Im Management 4.0 (und natürlich in allen agilen Handlungsrahmen wie z.B. Scrum) spielen Rahmenparameter wie die Gestaltung von Raum und Zeit eine sehr große Rolle: Hierzu gehören zum Beispiel, die „Befreiung“ von Sitztischen als Kommunikationsbarrieren oder die Gestaltung der Zeit über Time Boxing, u.a. in der Form von Iterationen bzw. Sprints. Eine der eindrucksvollsten bewussten Gestaltung eines Rahmenparameters ist die Positionierung einer Säule in einem gewissen Abstand vor einem Notausgang. Experimente haben gezeigt, dass dadurch der Durchfluss an Menschen durch den Notausgang erheblich verbessert wird. Andere Beispiele sind die bewusste Gestaltung von Büroräumen, um unsere Kommunikation gezielt in Raum und sogar in Zeit „zu lenken“. Rahmenparameter sind immer da, ob wir wollen oder nicht: Man geht heute davon aus, dass z.B. die Evolution verschiedener Zivilisationen (zufällig) vor zehntausenden von Jahren erheblich durch entsprechende Rahmenparameter wie Klima, örtliche Lage oder dem Vorkommen von Tier- und Pflanzenwelt positiv wie negativ beeinflusst wurde (und natürlich auch noch wird) [1]. – Heute sind jedoch wahrscheinlich andere Rahmenparameter wichtiger, wie z.B. die Struktur unserer Städte [2].
Wir sprechen im Management 4.0 von Kompetenz, wenn man in der Lage ist, die Rahmenparameter z.B. von Raum und Zeit aufgrund von gelernten Mustern aus den agilen Handlungsrahmen in einem ähnlichen Kontext neu anzuwenden: Z.B. wird das Time Boxing auch in Situationen wie einem (fachlichen) Teammeeting angewendet und im Meeting spezifisch ausgestaltet. Metakompetenz liegt damit noch nicht vor.
Wir sprechen von Metakompetenz, wenn jemand in der Lage ist, über so völlig unterschiedliche Kontexte wie oben geschildert, nämlich z.B. die Auswirkungen von Raum und Zeit im Agilen Management, der Raumgestaltung im öffentlichen und firmenspezifischen Raum oder in der Evolution wahrzunehmen und diese Wahrnehmungen einigen wenigen zugrundliegenden Prinzipien zuzuordnen. Mit Hilfe der Anwendungen dieser Prinzipien ist diese Person dann in der Lage aus der Situation heraus agil neue Modelle und Werkzeuge zu kreieren. Das Sammeln und Jagen nach scheinbar völlig unterschiedlichen immer wieder auf dem Markt der Tools angebotenen Werkzeugen kann damit entfallen. – In meinem Blog vom Juni 2019 – Vom Unterschied, der den Unterschied macht: „Principles rather than processes are what matter” – habe ich das Vier-Schritt-Zyklen Modell (PDCA-Modell) und die Ziel-Hierarchie als an Prinzipien orientierte grundlegende Modelle angeführt. – Diese Modelle tauchen an vielen Stellen immer wieder in abgewandelter Form auf und werden dort als „neue“ Modelle mit neuem Erkenntnisgewinn vermittelt.
In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Führung+Organisation ist der sehr schöne Beitrag „Nudging als Instrument der Wertevermittlung“ mit vielen Nudges-Beispielen erschienen. Nudge (engl. schwacher Stoß oder Schubs) oder Nudging ist eine Form der Kommunikation, die die „Veränderung der Entscheidungsumgebung, ohne dabei die Entscheidungsoptionen oder zugrundeliegenden Leistungsanreize zu verändern“ zum Ziel hat [3]. Dieser Beitrag vermittelt ohne Zweifel Kompetenz, jedoch keine Metakompetenz.
Als ein Beispiel für Nudging wurde angeführt, dass in einem Unternehmen, das sich ökologischer orientieren wollte, die Standardeinstellung am Firmendrucker von einseitigem Druck auf zweiseitigen Druck umgestellt wurde. Die Grundidee ist hierbei, dass diese kleine Änderung schon zu einer Änderung im Verhalten führt: Denn die aktive Änderung der Standardeinstellung ist mit Verhaltensenergie verbunden und sollte im Normalfall dazu führen, dass die Standardeinstellung (nahezu immer) beibehalten wird. Die Anzahl an möglichen Entscheidungsoptionen wird in diesem Beispiel also nicht verändert, jedoch führt die zusätzliche Energie, die notwendig ist, eine alternative Entscheidung umzusetzen, zu einem Verharren in der Standardeinstellung. Leider hat der gut ausgedachte nudge nicht wirklich funktioniert, da es eine recht große Anzahl an Mitarbeitern gegeben hat, die ihre Unterlagen doppelseitig und zusätzlich einseitig ausgedruckt haben. Es bestand nämlich die zusätzliche Regel, dass im Kontext von Besprechungen, die Unterlagen einseitig vorliegen müssen.
Hieraus wurden die folgenden „neuen“ Erkenntnisse für einen Kompetenzerwerb abgeleitet [3]:
- Nudging muss die jeweiligen Kontexte einer Organisation berücksichtigen.
- Nudging muss die Werte und Glaubenssätze von Menschen und organisationalen Systemen berücksichtigen, denn diese können die Wirksamkeit der nudges erheblich beeinflussen. Da Menschen oder Organisationen unterschiedliche Kontexte, Werte und Glaubenssätze haben, ist das Finden von geeigneten nudges nicht einfach.
- Nudging unterliegt einem Anpassungsprozess: Da man nur Hypothesen über Kontexte, Werte und Glaubenssätze machen kann, sind geeignete nudges iterativ zu ermitteln.
- „Nudges sind überall und jederzeit.“ [3]
- „Jeder ist ein choice architect, also jemand der eine Entscheidungsumgebung entwirft oder beeinflusst.“ [3]
Mit einer relativ einfachen Erweiterung können diese Erkenntnisse für den Metakompetenzerwerb nutzbar gemacht werden. Hierzu ist es lediglich notwendig, nudges als spezielle Varianten von Rahmenparametern der Selbstorganisation zu verstehen [4], [5]. Hierbei ist es zwar nicht für das Ergebnis, jedoch für die grundlegenden systemischen Muster gleichgültig, ob diese Rahmenparameter bewusst erzeugt werden oder einfach per Zufall so sind wie sie sind. In der Sprache der Selbstorganisation ergeben sich folgende verallgemeinerte Erkenntnisse:
- Neue Rahmenparameter müssen die jeweiligen Kontexte einer Organisation berücksichtigen. Denn die bestehenden Kontexte einer Organisation sind Rahmenparameter, die mit den neuen Rahmenparametern kollidieren können.
- Rahmenparameter müssen die Werte und Glaubenssätze von Menschen und organisationalen Systemen berücksichtigen, denn diese können die Wirksamkeit der Rahmenparameter erheblich beeinflussen. Da Menschen oder Organisationen unterschiedliche Kontexte, Werte und Glaubenssätze haben, ist das Finden von geeigneten Rahmenparametern nicht einfach. Werte und Glaubenssätze bzw. die damit verbundene persönlichkeitsorientierte Kommunikation sind in der Selbstorganisation Kontrollparameter. Rahmenparameter und Kontrollparameter hängen sehr stark voneinander ab und müssen abgestimmt designed werden.
- Das bewusste Designen von Rahmenparametern unterliegt einem Anpassungsprozess: Da man nur Hypothesen über Kontexte, Werte und Glaubenssätze machen kann, sind geeignete Rahmenparameter iterativ zu ermitteln. Es macht sich also bemerkbar, dass Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter kein einfaches, lineares System darstellen, sondern ein sehr dynamisches Geflecht von komplexen Abhängigkeiten, für das man Metakompetenz und nicht nur Kompetenz benötigt.
- Rahmenparameter sind überall und jederzeit.- Hieraus ergibt sich die sehr weitreichende Feststellung „Der Begriff Selbstorganisation verspricht mehr als er hält.“ – Denn Rahmenparameter geben unserer Selbstorganisation einen nicht unerheblichen „Rahmen“.
- Jeder ist ein ´selforganisation architect´, also jemand der eine Selbstorganisations-Umgebung entwirft oder beeinflusst. Vorausgesetzt…
er oder sie besitzt die entsprechenden Metakompetenz. Wir verstehen im Management 4.0 [5], Metakompetenz als eine Disposition zur Selbstselektion (man siehe auch den Blog Beitrag Soziologie 4.0) und der damit verbundenen Fähigkeit aus einem (eigenen) mentalen System und einem organisationalen System kognitiv und affektiv heraus zu treten. Im obigen Beispiel geht es darum, aus dem vermeintlich „neuen“ Gedankensystem des Nudging herauszutreten und dieses in einen umfassenderen Kontext zu stellen. Diese Metakompetenz wird als zentral angesehen, um in komplexen Kontexten kompetent handlungsfähig zu sein [6], [7].
Einen weiteren Beitrag zum Thema Rahmenparameter und Nudging findet ihr bei meiner Kollegin Sonja Armatowski: Vorsicht Fremdselektion (!) oder Vom Nutzen der Metakompetenz Selbstselektion
[1] Diamond J (2017) Guns, Germs & Steel, Vintage kindle edition
[2] West G (2017) Scale: The Universal Laws of Life and Death in Organisms, Cities and Companies, Weidenfeld & Nicolson, kindle edition
[3] Böhm K L und Renz E (2019) Nudging als Instrument der Wertevermittlung, in zfo Zeitschrift für Organisation 5/2019, Schäfer-Poeschel
[4] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos, Springer, Heidelberg
[5] Oswald A, Müller (Hrsg.) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3, BoD Verlag, Norderstedt
[6] Erpenbeck J et al. (2006) Metakompetenzen und Kompetenzentwicklung, QUEM-Report, Heft 95 Teil 1, Berlin
[7] Bergmann G et al. (2006) Metakompetenzen und Kompetenzentwicklung, Metakompetenzen und Kompetenzentwicklung in systemisch-rationaler Sicht, Selbstorganisationsmodelle und die Wirklichkeit von Organisationen, QUEM-Report, Heft 95 Teil 2, Berlin