisation der Selbstorganisation unterliegen sollte. Die Systemparameter der Selbstorganisation bilden also ein „Parameter-Netzwerk“, das auf allen organisationalen Ebenen horizontal wie vertikal entsprechend abzustimmen ist. – Dies ist eine sehr anspruchsvolle Führungsaufgabe. – Der OKR Ansatz ist ein Beispiel, diese Systemparameter auszugestalten [3]. Story Maps sind Beispiele für die Struktur von Ordnungsparametern (OP). In [4] haben wir gezeigt, dass nicht alle o.g. genannten Frameworks gleich gut das Kriterium der Selbstorganisation erfüllen. Als Maß für den Grad der Selbstorganisation in den Frameworks benutzen wir die Organisationsperformance, die von der (mittleren) Teamperformance und der Skalierungsperformance abhängt. – Ich verweise hierfür auf [4].
Im Titel habe ich von der „fast“ idealen Organisationsform gesprochen: Der Mensch ist das selbstorganisierte System, schlechthin. – Und auch das kann man über Systemparameter der Selbstorganisation modellieren: In der obigen Abbildung erhielte jeder Mensch auch eigene RP’s, KP’s, OP’s: Jeder Mensch lebt in seinen eigenen Kontexten, er verfügt über sein Temperament, seine Motive, Werte und Glaubenssätze und er versucht seinem Leben dem ihm eigenen Sinn zu geben. – Man siehe hierzu auch den letzten Blogbeitrag Metakompetenz Selbstorganisation 4.0.
Sobald jedoch mehrere oder gar viele Menschen ins Spiel kommen, ist man gezwungen der unglaublichen Anzahl an Freiheitsgraden Rechnung zu tragen. – Es ist nicht mehr möglich, eine ideale „Ausrichtung“ aller Systemparameter zu erhalten. – Die Organisationsform Fluide Organisation 4.0 wird zur „fast“ idealen Organisationsform. – Es ist die Aufgabe der Agilen Führung 4.0 diese Lücke möglichst gut zu schließen.
[1] Conny Dethloff (2019) Die passfähige primäre Organisationsform, https://www.linkedin.com/posts/conny-dethloff-6b9b0942_ich-habe-gerade-meinen-beitrag-zu-einem-buchprojekt-activity-6609675046090747904-J0R-/
[2] Stöcker Christian (2020) Wir machen‘ s kaputt, und Ihr bezahlt, Spiegel.de, 12.01.2020, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/klimaschaedliche-firmen-wir-machen-s-kaputt-und-ihr-bezahlt-kolumne-a-c8f0e3c3-2f5f-4817-b16e-36d6097e58d5
[3] Wikipedia (2020) OKR’s https://de.wikipedia.org/wiki/Objectives_and_Key_Results
[4] Oswald A, Müller (Hrsg.) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3, BoD Verlag, Norderstedt