Unlängst hat der Soziologe Dirk Baecker ein Buch herausgebracht, das den Titel trägt „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“ [1].
4.0 – Grund genug, eventuelle Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen Soziologie 4.0 und Management 4.0 [3] aufzuspüren. Ich betrachte hierzu neben [1] eine ältere Veröffentlichung [2], die wichtige Ergänzungen zum soziologischen Verständnis des Begriffes „System“ enthält.
Die Sprache in [1] und [2] ist keineswegs einfach, aus meiner Sicht nicht selten kryptisch (d.h. u.a., dass Begriffe nicht klar definiert sind oder deren Verwendungen (mir) nicht nachvollziehbar erscheinen oder, dass Sätze Negationen von Negationen von …enthalten). Ich nehme in beiden Werken drei Sprachebenen wahr: Die Sprache, die den Bezug zur Alltagswelt herstellt, die Sprache eines Soziologen Luhmann’scher Prägung und eine Sprache, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse wiedergibt oder verarbeitet. Bemerkenswert ist, dass immer wieder ein Thema in allen drei Ebenen ausgedrückt wird und die Suche nach der „Einheit“ von Natur, Technik und Gesellschaft überall durchschimmert.
In [1] analysiert Baecker die Entwicklungsstufen (1.0 bis 4.0) der Gesellschaft von der tribalen Gesellschaft (1.0 „Erfindung“ der Sprache), der antiken Gesellschaft (2.0 „Erfindung“ der Schrift), der modernen Gesellschaft (3.0 „Erfindung“ des Buchdrucks) zur nächsten (post-modernen) Gesellschaft (4.0 „Erfindung“ der elektronischen Medien). Um diese Gesellschaftsformen zu beschreiben, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten verwendet er 26 Themen (dies sind u.a. Überschusssinn, Strukturform, Kulturform, …., Witz). – Ich gehe nicht auf diese 26 Themen ein, sondern vielmehr auf dahinterliegende Grundaussagen. – Die „Übersetzung“ dieser Themen in eine operationalsierbare und damit in der Praxis testbare Theorie sprengt bei weitem den Rahmen eines Blogbeitrages.
Die zeitliche und inhaltliche Zuordnung der Nummerierung 1.0 bis 4.0 entspricht nicht derjenigen der im Management 4.0 verwendeten [6]. – Mit der Kennzeichnung 4.0, beziehen sich jedoch beide auf die nächste, sich gerade entwickelnde Gesellschaftsform. Management 4.0 und Soziologie 4.0 enthalten sehr viele gemeinsame Aussagen und stimmen in ihren Prinzipien (meines Erachtens) überein.
Um dies zu zeigen, habe ich im Folgenden eine Reihe von Aussagen aus [1] und [2] herausgegriffen und damit eine Perspektive eingenommen, die sicherlich nicht vollständig ist, jedoch vielleicht einige wesentliche Aspekte der Soziologie 4.0 einfängt und die Verbindung zum Management 4.0 aufzeigt.- Meine Kommentare zu den Soziologie 4.0 Aussagen füge ich in kursiv hinzu:
„4.0 steht für die Gesellschaft elektronischer Medien und nicht nur für die elektronischen Medien.“ [1, S. 30]
Hier taucht schon eine Sicht auf, die Medien/Digitalisierung und Gesellschaft als „Einheit“ betrachtet und nicht als etwas „Getrenntes“. Eine grundlegende Aussage, um die nächste, jetzt anstehende Gesellschaft (ich verwende der Einfachheit wegen im Folgenden den Begriff post-moderne Gesellschaft) zu verstehen.
„Eine Soziologie 4.0 ist eine Soziologie, die Trajektorien im Netzwerk folgt und ein intensives Interesse daran entwickelt, wie Elemente heterogener Art, vermittelt über Schnittstellen digitaler und analoger Art, unwahrscheinliche Muster, Geschichten und Modelle bildet, an denen sich Operationen orientieren, die im nächsten Moment zu Operanden werden.“ [1, S.58].
Trajektorie heißt ein gesellschaftlicher, historischer, wirtschaftlicher, ökologischer oder technologischer Entwicklungsverlauf [4], und ist ein Begriff der in Natur-, Technik- und Sozialwissenschaften sehr ähnlich verwendet wird. Er beschreibt den Entwicklungspfad von Systemen. Das System der post-modernen Gesellschaft wird als heterogenes Netzwerk verstanden, das Komplexität ausprägt (Muster, Geschichten und Modelle). Prozesse (Operationen) wirken in diesem komplexen Netzwerk und werden in „höheren“ Prozessen weiterverarbeitet. – Dies deutet auf eine selbstreferentielle Entwicklung zu „höheren“ Stufen hin. Der Begriff „emergente Phänomene“ taucht hier zwar nicht auf, im Management 4.0 verbinden wir jedoch diese selbstreferentielle Entwicklung mit Emergenz.
„Die sogenannte digitale Transformation (der Gesellschaft) ist rekursiv und nicht-trivial. Sie verändert die Voraussetzungen, unter denen sie stattfindet, und damit auch die Ziele, die sie verfolgt.“ [1, S. 61]
Dieser Satz führt die vorherige Aussage fort: Prozesse, Regeln oder Strukturen der Transformation erbringen ein Transformationsprodukt, das wieder Prozessen, Regeln und Strukturen ausgesetzt wird. Hierbei können sich die Prozesse, Regeln und Strukturen, die das Produkt hervorrufen, schon wieder verändert haben. In diesem Sinne liegt keine „ideale“ Rekursion vor. Im Management 4.0 verwenden wir deshalb den Begriff der Selbstreferenzialität (auch wenn wir wissen, dass das Selbst sich durch den Selbstbezug ändern wird). Komplexität und Selbstreferenzialität sind im Management 4.0 die Basis von Selbstorganisation und damit von emergenten Strukturen.
„Der gemeinsame Nenner von Wissenschaft, Natur und Gesellschaft ist die Eigenschaft der rekursiven Komplexität.“ [1, S.137] „Rekursivität ist die Voraussetzung jeder kontextuellen Berechnung, die die eigenen Ansätze überprüft, indem sie sie im Material überprüft.“ [1, S. 138]
Hier wird mit dem Begriff der rekursiven Komplexität, der Natur, der Technik und der Gesellschaft ein gemeinsamer Nenner gegeben. – Mir ist allerdings nicht bekannt, dass es Komplexität ohne Rekursion gibt. – Der Begriff ist aus meiner Sicht ein Pleonasmus (weißer Schimmel): Komplexität beruht immer auf Feedback, also u.a. auf Rekursion.
Im Management 4.0 gehen wir von der Grundannahme aus, dass die grundlegenden Prinzipien in Natur, Technik und Gesellschaft gleich sind. Die kontextuelle Berechnung unter Einbeziehung von Selbstreferenzialität („rekursiver“ Komplexität) führt im Kontext von Personen oder sozialen Systeme zur Selbstreflexion. Sie ist eine zentrale Basis des Agilen Managements.
„Als Einmalerfindungen liegt die Gesellschaft auf derselben Ebene wie das Leben, das Gehirn, das Bewusstsein, vielleicht auch die Welt. Es gibt sie, man kann sie beobachten und beschreiben, aber man kann sie nicht erklären. Sie verdanken sich Symmetriebrüchen, wie man in der Physik formuliert.“ [1 S. 143]
Hier wird Emergenz in seiner höchsten Form beschrieben. Diese wird im Zusammenhang mit Symmetriebrüchen genannt. Nicht „Alles“ auf der jeweiligen Stufe bleibt „symmetrisch“ vorhanden, sondern es wird eine Selektion vorgenommen, also die Symmetrie im „Alles“ wird gebrochen. Dies führt zur nächsten Entwicklungsstufe. Ein Symmetriebruch ist eine zentrale Voraussetzung für die Ausbildung von Selbstorganisation (Prinzip 7) [5]
„Die soziologische Systemtheorie im Stile Luhmanns ist der theoretische und nicht entschiedene Versuch, die Teleologie und die Teleonomie miteinander zu verbinden, das heißt gesellschaftliche Institutionen als Einrichtungen zu untersuchen, die sich teleonomisch ihr Gesetz selbst geben, um teleologisch eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen.“ [1 S. 144] (Teleologisch ist Phänomenen ein bestimmter Logos verordnet, teleonomisch geben sie sich ihre Gesetze selbst. [1 S. 144])
Die soziologische Systemtheorie kann den „Unterschied“ zwischen teleonomisch und teleologisch nicht auflösen, da diese Form der Systemtheorie nur die Makroebene und nicht die Mikroebene kennt [5]. Über die Verbindung dieser beiden Ebenen lässt sich dieser Widerspruch (meines Erachtens) auflösen. In der sozialwissenschaftlichen Veröffentlichung von Stadelbacher und Böhle [6] wird die teleonomische Ausrichtung im Kontext der Selbstorganisation als autonome Selbstorganisation bezeichnet, eine von der Organisation selbstgeleistete, selbstbestimmte absichtliche Selbstorganisation. Die telelogische Ausrichtung wird als autogene Selbstorganisation, eine von der Organisation, in der Organisation nicht absichtlich herbeigeführte Selbstorganisation bezeichnet. Die Theorie der Selbstorganisation (u.a. die Synergetik) löst den „Widerspruch Teleologie-Teleonomie“ auf. Die Theorie der Selbstorganisation macht keinen Unterschied, ob die Systemparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) absichtlich oder unabsichtlich gerade so sind, dass emergente Makrostrukturen entstehen. – Ich betrachte diesen „Widerspruch“ als Anzeichen der Reife einer wissenschaftlichen Disziplin: Die Thermodynamik war über viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, eine phänomenologische Theorie der Makrostruktur von (makroskopischen) Objekten. Ludwig Boltzmann war im 19ten Jahrhundert derjenige, der auch die Mikroebenen-Sicht vertrat und diese mit der Makroebene zusammenbrachte. Er wurde Zeit seines Lebens hierfür angefeindet, so dass er sich wahrscheinlich deshalb das Leben nahm. Erst Einstein und die Quantenmechanik trug zur Auflösung dieser vermeintlichen „Widersprüche“ bei.
„Genügt dem Individuum in der modernen Gesellschaft fachliche und soziale Kompetenzen sowie die Fähigkeit, zwischen Ihnen zu wechseln, so benötigt es jetzt zusätzlich die Kompetenz der Selbstselektion.“ [1 S. 158]
Die Kompetenz der Selbstselektion bezeichnet im Management 4.0 die Metakompetenz: Dies ist die Fähigkeit, sein Verhalten über die höheren Ebenen der sogenannten Dilts-Pyramide (Vision, Mission, Zugehörigkeit, Identität, Werte und Grundannahmen) dem Kontext entsprechend selbst zu selektieren und entsprechend zu handeln [5], [3]. Diese Selbstselektion ist die zentrale Fähigkeit, um in komplexen Umfeldern Komplexität zu regulieren und Unsicherheit zu meistern.
„Man liebt sich, weil man ist, wer man ist, und keine Rolle spielt, wer man ist. Liebe ist die andere Seite aller Verbreitungsmedien, die eingeschlossene ausgeschlossene Wahrnehmung im Kontext des Ausschlusses der eingeschlossenen Kommunikation.“ [1 S. 167]
Der erste Satz stellt wohl ein Beispiel für einen
allgemein verständlichen Satz dar, der im zweiten Satz abstrahiert wird. – Man
kann dies mit etwas Mühe nachvollziehen, jedoch erschließt sich (mir) der
Mehrwert der Abstraktion nicht wirklich.
Werte wie Liebe werden in der Soziologie 4.0 als Verbreitungsmedien angesehen.
– Werte sind also Medien, in denen sich Kommunikation verbreitet. Mit dem
Agilen Manifest wurde explizit der Übergang zu einer wertorientierten
Kommunikation eingeleitet. Die Gestaltung der Kommunikation über eine bewusste
und transparente Persönlichkeitsorientierung ist eine Basis des Management 4.0.
– Die Persönlichkeitsorientierung schließt nicht nur die Werteorientierung,
sondern alle eine Persönlichkeit ausmachenden Charakteristika mit ein. – Die
Quellen der Werte einer Gesellschaft sind also Menschen. Wir modellieren eine
Persönlichkeit mit der sogenannten Dilts Pyramide [3], [5]. Deshalb werden die
logischen Ebenen der Dilts Pyramide (Zugehörigkeit, Identität, Werte und
Grundannahmen) mit der Theorie der Grundbedürfnisse (Grawe Neuropsychiatrie), dem
Kultur- und Bewusstseinsmodell Spiral Dynamics, dem Modell des Schnellen und
Langsamen Denkens nach Kahneman und Tversky, dem Reiss Motive Profil sowie dem
MBTI Temperamentprofil ausgestaltet. Man kann das resultierende Feld der
Interaktion der Persönlichkeiten als ein Verbereitungsmedium oder ggf. als
mehrere Verbreitungsmedien mit unterschiedlichen Charakteristika ansehen.
„Die nächste Organisation ist entweder Plattform oder agil. Sie ist entweder, wie oben bereits zitiert, Schnittstelle und Nutzer, System und Programm, Bühne und Regelwerk, Standard und Abweichung, Zentrum und Peripherie zugleich, oder Projekt in jenem Sinne der Philosophie eines agilen Managements, die zugleich auf einen hohen Grad der Vertaktung von Organisation und der Schaffung von Spiel- und Freiräumen setzt.“ [1, S. 173]
Dies entspricht vollständig dem Management 4.0 Ansatz. Für die umfangreiche Ausgestaltung dieses Satzes im Sinne des Management 4.0 verweise ich auf Release 3 des Management 4.0 Handbuches [6].
„Im agilen Management ist das Projekt eine Art internalisierte und strikt temporalisierte Plattform.“ [1 S. 176]
Dies entspricht vollständig dem Management 4.0 Ansatz. Die Gestaltung von Raum und Zeit als Ausgestaltung des Rahmenparameters (Abschottung, time boxing und PDCA-Zyklus) spielt für die Regulation von Komplexität u.a. durch Selbstorganisation eine sehr große Rolle [6].
„Technische Objekte sind mitten unter uns. Und mehr Objekte sind technisch, als es sich die Moderne mit ihrer Unterscheidung von Technik, Natur und Gesellschaft träumen ließ. Im Grunde ist jedes Objekt, vom Faustkeil über das Fell, den Stuhl und das Fahrrad bis zum Phasenprüfer und Smartphone ein technisches Objekt der Herstellung von Einfachheit an der Schnittstelle von Black Boxes, hinreichend komplexen Einheiten.“ [1 S. 185]
Dies entspricht einem der wichtigsten Glaubenssätze des Management 4.0: Hiernach löst sich der Glaubenssatz der willkürlichen Unterscheidungen von Natur, Technik und Gesellschaft in der post-modernen Gesellschaft auf, er wird obsolet und schließlich abgeschafft. Die post-moderne Gesellschaft ist für das Management 4.0 eine Gesellschaft in der gemäß der Spiral Dynamics Codierung die value meme gelb (vernetzt) und türkis (holistisch) ihre Wirkung entfalten.
„Die Abstraktion ist eine Vorstellung, die sich von der Anschauung unabhängig macht, um in sie zurückzukehren. Sie ist nicht der Sündenfall eines Verrats an der Lebenswelt, sondern ein Medium der Erkundung dieser Lebenswelt.“ [1, S. 239]
Dies entspricht einem der wichtigsten Glaubenssätze des Management 4.0: Ohne die Abstraktion ist keine Metakompetenz und damit keine Selbstselektion möglich. Ein selbstbestimmtes Leben in einer komplexen Welt der Netzwerke wäre damit verwehrt. Ich verweise auch auf meinen Blog-Beitrag „Vom Unterschied, der den Unterschied macht: „Principles rather than processes are what matter.”“ vom Juni 2019.
„Architektur und Kleidung, Praktiken und Routinen, kognitive Schemata und institutionalisierte Selbstverständlichkeit. Sobald sie als das Produkt eines Designs auftreten, absorbieren sie Ungewissheit, weil sie sich verdächtigen und somit testen lassen.“ [1, S. 258]
Dies entspricht einem der wichtigsten Glaubenssätze des Management 4.0: „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.“ Eine gute Theorie liefert die Grundlage für ein bewusstes Design und reguliert damit Komplexität, um Ungewissheit zu absorbieren. In [5] haben wir einen verallgemeinerten PDCA Prozess eingeführt, um Hypothesen auszutesten und das Design iterativ und bewusst zu gestalten.
Zusammenfassend stelle ich bisher fest, dass die Soziologie 4.0 und das Management 4.0 sehr viele Gemeinsamkeiten und Verbindungen besitzen und die Kennzeichnung über die 4.0 dies auch zum Ausdruck bringt.
Die Veröffentlichung zum Systembegriff [2] ist aus dem Jahre 2010. Sie enthält einige der Grundlagen, die in der Soziologie 4.0 zum Tragen kommen. Ich verwende die gleiche Vorgehensweise wie oben, um [2] in seinen Aussagen zu skizzieren:
…nach dem Tod der beiden größten Mathematiker, die sich mit der Kybernetik beschäftigt haben, John von Neumann und Norbert Wiener, [waren] drei Probleme der Kybernetik ungelöst liegen geblieben: das Problem unzureichender statistischer Datenreihen, um neben technischen auch soziale Probleme mit den Mitteln der Kybernetik lösen zu können; das Problem der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren; und das Problem kontinuierlich nichtlinearer Vorhersage.
Die o.g. drei Probleme wird man heute wohl nicht mehr allein der Kybernetik, sondern eher der breiter aufgestellten Komplexitätsforschung (inkl. Theorie der Selbstorganisation, Chaostheorie, Synchronisationstheorie) zuordnen. Das Problem unzureichender statistischer Datenreihen, um soziale Probleme quantitativ anzugehen, ist sicherlich immer noch vorhanden, jedoch befindet es sich mit dem Thema von Big Data (und KI) in der Auflösung.- Hierzu gibt es zahlreiche Beispiele, man siehe u.a. [7], [8]. Die Kopplung nichtlinearer Oszillatoren ist ein aktuelles Forschungsgebiet, das u.a. über die durch Synchronisation induzierte Selbstorganisation von gekoppelten Systemen und komplexen Netzwerken enorme Fortschritte gemacht hat [9]. Der verwendete Begriff „kontinuierlich nichtlineare Vorhersage“ entzieht sich so meinem Verständnis. Ich interpretieren ihn so, dass damit die zukünftige Vorhersage in nichtlinearen Systemen auf der Basis eines beliebigen Ausgangszustandes gemeint ist. Auch hier wurden erhebliche Fortschritte gemacht [9], wenngleich jedes komplexe oder chaotische Systeme Unvorhersehbarkeit in sich trägt und damit dieses Problem wahrscheinlich nie ganz gelöst wird.
Dabei interessierte ihn [John von Neumann] in Diskussionen mit Heinz von Foerster laut McCulloch insbesondere die Frage eines Verständnisses der Selbstorganisation von Sternen, Kristallen und Organismen auf der Grundlage eines Systembegriffs, der von informationaler Geschlossenheit (bei energetischer Offenheit, das versteht sich von selbst) ausgeht.
Ich kenne kein System, das energetische Offenheit und informationale Geschlossenheit hat. Energetische oder materielle Offenheit führt auch immer informationale Offenheit mit sich. – Energie/Materie transportiert Information. Die Aufnahme oder Abgabe von Information ist wesentlich, damit sich Systeme an die Umgebung anpassen können.- Natürlich darf die Offenheit nur so groß sein, dass sich das System selbst erhalten kann.
Aus der Frage, welche statistischen Zeitreihen komplexe Phänomene beschreiben, wird die Frage, wie Systeme zählen und rechnen. Die Frage nach der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren wird übersetzt in die Frage der symmetrischen Tauschfähigkeit unter den Werten, die die Zustände eines Systems beschreiben. Und aus der Frage nach der kontinuierlich nichtlinearen Vorhersage wird die Frage nach einer funktionalen Beobachtung, die in der Lage ist, die Zustände eines Systems asymmetrisch zu ordnen und diese Ordnung nach Bedarf auch wieder aufzulösen. Tausch und Ordnung laufen über eine Befähigung des Systems zur Negation, die möglicherweise an dieselbe Erfahrung der Inkommensurabilität und unreduzierbaren Komplexität der Komponenten des Systems rückgekoppelt ist, die auch das Zählen ermöglicht, wenn nicht sogar erzwingt.
Die nachfolgende Tabelle listet diese zentralen Fragen, ordnet diesen dann die abgeleiteten Fragen der sozialen Systemtheorie zu und skizziert entsprechende Fragen des Management 4.0:
Zentrale Fragen der Kybernetik | Abgeleitete Fragen der sozialen Systemtheorie | Fragen im Management 4.0 |
Unzureichende statistische Zeitreihen oder das Beschreiben statistischer Zeitreihen | Wie zählen und rechnen Systeme? Die Wahl der Verben „zählen und rechnen“ erschließt sich mir nur bedingt. Es geht um Wechselwirkung und damit verbundene charakteristische Größen. In der Mathematik werden Wechselwirkungen durch Operationen abgebildet. Zählen und Rechnen sind sicherlich eine Form von Operationen. | Was sind die zentralen Größen und deren Wechselwirkung? Und ist es auf der Basis dieser zentralen Größen möglich, Zeitreihen für die zentralen Größen zu definieren. Z.B. ist die Persönlichkeit eine zentrale Größe? Und durch welche Variablen lässt sich diese beschreiben und welche Zusammenhänge gibt es zwischen diesen Variablen -und wie ergibt sich aus den Persönlichkeiten und evtl. anderen Größen (und welche sind die wichtigsten?) eine soziale Makrostruktur? Zu charakteristischen Zeitreihen siehe man für Gruppen [10] oder für social media Groß-Gruppen [7]. People Analytics ist ein neues Anwendungsgebiet, das auf Big Data und KI aufsetzt.- Man siehe hierzu auch meinen Blog“#PAFOWLondon – People Analytics & Future of Work – Deutschland, wo bist Du?“ vom April 2019 |
Kopplung nichtlinearer Oszillatoren | Symmetrische Tauschfähigkeit unter den Werten. Auch hier erschließt sich mir die Wahl der Zuordnung nur bedingt: Gehe ich mal davon aus, dass es sich nicht (allein) um materielle Werte (Gold, Aktien, usw.) handelt, sondern um Kulturwerte, so geht es nicht nur um Tausch, sondern um Wechselwirkungen und diese müssen auch keinesfalls vollständig symmetrisch sein. | Wie führt die Kopplung nichtlinearer Agenten, u.a. deren Persönlichkeiten (u.a. die Werte, aber nicht nur diese, s.o.) zu nichtlinearen Wechselwirkungen, die wiederum nichtlineare soziale Felder ausbilden. In der Theorie der Selbstorganisation ist die Kopplung nichtlinearer Oszillatoren/Agenten sehr stark mit der Variation der sogenannten Kontrollparameter verbunden [5]. Man siehe auch [9], [10]. |
Kontinuierliche nichtlineare Vorhersage | funktionale Beobachtung, die in der Lage ist, die Zustände eines Systems asymmetrisch zu ordnen und diese Ordnung nach Bedarf auch wieder aufzulösen |
Handlungen
auf der Basis des verallgemeinerten PDCA Zyklus ausgehend von
falsifizierbaren Hypothesen [5]. Ausgestaltung von Systemen mittels der acht Prinzipien der Selbstorganisation [5] und Anwendung des verallgemeinerten PDCA Zyklus. Iterative, selbstkonsistente Ausbildung eines symmetriegebrochenen Makrozustandes |
Das, was sich in einem System zu einem System zusammenstellt (griech. syn-histamein), greift aus dem System heraus, um innerhalb des Systems eine Ordnung aufrechtzuerhalten oder herzustellen.
Dies entspricht in der Theorie der Selbstorganisation der Ausbildung von Ordnungsparametern und der damit verbundenen Emergenz von Makrostrukturen [5], [10], [9].
Mit der Kybernetik und ihrer Rezeption der mathematischen Kommunikationstheorie Claude E. Shannons wird jedoch eine Mathematik verfügbar, die für diese Ergänzungsbedürftigkeit einen eigenen Begriff hat, denjenigen der Nichtlinearität, und die in der Lage ist, diesen Begriff auf die Beschreibung von Gesamtsystemeigenschaften zurückzubeziehen, die mit Hilfe der Thermodynamik nicht mehr mechanisch verstanden werden müssen, sondern als Zustände gemischter Ordnung und Unordnung verstanden werden können. Der entscheidende Punkt hierbei ist die Verwendung eines probabilistischen Ordnungsbegriffs, der sowohl den Zufall als auch die Entscheidung zu inkorporieren erlaubt, und so erstmals den Systembegriff auf die Spitze der Differenz eines Ereignisses stellt, bei dem alles darauf ankommt, den Unterschied zwischen System und Umwelt zu verstehen und zu verarbeiten. »Zufall « heißt einerseits Unsicherheit und andererseits Material für abweichende Elemente und Operationen.
Damit ist klar, daß die Operationen eines Systems zwischen das Rauschen und den Zufall einerseits und die Entscheidung und die Beschreibung eines dafür passenden Möglichkeitsraums andererseits eingespannt sind.
Die Theorie von Komplexität und Chaos ist eine deterministische Theorie. – Z.B. ist die rekursive (!) Gleichung, auf der die Mandelbrot Bäumchen basieren, eine deterministische Gleichung. Jedoch ist die numerische Sensitivität dieser Gleichung so enorm hoch, dass sich wohldefinierte chaotische Strukturen ergeben: Hiermit wird oft die Metapher verbunden, dass ein Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Hurrikan in New York auslösen kann. Ereignisse werden als „Zufall“ sichtbar, da sie andere (dominante) Ereignisse aufgrund einer gerade vorliegenden Systemkonstellationen mitauslösen: Der Flügelschlag des Schmetterlings (Zufallsereignis) löst aufgrund der aktuellen Wetterverhältnisse (Systemkonstellation) einen Hurrikan (neues Ereignis) aus. Natürlich können Systeme verschiedene „Mischungen“ von Ordnung oder Unordnung enthalten (was immer man auch als Ordnung oder Unordnung ansieht): Eine Gruppe von Personen votiert für A und eine andere Gruppe von Personen votiert für nicht-A. Aufgrund eines Ereignisses und der aktuellen Systemkonstellation kann das soziale Systeme in eine bestimmte dominante Struktur (Ordnung) wechseln: Alle votieren für A. Und natürlich ist es möglich und sinnvoll solche „Mischungen“ und deren Änderungen mit Wahrscheinlichkeiten zu belegen. Rauschen und Zufall können je nach Kopplungsstärke in Systemen, Systeme stabilisieren (u.a. zur selbstorganisierten Synchronisation führen) oder destabilisieren [9]. – Fehlende Informationen (auf Mikroebene) werden durch Aussagen zu Wahrscheinlichkeiten oder zu Wahrscheinlichkeitsverteilungen „kompensiert“.
Die Systemtheorie, so dann auch Niklas Luhmann, hat es mit Prozessen einer »Konstitution von oben« zu tun, nicht einer »Emergenz von unten«.
Die Systemtheorie hält sich damit an das Vorbild der Thermodynamik.
Wie weiter oben schon skizziert, enthält die Systemtheorie nach Luhmann meines Erachtens eine große Einseitigkeit in der Betrachtungsweise. Die Thermodynamik hatte, wie schon erwähnt, sehr lange Zeit, aus der „wissenschaftlichen Not heraus“ – d.h. das Wissen war noch nicht so weit – ebenfalls diese einseitige Betrachtungsweise. Mit der statistischen Mechanik oder Quantenmechanik hat sich ihre Betrachtungsweise seit Ludwig Boltzmann erheblich erweitert.
Das muß nicht darauf hinauslaufen, das System als etwas zu verstehen, was mehr ist als die Summe seiner Teile, wie eine allzu oft zitierte aristotelische Formel holistischen Denkens lautet. Die Systemtheorie rechnet auch mit der Möglichkeit, daß das Ganze, verstanden als System, weniger ist als die Summe seiner Teile, und dies deswegen, weil die Teile eine höhere reflexive Kraft haben als das Ganze. Sie profitieren davon, wenn man so sagen darf, daß sie im Verhältnis zueinander mehr Probleme zu bewältigen haben als das Ganze.
In [5] skizzieren wir diese Aussage mit folgender Abbildung 1, sie ist eine Basis des Komplexitätsverständnisse im Management 4.0:
Abbildung 1: Komplexität und Entropie
Entscheidend ist das Verständnis des Systems als intervenierender Variable.
Eine der griffigsten Möglichkeiten, diesen Sachverhalt der nichtlinearen Reproduktion auf den Punkt zu bringen, besteht im Graph der perturbierten Rekursion, wie ihn Peter Bøgh Andersen gezeichnet hat.
Abbildung 2: System-Rekursion: Auf der Basis von [2].
Die Bezeichnung jener Black box, die für die Verschaltung von Rekursion und Perturbation verantwortlich ist, als »Prozeß« ist hier wie so oft ein Verlegenheitsbegriff, der die Stelle besetzt, an der von »Selbstorganisation« als dem entscheidenden Vermögen komplexer Phänomene die Rede sein müßte. Immerhin jedoch können wir aus dem Graph die basale Ungleichung der Systemtheorie ableiten, die das System, S, als Funktion seiner selbst, S, und seiner Umwelt, U, beschreibt:
S = S (S, U)
und daraus die Konsequenz ableitet:
S ≠ S.
Diese Paradoxie, die mit jedem auf eine Umweltstörung reagierenden Schritt der Systemreproduktion S als S identifiziert und differiert zugleich, muß aufgelöst werden, wenn das System sich reproduzieren können soll, wobei man sich eine Entparadoxierung nicht nur in der Zeitdimension des Sinns, abhängig vom Zeitpunkt t, St ≠ St‘, sondern auch in der Sachdimension, abhängig vom Beobachter b, Sb ≠ Sb’, und in der Sozialdimension, abhängig von der Differenz zwischen ego und alter oder zwischen Ich und Du, Sich ≠ Sdu, vorstellen kann.
Abbildung 2 skizziert schematisch eine Selbstkonsistenzbedingung für ein (komplexes oder selbstorganisiertes) System. Der Begriff Selbstkonsistenz ist hier enorm wichtig. Systeme zeigen, so lange sie existieren, nie das Verhalten S ≠ S, denn dann höheren sie auf zu existieren. Die geforderte Bedingung Selbstkonsistenz würde sich dann wie folgt ausdrücken S =! S, d.h. das System muss sich konsistent selbst erzeugen. Natürliche, technische und soziale Systeme kennen in der „Realität“ keine Paradoxie, Paradoxien entstehen in unserem Verständnis (unseren Theorien und Modellen) der Systeme – nicht in der „Realität“. Das Einführen von Variablen (Zeit, Beobachter, …) ermöglicht die Einführung einer Änderung des Systems nach diesen Variablen. Zum Beispiel für die Variable Zeit ergibt sich statt St ≠ St‘: dS/dt = S (S, U, t). Die Lösungen der Differentialgleichung (wenn sie denn existieren) sind selbstkonsistente Systemzustände.
Will man die Ergebnisse der Auseinandersetzung der Systemtheorie mit den ungelösten Fragen der Kybernetik zusammenfassen, so kann man festhalten, daß das System seine eigene Statistik aus einem Zählen gewinnt, zu dem es sich durch Negationen im Medium der eigenen inkommensurablen Komplexität befähigt. Das Problem der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren wird von Sinnfiguren gelöst, die aus oszillierenden Unterscheidungen bestehen, deren Termini in je nach Bedarf und Findigkeit überraschenden und zwingenden Beziehungen zueinander stehen. Und das Problem der kontinuierlich nichtlinearen Vorhersage wird von funktionalen Bewertungen gelöst, die im Kontext der Beobachtung funktionaler Äquivalente stehen, die jede für sich die Frage einer unbekannten Zukunft sowohl aufwerfen als auch zu bearbeiten erlauben.
In Teilen wurde diese Zusammenfassung schon weiter oben betrachtet. Hier kommentiere ich lediglich die Aussage „Kopplung nichtlinearer Oszillatoren wird von Sinnfiguren gelöst“: Im Management 4.0 sagen wir, dass die Wechselwirkung der Menschen über Kontrollparameter (Werte, Grundannahmen, Temperament, Work-in-Progress) so einzustellen ist, dass sich ein Ordnungsparameter (eine Ziel-Hierarchie: u.a. Vision, Mission, Zugehörigkeit) einstellt, der Sinn vermittelt und daraus eine soziale Makrostruktur entsteht, die wir als Collective Mind bezeichnen.
Man darf gespannt sein, ob die Mathematik Anschluß an diese Rezeption mathematischer Ideen in der Systemtheorie finden wird.65 Deutlich ist bislang nur, daß der Rahmen der zweiwertigen Logik für diesen Anschluß der Mathematik unzureichend ist. Doch offen ist, inwieweit eine mehrwertige Logik semantischer Felder jene operative und kategoriale Bestimmtheit erreichen kann, die es erlauben würde, den statistischen Feldbegriff der Thermodynamik an den konstruktivistischen Systembegriff der kognitionswissenschaftlichen Forschung aufschließen zu lassen. Entschieden ist jedenfalls nichts.
65Es ist vermutlich kein Zufall, daß aktuelle Formulierungen der Systemtheorie als Theorie komplexer Systeme (Santa Fe) nur unter der Bedingung der Vermeidung einer Bearbeitung des Selbstreferenzproblems mit einer mathematischen Modellierung kompatibel sind.
Mir erschließt sich diese Aussage nicht wirklich: Operationalisierbare Theorien haben einerseits den Anspruch ein Modell zu liefern, das möglichst nahe an der Realität ist und andererseits für die Modelle auch (mathematische oder durch Simulation erhaltene) Lösungen anzubieten. Falls die Modelle (bisher) keine Lösungen liefern, werden die Modelle oft so einfach gemacht, dass Lösungen möglich sind. Die zitierte Literatur greift aus diesem Grunde der Einfachheit wegen auch auf binäre Modelle mit zwei Zuständen 1 und 0 zurück. – Dies entsprach auch schon vor 25 Jahren nicht mehr dem Stand der Erkenntnis und der mathematischen Technik. Die mathematische Abbildung von Selbstreferenz wird in seiner einfachsten Form mit S*S (x*x =x2) abgebildet und führt zur geforderten (rekursiven) Komplexität (man siehe auch Abbildung 2).
Abbildung 3 zeigt eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Temperamentdimension Extraversion-Introversion im Persönlichkeitsmodell MBTI oder Big Five. Mit der Einführung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen löst sich die binäre Logik auf.- Selbstverständlich wird damit eine mögliche mathematische Theorie wesentlich anspruchsvoller (u.a. sehr viele Freiheitsgrade) und derzeit ist mir keine Theorie bekannt, die auf der Basis von Persönlichkeitspräferenzen über Wahrscheinlichkeitsverteilungen eine emergente soziale Makrostruktur ableiten könnte. – Gleichwohl wird unter einer mathematischen Beschreibung die Klarheit im Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen deutlich erhöht.
Abbildung 3: Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Temperamentausprägung Extrovertiert (E) und Introvertiert (I) mit vereinfachter „zweiwertiger“ Wahrscheinlichkeitslogik (0,8 und 0,2)
Zusammenfassend sehe ich folgenden Nutzen für mein beispielhaftes Schauen über den Tellerrand:
Das eigene Verständnis wird im Betrachten eines Sachverhalts durch eine andere Brille wesentlich geschärft.
Fortschritt entsteht auch wesentlich aus Transdisziplinarität: Andere Sichtweisen helfen eigene Blockaden zu erkennen und damit zur Emergenz neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse beizutragen.
Dies setzt jedoch voraus, dass sich unterschiedliche (wissenschaftliche) Disziplinen einer gemeinsamen Sprache oder zumindest einer gemeinsamen sprachlichen Basis bedienen. – Wie in den obigen Ausführungen zu sehen ist, ist die fehlende gemeinsame Sprache eine große Quelle für potentielle Missverständnisse.
Dieser Blogbeitrag soll auch dazu beitragen in unserem Dialogforum „Projekte neu gedacht“, in dem verschiedenen Disziplinen um ein post-modernes Verständnis zu Projekten ringen, disziplinübergreifende Brücken zu bauen.
[1] Baecker Dirk (2018) 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt. Merve Verlag, Leipzig
[2] Baecker Dirk (2010) System, erstveröffentlicht in: Christian Bermes und Ulrich Dierse (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 6, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2010, S. 389-405 – ISBN 978-3-7873-1916-9, online: www.vordenker.de Neuss 2018, J. Paul (Ed.), ISSN 1619-9324, URL: < http://www.vordenker.de/dbaecker/dbaecker_system.pdf >
[3] Oswald A, Müller W (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, BoD Verlag, Norderstedt
[4] Wikipedia (2019) Trajektorie https://de.wikipedia.org/wiki/Trajektorie_(Sozialwissenschaften), zugegriffen am 09.07.2019
[5] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos, Springer, Heidelberg
[6] Stadelbacher S und Böhle F (2016) Selbstorganisation als sozialer Mechanismus der reflexiv-modernen Herstellung sozialer Ordnung in Böhle F und Schneider W, Subjekt-Handeln-Institution – Vergesellschaftung und Subjekt in der reflexiven Moderne, Velbrück Wissenschaft, Weilerwist
[7] Centola D (2018) How Behavior Spreads: The Science of Complex Contagions (Princeton Analytical Sociology, Band 3), Princeton Univers. Press
[8] West G (2017) Scale: The Universal Laws of Growth, Innovation, Sustainability, and the Pace of Life in Organisms, Cities, Economies, and Companies, Penguin Press, Kindle Edition
[9] Boccalletti S, Pisarchik A N, Del Genio C I, Amann A (2018) Synchronization – From Coupled Systems to Complex Networks, Cambridge University Press, Cambridge UK
[10] Haken H and Schiepek G (2010) Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten, Hogrefe, 2010
danke für Ihre ausführlichen und genauen Kommentare zu meinen beiden Texten. Die Übereinstimmung mit Ideen des agilen Managements überrascht mich nicht; schließlich ist dies eine wesentliche Quelle meiner Überlegungen zu Strukturen der Netzwerkgesellschaft.
Zwei Differenzen sind mir bei der Lektüre Ihrer Kommentare aufgefallen. Zum einen scheinen Sie keinen Bedarf zu sehen, den Kommunikationsbegriff ernst zu nehmen. Er steht in der Theorie sozialer Systeme und sozialer Formen an der Stelle der Mikro/Makro-Differenz, da er es elegant ermöglicht, die Orientierung an Situationen („mikro“) mit Ressourcen zu verknüpfen, die über die Situation hinausreichen („makro“). Das müsste für die Organisations- und Managementtheorie eigentlich höchst interessant sein — und würde es ihr erlauben, auf die Annahme irgendwie physikalisch (und technisch) bereits gegebener Systeme zu verzichten.Denn in dieser Mikro/Makro-Verschränkung „emergieren“ Systeme aus den Operationen, die von Akteuren vorgenommen werden und sich — in Varianten — bewähren. Ich setze „Emergenz“ in Anführungszeichen, weil ich auf diesen Verlegenheitsbegriff zugunsten von „Produktion“ gerne verzichte.
Und zum anderen ist die Theorie selbstreferentieller sozialer Systeme (und Formen) auf die aus der Neurophysiologie übernommene Idee der operationalen Geschlossenheit zwingend angewiesen, die Sie mit Ihrer Bemerkung, Sie würden keine Systeme kennen, die informationell nicht offen wären, in Frage stellen. Man muss diese Theoriefigur, die aus der Kybernetik zweiter Ordnung (Heinz von Foerster) stammt, nicht mitmachen, aber sie ist in der Soziologie enorm fruchtbar, um den Eigensinn ausdifferenzierter sozialer Systeme zu verstehen und zu beschreiben. Und dasselbe gilt, wenn man es sich genauer anschaut, für den Eigensinn des Organismus, des Gehirns und des Bewusstseins. Sie machen sich ihre Information selbst, andernfalls gewännen sie gegenüber ihrer Welt keinerlei Autonomie. Erst im zweiten Schritt, und für den Beobachter, gibt es dann die „Anpassung“, von der Sie sprechen.
Ob es nur „rekursive Komplexität“ gibt, ist eine interessante Frage. Es gibt ja Dutzende von Komplexitätsbegriffen. Luhmann hat immer die beiden Begriffe der Einheit einer Vielfalt und der Unmöglichkeit kompletter Konnektivität präferiert. Für ihn ist Komplexität ein Begriff zur Beschreibung von Welt. Erst mit Systemen kommt Rekursion ins Spiel, vermutlich kam ich deswegen auf die Idee, hier eine Differenz zu setzen. Spricht man von komplexen Systemen, wäre ihre zusätzliche Beschreibung als rekursiv in der Tat ein Pleonasmus.
PS: Die Gleichung S ≠ S, wenn S = S (S, U) ist in der Theorie sozialer Systeme unverzichtbar. Das System erhält seine Identität, indem es sich in Differenz zu sich selbst, das heißt als laufend in der Sach-, Zeit- und Sozialdimension variierendes System ausdifferenziert und reproduziert. Die Gleichung ärgert Mathematiker, ich weiß, aber sie entspricht einer sehr alten und guten Tradition der Pflege von Paradoxien in der Rhetorik (s. dazu Luhmanns Aufsatz „Die Paradoxie der Form“, in: Baecker, Hrsg., Kalkül der Form, Ffm. 1993). Und in der Tat, die Paradoxie bremst die Beobachtung, während die Operation Kommunikation weiterläuft. Damit werden neue, variierende Anschlüsse möglich. Das System reproduziert sich, indem es lernt, sich für „unmöglich“ oder, mindestens, „unwahrscheinlich“ zu halten. Wenn man so will, ist die Paradoxie die systeminterne Abbildung von Nichtlinearität.