Von Egoshootismus und Liberalismus und anderen pathologischen Transformationen

Schon im Blog-Beitrag vom August 2019 ‚Selbstorganisation Straßenverkehr – Der Straßenverkehr ein Spiegelbild unserer Gesellschaft?‘ habe ich die These vertreten, dass im Straßenverkehr immer mehr das eigene Ich zählt: Verkehrsregeln werden missachtet, selbst wenn es gefährlich ist; die Aggressivität nimmt zu und im Zweifel hat das Ich immer recht und dies wird oft dreist und aggressiv zum Ausdruck gebracht. Die Zunahme der panzerartigen SUV’s und Pickups als Rüstungen in Blech sind Zeichen dieser Entwicklung [1]: Sie sind mehr oder weniger verdeckte Egoshooter. – Inzwischen ist Gewalt auch in Arztpraxen angekommen, also bei Menschen, die uns helfen [2].

Abbildung 1: Bilder generiert von Stable Diffusion mittels des Titels als Prompt: Das linke Bild passt sehr gut zum Thema der Spontanen Ordnung mittels Selbstorganisation und der Ausrichtung auf einen Attraktor (‚Engel‘ im Anzug mit Pistole). Das rechte Bild zeigt besser die unschöne Seite des Egoshootings.

Die Motivation für diesen Blog-Beitrag geht zurück auf zwei mit dem Egoshooting  unmittelbar verbundene Themen:

  • Ein Interview mit Christian Lindner [3, 4] auf der OMR 2024 [5],
  • und einen Blog-Beitrag der Nachhaltigkeitsökonomin Julia Steinberger [6] zum Thema Neoliberalismus.

Christian Lindner reagiert auf folgende Interview-Frage “Ein Thema beim Fachkräftemangel ist: Es gibt Studien, die einen direkten Zusammenhang herstellen zwischen Sparpolitik und Erstarken von rechten Parteien. Macht Ihnen das keine Sorgen?” mit dem Satz  “An diese Studien glaube ich nicht. (…)”.

Julia Steinberger sieht den Ursprung der Klimakrise in der westlichen Ökonomieausrichtung des Neoliberalismus bzw. des Klassischen Liberalismus wie er von dem Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek [7, 8] in der Mont Pélerin Society [9] grundgelegt wurde.

Ich stelle die These auf, dass es zwischen diesen zwei o.g. Themen und dem Egoshooting einen verdeckten, aber sehr wichtigen Zusammenhang gibt und dass diese Themen auch eine wichtige Komponente in aktuellen Entwicklungen spielen: Dem Populismus, faschistischen oder autokratischen Tendenzen und sogar unserer überbordenden Bürokratie. Der vorliegende Blog-Beitrag versucht diese These auszuleuchten.

Schaut man sich das Interview von Christian Lindner an, so stellt man fest, dass er die besagte Studie mit einem Glaubenssatz bei Seite schiebt und statt dessen andere Studien heranzieht, die seiner Meinung nach für das Erstarken der rechten Parteien viel wichtiger sind. Dies ist ein bekanntes Muster, das man sehr oft in der Politik findet: Wissenschaftliche Aussagen werden relativiert, in dem andere wissenschaftliche Aussagen herangezogen werden. Dies erfolgt leider so, dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit der ersten Aussage nicht stattfindet. Der Zweck des Musters ist es nicht, Aussagen zu verstehen und in den jeweils gültigen Kontext zu setzen, sondern lediglich zu diskreditieren. Würden die entsprechenden Personen dies nicht tun, müssten sie sich mit unangenehmen Aussagen auseinandersetzen: Im Fall von Christian Lindner ist dies eine ihm nicht genehme wissenschaftliche Studie.

Die Auseinandersetzung kann bedeuten, sich mit eigenen Werten und Glaubenssätzen ernsthaft zu beschäftigen und diese ggf. abzulegen. – Damit könnte die eigene Identität in Frage gestellt werden und man wird angreifbar. Im Fall von Christian Lindner müsste er ggf. folgende tieferliegende Glaubenssätze in Frage stellen (dies sind Beispiele, die ich aufgrund seiner FDP Zugehörigkeit gewählt habe): Jeder ist seines Glückes Schmied. Erfolg lässt sich erarbeiten. Soziale Ausgaben des Staates sind rausgeschmissenes Geld. Die negativen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Überschuldung sind bekannt usw..

Ich fasse diese Muster unter dem Begriff ‚Muster der Wahrheitsrelativierung‘ zusammen, wohl wissend, dass viele unserer Aussagen lediglich Perspektiven sind und keine Wahrheiten. Ich möchte mit dem Begriff der Wahrheitsrelativierung zum Ausdruck bringen, dass es Wahrheiten gibt und dass diese viel öfter auftreten als wir uns dies eingestehen mögen.

Donald Trump dürfte der bekannteste und dreisteste Anwender des Musters der Wahrheitsrelativierung sein: Er lügt dreist und diffamiert Menschen, um seine Interessen durchzusetzen. – Die bekannten Nazigrößen der AfD stehen ihm hierbei sicherlich in nichts nach.

Dass auch heute noch viele Menschen nicht wirklich die drastischen Auswirkungen des Klimawandels als Wahrheit annehmen und ihr Handeln entsprechend anpassen (Elektroauto fahren, weniger Fliegen, weniger Autos kaufen usw.) hat sehr viel mit dieser Wahrheitsrelativierung zu tun.

Da dies im öffentlichen Raum sehr oft, insbesondere auch durch viele unserer Politiker, geschieht, vertrauen sehr viele Menschen den Aussagen der Politiker nicht mehr. – Die indirekte Aussage ist: Es gibt keine Wahrheiten, nur Interessen und dazugehörige Perspektiven. – Schließlich beginnen wir selbst Aussagen zu behaupten, die jeglicher Grundlage entbehren, denn ‚alle‘ machen es so! Die Erzeugung von beliebig unwahren Aussagen mittels KI und deren Verbreitung mittels Social Media sollten wir jedoch nicht diesen beiden Technologien anlasten. – Denn diese gehen auf uns selbst zurück.

Christian Lindner hat zumindest eingestanden, dass er einem Glaubenssatz folgt.- Das ist sicherlich positiv. In vielen Fällen geschieht dies jedoch intransparent.
Indem er einer Suche nach Wahrheit ausgewichen ist, hat er wahrscheinlich viele ermutigt, es ihm gleich zu tun und die Wahrheitsrelativierung für die eigenen Interessen zu nutzen!

Ich füge zum Muster der Wahrheitsrelativierung noch eine persönliche Erfahrung an, die ich im Rahmen einer Social Media Kommunikation gemacht habe.
Der Ablauf ist in diesem Fall deutlich subtiler, gehört aber meines Erachtens zu diesem Muster: Ein Kollege ist der Überzeugung, dass die aktuellen KI-Entwicklungen keinen wirklichen Fortschritt gebracht haben, denn die Mathematik, die der KI heute zugrunde liegt, sei auch diejenige, die er vor 30 Jahren in seiner Diplomarbeit zu neuralen Netzwerken verwendet hat. – Welches Ego macht eine  Aussage möglich, die eine 30 Jahre alte Diplomarbeit mit einer 30-jährigen globalen Entwicklung vergleicht?
Es ist vielleicht sogar richtig, dass sich zum Beispiel die Mathematik der Tensoren seither nicht geändert hat. Deren Anwendung in generativen KI-Systemen auf Basis der Transformer-Technologie hat sich jedoch sehr drastisch verändert.

Ich versuche diese Form der Wahrheitsrelativierung, auf ein berühmtes Beispiel aus der Physik zu übertragen. Dadurch wird deren Absurdität noch deutlicher: 1926 stellte Schrödinger seine berühmte Schrödingergleichung vor, die bis heute eine der fundamentalen Grundlagen der modernen Physik ist. Die Schrödingergleichung ist eine partielle Differentialgleichung, deren mathematische Grundlagen im 18. Jahrhundert von Euler und Lagrange entwickelt wurden. Man stelle sich vor, die Schrödinger Gleichung wäre damals abgelehnt worden, weil sie nichts Neues beinhaltet.

Auch hier kann man die Frage stellen, welche Glaubenssätze machen diese Form der Wahrheitsrelativierung möglich. Hier mein Vorschlag: Wir Menschen sind doch was ganz anderes als KI-Systeme, das sind doch nur Maschinen. Unsere Intelligenz steht weit oberhalb der Intelligenz der KI, diese ist letztendlich dumm. Unbewusste Glaubenssätze können auch auf Gefühlen wie Angst basieren: Ich habe Angst vor KI-Systemen, denn sie bedrohen mich in meiner Einzigartigkeit. usw..

In diesem Fall, wie auch im obigen Beispiel zur Reaktion von Christian Lindner, verhindert die Wahrheitsrelativierung eine aktive Auseinandersetzung mit Perspektiven. Es wird verhindert, diejenige Perspektive zu finden, die der Wahrheit zum relevanten Kontext (wahrscheinlich) am nächsten kommt. Lernen, Entwicklung und Fortschritt, aber auch ein demokratischer Diskurs, werden damit blockiert: Christian Lindner hat mit seinem Ausweichmanöver einen kleinen, aber nicht unwesentlichen Beitrag zur Blockade des demokratischen Diskurses beigetragen.      

Ich halte fest: Das Muster der Wahrheitsrelativierung ist inzwischen nahezu überall anzutreffen. Die Sozialen Medien machen die Verbreitung in Form der Diskreditierung von (wissenschaftlichen) Erkenntnissen sowie der Verbreitung von  Lügen und (Deep) Fake News möglich. Wir alle tragen mehr oder weniger hierzu bei, insbesondere seit wir über Social Media auch zu öffentlichen Personen geworden sind. Wir sind jetzt öffentliche Personen, da unsere mediale Reichweite mit Social Media um ein Vielfaches größer geworden ist. – Unser Meinung wird mittels Social Media skaliert!      

Soziale Medien sind heute wahrscheinlich mit Abstand die wichtigsten Technologien, um soziale Selbstorganisation zu skalieren: Äußert eine Person in einem großen sozialen Medium eine Wahrheitsrelativierung, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass diese von einem Personenkreis mit ähnlichen Werten und Glaubenssätzen aufgegriffen wird und weiter verbreitet wird. Es bildet sich in diesem so geschaffenen (temporären) Netzwerk eine gemeinsame Richtung der Wahrheitsauffassung aus. – In der Theorie der Selbstorganisation spricht man von der Ausbildung eines Ordnungsparameters oder von einem Attraktor.

Attraktoren spielen u.a. in der Ökonomie und im Liberalismus als (dynamische) Systemgleichgewichte eine sehr große Rolle. Preise, die sich aufgrund von Angebot und Nachfrage herausgebildet haben, charakterisieren ein ökonomisches Gleichgewicht. – Preise sind, wie auch von vielen geteilte  Meinungen, Beispiele für Attraktoren, die eine spontane Ordnung in einem System charakterisieren.

Ich komme damit zum zweiten o.g. Thema: Der Klassische Liberalismus geht davon aus, dass das Marktgeschehen, ohne staatliche Intervention, das bestmögliche ökonomische Gleichgewicht durch spontane Ordnung (also Selbstorganisation) erreicht. Der Neuliberalismus deutscher bzw. europäischer Prägung vertritt jedoch die Ansicht, dass gewisse Interventionen in den Markt notwendig sind, um Verwerfungen des Marktes (wie zum Beispiel Oligopole, Monopole, usw.) zu korrigieren. Der von Julia Steinberger in ihrem Blog angesprochene Neoliberalismus ist nicht mit dem europäischen Neuliberalismus zu verwechseln, sondern steht für den Klassischen Liberalismus amerikanischer Prägung. Die Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek und Milton Friedman [10] sind die (wissenschaftlichen) Wegbereiter des modernen Klassischen Liberalismus (= Neoliberalismus). Gemäß Julia Steinberger sind die damit verbundene kapitalistische Ökonomie und Politik für das Desaster der Klimakrise und moderne Formen der kapitalistischen Ausbeutung verantwortlich.

Liest man das Buch von Naomi Klein, The Shock Doctrine [11], so kann man nur zum gleichen Schluss kommen: Ihre These ist, dass auf der Basis des Neoliberalismus Vertreter des amerikanischen Kapitalismus bewusst Notlagen von Menschen in Katastrophen ausnutzen, um diese auszubeuten und an deren Eigentum zu gelangen. Teilweise ginge dies soweit, dass Notlagen bewusst herbeigeführt würden, um eine bessere Welt zu erschaffen. Geleitet würden diese Kapitalisten von dem Sendungsbewusstsein eine Marktwirtschaft zu erschaffen, in der persönliche Freiheit sich vollkommen entfalten kann. Diese Marktwirtschaft sei die Basis für die ‚beste aller Welten‘.

Hört man Donald Trump zu, so kann man auf die Idee kommen, dass er ein (zentraler) Vertreter dieses Sendungsbewusstseins ist.

Ich will verstehen, ob man Hayek für diese Form des Egoshootismus und Liberalismus mitverantwortlich machen kann. Ich kann nicht beurteilen, was er wie bei welcher Gelegenheit, u.a. in der Mont Pélerin Society, gesagt hat. Statt dessen habe ich mir daraufhin sein letztes großes Buch ‚Recht, Gesetz und Freiheit‘ [12] über spontane Ordnung in Gesellschaft und Ökonomie angesehen. Dieses Buch besteht in der englischen Version aus drei Teilen, die im Zeitraum 1973 bis 1979 erschienen sind [13], also in einem Zeitraum als Hermann Haken [14] mit der Theorie der Selbstorganisation die Wirkweise des Lasers als selbstorganisiertes System schon modelliert hatte. Es gibt in ‚Recht, Gesetz und Freiheit‘ keinen Hinweis darauf, dass Hayek die Theorie der Selbstorganisation kannte, wenngleich er den ein oder anderen Bezug zu den Naturwissenschaften vorgenommen hat.

Ich zitiere im Folgenden einige Aussagen von Hayek aus ‚Recht, Gesetz und Freiheit‘ und betrachte sie aus dem Blickwinkel der Theorie der Selbstorganisation:     

„<Das> Gefüge menschlicher Tätigkeiten paßt sich unablässig an Millionen von Tatsachen an, die in ihrer Gesamtheit keinem einzelnen bekannt sind, und es funktioniert aufgrund dieser Anpassung.“
Dies ist eine korrekte Aussage zur systemischen Wirkung von Selbstorganisation.

„Aus diesem Grunde beschränkt der Liberalismus eine vorsätzliche Einflussnahme auf die Gesellschaftsordnung insgesamt auf die Durchsetzung solcher allgemeinen (Anm. abstrakten) Regeln, wie sie zur Bildung spontaner Ordnung nötig sind, deren Einzelheiten wir nicht vorhersehen können.“…Im Falle spontaner Ordnung können wir durch einige ihrer  Bestimmungsfaktoren ihre abstrakten Züge festlegen; hingegen müssen wir die Einzelheiten Umständen überlassen, die wir nicht kennen.“

Hayek spricht von abstrakten Regeln, um zu unterstreichen, dass diese Regeln nicht kleinteilig sein dürfen. Er betont auch, dass Komplexität unmittelbar mit Unwissenheit verbundenen ist und dass deshalb die von Menschen geplante Gestaltung von abstrakten Regeln immer die zweite Wahl ist. In der Theorie der Selbstorganisation werden diese allgemeinen Regeln als Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter bezeichnet. Selbstorganisation entfaltet sich nur dann mit sichtbaren emergenten Strukturen, wenn dem System für die Entfaltung genug Freiheitsgrade gelassen werden: Also die Kontrollparameter entsprechend (klug) gewählt worden sind. Hayek‘s Buch behandelt zum großen Teil die sinnvolle Gestaltung der abstrakten Regeln also der Kontrollparameter (u.a. Verhaltensregeln, Recht, Moral). Er weist auch richtiger Weise daraufhin, dass die Kontrollparameter Zweck- und Ziel-frei sind bzw. sein müssen. Er erkennt jedoch noch nicht, dass eine moderne Gesellschaft aus einer Hierarchie von ineinander geschachtelten selbstorganisierten Systemen besteht. Übergeordnete selbstorganisierte Systeme geben ihre Ziele über Rahmenparameter den untergeordneten selbstorganisierten Systemen mit. – Damit ist es durchaus möglich, dass sich eine Ziel-Hierarchie ausbildet.

„Der zentrale Begriff, …, ist der der Ordnung, insbesondere die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Ordnung, die wir vorläufig als >>erzeugte<< und als >>gewachsene<< Ordnung bezeichnen wollen.“
„…es kann nie vorteilhaft sein, die (Anm. abstrakten) Regeln einer spontanen Ordnung zu ergänzen durch vereinzelte und subsidiäre Befehle… das ist der Kern des Argumentes gegen >>Eingriffe<< oder >>Interventionen<< in die marktliche Ordnung…Das allgemeine Argument gegen >>Interventionen<< läuft somit darauf hinaus, dass wir zwar trachten können, eine spontane Ordnung durch Revision der allgemeinen (Anm. abstrakten) Regeln, auf denen sie beruht, zu verbessern…., daß wir aber nicht die Ergebnisse durch spezifische Befehle verbessern können…“
„Obwohl es vorstellbar ist, daß die spontane Ordnung, die wir Gesellschaft nennen, ohne Staat existiert, …, so erweist sich doch in den meisten Fällen die Organisation, die wir Staat nennen, als unentbehrlich, …“
„Obwohl spontane Ordnung und Organisation immer nebeneinander bestehen werden, ist es nicht möglich, diese zwei Ordnungsprinzipien beliebig zu mischen.“ „Die Behauptung, wir müßten die moderne Gesellschaft vorsätzlich planen, weil sie so komplex geworden sei, ist also widersinnig…“

„…daß die einzige Möglichkeit, über die Kapazität des individuellen Verstandes hinauszugehen, darin besteht, sich auf jene überpersönlichen >>selbstordnenden<< Kräfte zu stützen…“ „Die These dieses Buches lautet: Ein Zustand der Freiheit, in dem alle ihr Wissen für ihre Zwecke gebrauchen dürfen und dabei nur durch allgemein gültige Regeln gerechten Verhaltens eingeschränkt sind, bietet Ihnen wahrscheinlich die besten Voraussetzungen zur Erreichung ihrer Ziele; …“ „Was ich in der Weg zur Knechtschaft nachweisen wollte, war… wenn wir sagen: >>Wenn du nicht deine Grundsätze änderst, wirst du zum Teufel gehen<<…“ „ Eine erfolgreiche Verteidigung der Freiheit muß daher dogmatisch sein…Es liegt ein Mißverständnis vor, wenn man dem klassischen Liberalismus vorwirft, er sei zu doktrinär gewesen. Sein Fehler bestand nicht darin, daß er sich allzu starr an Grundsätze gehalten hätte, sondern darin, daß ihm genügend eindeutige Grundsätze fehlten, …“

Diese Sätze bringen die zentralen Prämissen des Hayek’schen Verständnis von spontaner Ordnung zum Ausdruck: Spontane Ordnung, die keiner Intervention unterliegt, führt immer zu guten ‚heiligen‘ Ergebnissen. – Sie ist der Garant für unsere persönliche Freiheit. Der Klassische Liberalismus muss mit eindeutigen Grundsätzen diese Wahrheit vertreten.- Alle anderen Grundsätze führen ‚zum Teufel‘. Wie wir aus der Theorie der Selbstorganisation wissen, erfordert spontane (soziale) Ordnung ein Management am System. Kleinteiliges Management ist schädlich für die Emergenz. Leider ist es aber so, dass die emergenten Phänomene auch in der Natur nicht immer wünschenswert sind. Im Sozialen können wir durchaus von ‚guten‘ und ‚bösen‘ emergenten Phänomenen sprechen. Wenn sich ein Mob (über Social Media) selbstorganisiert, dann ist dies sicherlich eine ‚böse‘ spontane Ordnung. Wenn Trump in seiner Person mit seinen ‚bösen‘ Äußerungen einen sozialen Attraktor bildet, dann ist dies sicherlich eine ‚böse‘ spontane Ordnung. Gleiches gilt für mich auch für die AfD und andere Populisten. Das Eingreifen in ein soziales System verhindert nicht automatisch emergente Phänomene. Es ist jedoch richtig, dass der gelungene Eingriff wesentlich mehr Theorie und Praxis erfordert, als gemeinhin wahrscheinlich in Politik und Gesellschaft verfügbar ist. Es ist durchaus möglich, eine spontane Ordnung durch menschliche Interventionen zu erzeugen, denn sonst wäre Führung nicht möglich und technische Systeme auf der Basis von Selbstorganisation, wie KI Systeme, wären ebenfalls nicht möglich. Wie eine sehr aktuelle Studie zur Wirksamkeit von Interventionen im Zusammenhang mit der Klimakrise zeigt, ist die Mischung verschiedener Interventionsarten durchaus sinnvoll und notwendig [15]. Hayek ist also zwei großen Irrtümern erlegen: Spontane Ordnung führt per se nicht immer zu ‚guten‘ Ergebnissen.- Interventionen sind deshalb recht oft sogar notwendig und sie können auch zu einem besseren Ergebnis führen. Es gibt keine Trennung zwischen geplanter Ordnung und spontaner Ordnung: Der Unterscheid liegt lediglich in der Zahl der Freiheitsgrad und damit in der Möglichkeit (d.h. Wahrscheinlichkeit) emergente Phänomene auszubilden.

Aus diesen Prämissen ergeben sich einige Konsequenzen, hier beispielhaft durch Zitate verdeutlicht:

„Daß Eltern in der Wahl ihres Wohnortes oder ihrer Beschäftigung für gewöhnlich die Auswirkungen bedenken, die ihre Entscheidungen auf die Zukunftsaussichten ihrer Kinder haben werden, ist ein wichtiger Faktor in der Anpassung der Nutzung von Humankapital… Würde man Ihnen versichern, dass wo immer sie hinziehen …, der Staat zu garantieren hätte, dass die Chancen für Ihre Kinder die gleichen wären, …so würde in jenen Entscheidungen ein wichtiger Faktor außeracht bleiben, der diese im Allgemeininteresse leiten sollte.“

Basierend auf den Hayek’schen Prämissen der spontanen Ordnung ist dies eine schlüssige Konsequenz. Heutige politische Bestrebungen in Deutschland streben das Ideal der Elternhaus-unabhängigen Chancengleichheit für Kinder über eine entsprechende Bildungsinfrastruktur an. Die US-amerikanische Bildungspolitik verfolgt das Ideal der Elternhaus-unabhängigen Bildungspolitik nicht. – Der Liberalismus amerikanischer Prägung ermöglicht hingegen Bildungs-Attraktoren, wie Harvard/MIT, Princeton oder Stanford, wie wir sie in Europa in dieser ‚Attraktivität‘ nicht kennen. Er ermöglicht auch Kapital-Attraktoren wie Google, Apple oder Amazon und damit verbundene Innovations-Attraktoren wie Tesla, Openai und Nvidia, die ihrerseits inzwischen zu Kapital-Attraktoren geworden sind.

„In einer freien Gesellschaft besteht das Allgemeinwohl hauptsächlich in der Erleichterung der Verfolgung unbekannter individueller Ziele.“ …“Der klassische Liberalismus beruht auf einem Glauben an objektive Gerechtigkeit.“…“Der Sinn des ökonomischen Spiels, in dem nur das Verhalten der Spieler, nicht aber das Ergebnis gerecht sein kann.“ „Die Entlohnung, die Einzelpersonen und Gruppen auf dem Markt beziehen, bestimmen sich also danach, was ihre Leistungen denjenigen wert sind, … und nicht nach irgendeinem fiktiven >>Wert für die Gesellschaft<<.“…“Eine freie Gesellschaft ist eine pluralistische Gesellschaft ohne gemeinsame Hierarchie konkreter Ziele.“

Die eine Seite der Medaille des Klassischen Liberalismus sind die durch ‚freie‘ Selbstorganisation entstehenden diversen Arten von enorm skalierenden Attraktoren (u.a. Bildung, Kapital, Innovationen,…), die andere Seite der Medaille ist die Ablehnung aller übergeordneten Ziele gesellschaftlicher Verantwortung, wie Gerechtigkeit und sozialer Markt oder die Milderung und Abschaffung der Ungleichheit auf globaler Ebene. Auch übergeordnete Ziele zu Nachhaltigkeit, Artenschutz und Naturschutz haben im Klassischen Liberalismus keinen Platz. Neben den schon oben geschilderten falschen Prämissen des Klassischen Liberalismus zu spontaner Ordnung, liegt meines Erachtens eine weitere nicht explizit genannte Prämisse vor: Menschen haben unterschiedlich gute Startpositionen, sei es in DNA, Elternhaus oder Kulturkreis. Damit bilden sich über eine ‚freie‘ spontane Ordnung automatisch Wettbewerbsverzerrungen und damit soziale Ungerechtigkeiten aus. Hinzu kommt, dass neben der Startposition und dem Glück die Skalierungseffekte der Selbstorganisation einen enormen Beitrag zu der Ausbildung von gigantischen Attraktoren liefern. ‚The winner takes it all‘, wie man sagt: Amazon, Google oder Apple verdanken ihren enormen Erfolg zu einem sehr großen Teil diesen Skalierungseffekten. Wenn die gigantischen Attraktoren einmal vorliegen, bündeln sie ungeheure Macht und Kapital mit all den uns aktuell bekannten Vor- und Nachteilen.

Die europäische Politik weiß wahrscheinlich, um diese Vor- und Nachteile. Ich vermute aber, dass sie sehr viel weniger um deren Ursachen weiß. Hayek spricht richtiger Weise von abstrakten allgemeinen Regeln. Im Management 4.0 sprechen wir von der Governance der Selbstorganisation. Leider stimmt die Analyse von Hayek dahingehend sehr gut, dass eine Unkenntnis der Governance (d.h. der abstrakten allgemeinen Regeln der Selbstorganisation) einen „Weg in die Knechtschaft“ eröffnet: Statt abstrakte allgemeine Regeln der Selbstorganisation zu suchen und anzuwenden, werden kleinteilige Regeln erstellt. Es entsteht Bürokratie. – In Europa und Deutschland kennen wir dies zur Genüge.

Ich halte fest: Friedrich August von Hayek beschreibt in seinem Buch ‚Recht, Gesetz und Freiheit‘ viele gute Erkenntnisse zur sozialen Selbstorganisation.- Für die Zeit, in der diese Erkenntnisse entstanden sind, sind dies sehr beachtliche Erkenntnisse. Soweit ich die amerikanische Kultur kenne, beschreibt er damit einen Liberalismus amerikanischer Prägung, der (wahrscheinlich) schon lange vor seinen Erkenntnissen existierte: Es ist die US-amerikanische Kultur. Dieser Liberalismus ermöglich über soziale Selbstorganisation Attraktoren von einer Größe, die wir in Europa nicht (mehr) kennen. Gleichzeitig verhindert der Liberalismus über falsche Prämissen eine aktive menschenwürdige Gestaltung der sozialen Selbstorganisation. Übergeordnete Ziele der Gesellschaft wie ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen und ein nachhaltiger Umgang mit Natur und Tier sind nicht erlaubt, da sich damit die spontane Ordnung, die die größtmögliche Freiheit für alle (Anm. alle?) garantiert, nicht ausbilden kann.

Ich fasse zusammen: Ich gehe nicht davon aus, dass wir heute größere und bösere Egoisten als vor 100 Jahren sind. Was sich jedoch geändert hat, sind die Möglichkeiten der Skalierung von Selbstorganisation mittels Social Media: Viele große und kleine Attraktoren der spontanen Ordnung bilden sich heute sehr schnell aus. Manche wachsen zu enormer Größe. Diese Attraktoren sind nicht zwangsläufig ‚gut‘, sie können durchaus sehr ‚böse‘ sein. Sie geben denjenigen, die sie anziehen ein Zugehörigkeitsgefühl, das sich in einem neuem Selbstbewusstsein äußert. – Das kann sich auch im Straßenverkehr bemerkbar machen.

Die dringende Notwendigkeit Mensch und Natur global zu schützen, erfordert meines Erachtens u.a. eine Neuausrichtung der Ökonomie, in die Wissen um Vor- und Nachteile der sozialen Selbstorganisation einfließen müssen: Falls die Hauptprämissen der Hayek’schen Ökonomie einer Revision unterzogen werden, sollte sie auch in Zukunft noch eine Rolle spielen.

[1] Spiegel (2024) Pickups in Europa, https://www.spiegel.de/auto/pick-ups-in-europa-wie-der-ram-1500-deutsche-strassen-erobert-a-40680cef-803d-452e-9114-815ab36b0998https://www.montpelerin.org/Home.html

[2] ZDF (2024) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/aerzte-gewalt-eskalation-praxen-100.html?at_medium=Social%20Media&at_campaign=ZDFheuteApp&at_specific=ZDFheute&at_content=iOS

[3] Schulz E und Lindner C (2024) https://www.youtube.com/watch?v=dvfLkE1EQLQ

[4] Bautz C (2024) https://www.linkedin.com/posts/christoph-bautz_frage-an-finanzminister-christian-lindner-activity-7194745312287117312-FBa2/?utm_source=share&utm_medium=member_ios

[5] OMR (2024) https://omr.com/de/events/festival/

[6] Steigenberger J (2024) What we are up against,

https://medium.com/@jksteinberger/what-we-are-up-against-2290ba8c4b5c, erschienen 17.06.2024

[7] Wikipedia (2024) Friedrich August von Hayek, https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_August_von_Hayek

[8] Hayek Gesellschaft (2024) https://hayek.de/

[9] Mont Pélerin Gesellschaft (2024) https://www.montpelerin.org/

[10] Wikipedia (2024) Milton Friedman, https://de.wikipedia.org/wiki/Milton_Friedman

[11] Klein N (2014 ) The Shock Doctrine, The rise of disaster capitalism, Penguin, kindle edition

[12] Hayek F.A. (2013) Recht, Gesetz und Freiheit, Hayek Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, B 4, Nachdruck, Mohr Siebeck, Tübingen

[13] Walter Eucken Institut (2024) https://www.eucken.de/publikation/recht-gesetz-und-freiheit/

[14] Wikipedia (2024) Hermann Haken, https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Haken_(Physiker)

[15] Spiegel (2024) https://www.spiegel.de/wissenschaft/klimaneutralitaet-bis-2050-studie-zeigt-welche-massnahmen-besonders-wirksam-sind-a-6d162367-f1ff-427a-b4a0-34d7827dea4c?sara_ref=re-so-app-sh

„Einheit in der Vielfalt“ oder von der Selbstorganisation des Marktes

Anlässlich des 30zigsten Jahrestages der Deutschen Einheit wurde der Zukunftsforscher Daniel Dettling vom Zukunftsinstitut zum Stand der deutschen Einheit interviewt [1]. Er kommt zu dem auf den ersten Blick erstaunlichen Schluss „Der Westen wird sich dem Osten angleichen“. Dies basiert auf der weitreichenden Erkenntnis „Wir leben 2050 in einem Deutschland und Europa der Regionen. Landkreise und ihre Kommunen haben ähnliche Kompetenzen wie die Bundesländer und können vor Ort autonomer agieren, angefangen von den Schulen bis hin zu Steuern.“ – Die „Einheit in der Vielfalt“ sei das zukünftige Einende. – Dettling identifiziert nicht Geld, als den entscheidenden Ordnungsparameter, sondern er spricht vom „Glücksfaktor“, bei dem der Osten schon weiter sei als der Westen.

Man braucht nicht sehr „quer“ zu denken, um zu erkennen, dass dies nichts anderes ist als einer der Grundgedanken der Selbstorganisation, der sich auch im gesellschaftlichen Raum seinen Weg bahnt.

Die Grundgedanken der Selbstorganisation „Einheit in der Vielfalt“, die Suche nach Sinn, die Einführung von Nachhaltigkeit, die Ersetzung des Wettbewerbsgedankens durch den Kollaborationsgedanken, alle dies sind Ausdruck eines weiter entwickelten  gesellschaftlichen Bewusstseins, das sich anschickt zu emergieren.

In einem Artikel auf nature communication warnen Nachhaltigkeitsökonomen erst kürzlich vor den Konsequenzen des Überflusses. Sie skizzieren Konzepte, die auf dem Grundgedanken der Selbstorganisation beruhen und hier Abhilfe schaffen sollen [2]. Dies wird flankiert von den datenbasierten Forschungsergebnissen meines Sohnes Yannick, dass der Energie-Fußabdruck ganz wesentlich mit dem Einkommen und damit mit dem Überfluss korrespondiert [3]. Man siehe hierzu und zur korrespondierenden Oxfam-Studie auch den Kommentar in Forbes [4].

Der ein oder andere mag auf die Idee komme, dass dies dem Kapitalismus bzw. dem ungezügelten Kapitalismus zuzuschreiben ist. – Dies ist nicht ganz von der Hand zu weisen, jedoch liegt das Problem meines Erachtens tiefer. Es hat viel mehr mit den aktuell (noch) vorherrschenden Werte-Memen zu tun, die besagen, dass „Wer (mehr) Erfolg hat, hat auch ein Anrecht auf (mehr) Entlohnung, also mehr Überfluss“, dass „Innovationen schon immer unser aller Lebensstandard gehoben haben und deshalb (immer) gut sind“, und dass „wir klare Fakten brauchen, die keinen Zweifel aufkommen lassen, bevor wir die Pferde scheu machen, denn es ist noch immer gut gegangen ist“. Diese Aussagen sind zentrale Werte-Meme des sogenannten orangenen Werte-Mems. Das orangene Werte-Mem ist weitgehend blind für eine Relativierung unserer anthropozentrischen Bedeutung und unserer systemischen Einbettung. – Deshalb sind auch datenbasierte Forschungsergebnisse so wichtig; neben Rahmenbedingungen wie Corona oder ersten großen Klimaschäden, die einen mächtigen Druck zum Umdenken ausüben, ist es sehr wichtig, das orange Mem mit einer seiner eigenen Waffen, der „datenorientierten Innovation“, zu schlagen, um so mitzuhelfen, eine Transformation anzustoßen. – Denn, …der Überfluss entspringt einem Denken und Handeln, das nicht mehr zum 21. Jahrhundert passt.

In [2] wird ein „neuer Lebensstil für das 21. Jahrhundert“ vorgeschlagen. – Die nachfolgende Tabelle zeigt wie stark diese Vorschläge mit den im Management 4.0 vorgeschlagenen Werte-Memen korrespondieren [5]. Dieser Werte-Mem Shift hat schon vor mehr als 25 Jahren eingesetzt, denn man kann ihn an den Entwicklungen festmachen, die zum Agilen Manifest führten:

Nachhaltige Ökonomie/
Gesellschaft [2]

Management 4.0 [5]

Das Bruttoinlandsprodukt ist kein geeignetes Maß für Wohlstand oder gar den „Glücksfaktor“. – Dies entspricht der Aussage: Preise bzw. Geld sind keine Sinngeber!

Der überbordende Work-in-Progress von einzelnen Personen, Teams oder Organisationen ist letztendlich die organisationale Repräsentation des Glaubens „Geld ist der entscheidende Träger von Sinn“.

Der WIP ist vielmehr zu limitieren und als „falscher“ Ordnungsparameter zu entlarven, um den Weg für einen sinngebenden Ordnungsparameter frei zu machen.

Ermächtige Menschen auf allen Ebenen zur Partizipation und Demokratie mit stärkerer Selbst-Governance auf lokaler Ebene.

Führe Selbstorganisation ein, die auf den synergetischen Prinzipien der natürlichen Selbstorganisation beruht. Baue eine entsprechende dynamische Governance-Architektur auf.

Betone Gleichheit und reduziere Ungleichheit durch Umverteilung

Betone individuelle Wertschätzung und reduziere wertvernichtende Komplexität durch einen integralen Ansatz.

Unterstütze die Transformation des ökonomischen Systems durch die Betonung von Forschung und Innovation in einem kollaborativen lokalen Umfeld (bei gleichzeitiger Reduktion von Massenproduktion in einem Wettbewerbsumfeld) 

Richte die Organisation an einer innovativen Ziel-Hierarchie (z.B. Collective Mind, Story Map, OKRs,…) aus, die den Menschen in der Organisation Sinn vermittelt und ermögliche dies durch Kollaboration statt Silo-Denken und Wettbewerb.

Sorge für Kapazitäten in der (digitalen) Bildung sowie im Austausch von Know-How zwischen lokalen gesellschaftlichen Einheiten 

Sorge dafür, dass durch geeigneten Austausch Selbstorganisation und Skalierung von Organisationen Hand in Hand gehen.

 

In [2] werden zusätzlich unterschiedliche Organisationsformen skizziert, die sich insbesondere in der Ausgestaltung der Governance-Architektur unterscheiden: Nämlich, ist die Governance-Architektur eher dynamisch oder statisch?; gibt es eine übergeordnete Governance, die die Einheit in der Vielfalt sicherstellt?; und gibt es eine Governance, die die Wechselwirkung zwischen lokalen Einheiten im gesellschaftlichen System reguliert?

Auch im Management 4.0 kennen wir genau diese Fragestellungen.- Die meisten Agilen Handlungsrahmen (wie Scrum und Kanban oder SAFe und LeSS) verfügen lediglich über eine statische Governance. Nur der Handlungsrahmen Soziokratie bzw. der hiervon abgeleitete Handlungsrahmen Holacracy verfügt über eine dynamische Governance. Der Handlungsrahmen Scaled Agile Management 4.0 beruht auf einer dynamischen Governance, die zusätzlich auf den Prinzipien der natürlichen Selbstorganisation (Synergetik) beruht.

In dem Deutschlandfunk-Beitrag „Die Wertedebatte, Wie fünf Ökonominnen Wirtschaft und Politik neu verbinden“ [6] werden die volkswirtschaftlichen Konzepte der fünf bedeutenden Ökonominnen Mariana Mazzucato, Kate Raworth, Esther Duflo, Stephanie Kelton und Carlota Pérez skizziert. Ich zitiere beispielhaft hieraus zu einem „neuen Lebensstil für das 21. Jahrhundert“:    

„Voraussetzung wäre jedoch auch in ihren Augen der Abschied von traditionellen Theorien der Volkswirtschaft. Statt sich weiter an den Modellen der industriellen Massenproduktion zu orientieren, bei denen Wachstum, Erwerbsarbeit, Besitz und dergleichen wichtig sind, gelte es, einen neuen Lebensstil für das 21. Jahrhundert zu entwickeln.

Die Zukunft ist nicht immer die Fortführung der jüngsten Vergangenheit. Der Staat muss die Wettbewerbsbedingungen in eine synergistische Richtung lenken. Eine Richtung, in der das, was einer tut, allen anderen zugutekommt, sodass wir diese fantastische gemeinsame Energie für Wachstum und Wohlbefinden bekommen.

Erste Trends in diese Richtung gibt es ja bereits. Wir könnten noch mehr Gebrauchsgüter gemeinsam nutzen, statt einzeln zu besitzen. Eine individuelle maßgeschneiderte Produktion von qualitativ hochwertigen und langlebigen Einzelstücken könnte die heutige Massenproduktion von Billigteilen ersetzen. Wir könnten mehr Zeit für Familie, gegenseitige Fürsorge, Bildung und Kultur aufwenden statt um jeden Preis an überflüssig gewordenen Erwerbsarbeitsplätzen festzuhalten. Klingt utopisch?“

Die Erkenntnisse des Zukunftsinstituts, der modernen (Nachhaltigkeits-) Ökonomie und des Management 4.0 zeigen in die gleiche Richtung. Analog dem Agilen Manifest schlage ich auf dieser Basis ein ökologisch-ökonomisches Manifest vor:

  • Die Selbstorganisation der Gesellschaft ist wichtiger als die Selbstorganisation des Marktes.
  • Der Markt dient der Gesellschaft, und nicht die Gesellschaft dem Markt.
  • Eine geführte Selbstorganisation des Marktes ist wichtiger als eine ungeführte Selbstorganisation des Marktes.
  • Einheit in der Vielfalt ist wichtiger als Einheit.
  • Kollaboration ist wichtiger als Wettbewerb.
  • Lokalität ist wichtiger als Globalisierung.

Die nachfolgende Abbildung 1 fasst einige Aussagen der Blog-Reihe „Selbstorganisation des Marktes“ zusammen:

Abbildung 1: Die Selbstorganisation der Gesellschaft ist wichtiger als die Selbstorganisation des Marktes.

Viele Individuen tragen mit ihrem individuellen Verhalten in verschiedenen Kontexten auf der Mikro-Ebene zur Ausbildung von Mustern bei, die sich auf der Makro-Ebene des Marktes und der Gesellschaft zeigen. Damit tragen die individuellen Makro-Ebenen mit ihren individuellen Werten und Glaubenssätzen, ihren Identitäten und dem Sinn, den jeder seinem Leben gibt, zu den gesellschaftlichen Makro-Strukturen bei. – Es bilden sich mehr oder weniger viele Gesellschaften bzw. Teilgesellschaften sowie ein Markt bzw. Teilmärkte.

Die sozialen Makro-Ebenen (Markt/Märkte bzw. Gesellschaft/Teilgesellschaften) lassen sich wiederum durch unterschiedliche Ordnungsparameter beschreiben. So habe ich im letzten Blog z.B. erwähnt, dass man die unterschiedlichen ökonomischen Theorien u.a. auch durch die Reihenfolge der Markt-Ordnungsparameter charakterisieren kann. Der in allen ökonomischen Theorien oberste Ordnungsparameter ist die Technologie, sie ändert sich am langsamsten. – Die Schnelligkeit oder Langsamkeit, mit der sich die Größen im Verhältnis zueinander ändern, habe ich durch stärkere oder weniger starke Schwingungen angedeutet. So zeigt das Verhalten der Menschen auf Mikro-Ebene die (wahrscheinlich) stärkste Dynamik.

Der Markt ist Teil des gesellschaftlichen Systems. Berücksichtigt man, dass Modelle immer ihre Limitierungen haben, so hat die Ökonomie gezeigt hat, dass man mit mathematischen Modellen den Markt vielfach sehr gut beschreiben kann. – Man kann sogar mit Hilfe der mathematischen Theorien der Komplexitätsforschung und der Selbstorganisation für den Markt wichtige Erkenntnisse gewinnen. – Es ist jedoch wichtig, festzuhalten, dass der Markt bzw. die Märkte zwar emergierende Makro-Strukturen zeigen, jedoch in sich keine soziale Rechtfertigung tragen. – Sie sollten, trotz aller „selbstorganisierter Komplexität“ nur als „formale“ Repräsentationen gesellschaftlicher Makro-Strukturen betrachtet werden und diesen untergeordnet werden, damit sich die integralen Werte-Meme entwickeln können. Genau dies ist für mich die Quintessenz eines „neuen Lebensstils für das 21. Jahrhundert“. – Wenn man sieht, dass Management 4.0 gerade die organisationale Welt verändert, dann kann man die berechtigte Hoffnung haben, dass der Kapitalismus für das Leben im 21. Jahrhundert seine Dominanz verliert, Innovationen mehr integrale gesellschaftliche Relevanz zeigen und der „Glücksfaktor“ wächst.  

[1] Bayer Anna und Künßberg Jann-Luca (2020) Interview mit dem Zukunftsforscher Daniel Dettling über Deutschland 2050, „Der Westen wird sich dem Osten angleichen“, Spiegel,  https://www.spiegel.de/geschichte/deutschland-2050-der-westen-wird-sich-dem-osten-angleichen-a-5d614ef4-1d3a-4022-afde-49d6f1ddd7d4, zugegriffen am 24.10.2020

[2] Wiedmann Thomas, Lenzen Manfred, Keyßer Lorenz T., Steinberger Julia K. (2020) Scientits‘ warning on affluence, nature communications, (2020)11:3107

[3] Oswald, Y., Owen, A. & Steinberger, J.K. (2020) Large inequality in international and intranational energy footprints between income groups and across consumption categories, Nature Energy volume 5, page 349(2020)

[4] Ollie Williams (2020) Rich People Are Bad For The Planet Studies Show, https://www.forbes.com/sites/oliverwilliams1/2020/09/21/rich-people-are-bad-for-the-planet-studies-show/#2e6f07db2b46, zugegriffen am 24.10.2020

[5] Oswald Alfred, Müller Wolfram (editors) (2020) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, BoD, Norderstedt

[6]  Schrupp Antje (2020) Die Wertedebatte, Wie fünf Ökonominnen Wirtschaft und Politik neu verbinden, Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/die-wertedebatte-wie-fuenf-oekonominnen-wirtschaft-und.1184.de.html?dram:article_id=485902&utm_source=pocket-newtab-global-de-DE, zugegriffen am 24.10.2020

The (in)visible hand oder von der Selbstorganisation des Marktes

Einer der hartnäckigsten Mythen unserer Gesellschaft und insbesondere der Grundannahmen des vorherrschenden Ökonomieverständnisses ist das der invisible hand [1]. – Hiernach besteht der Glaube, dass das (egoistische) Handeln im Markt über die Mechanismen der Preisbildung sich zum Wohle der Gesamtgesellschaft entwickelt.

Dass dies vielfach ein Irrtum ist, zeigen meine Beispiele im letzten Blog [2].

Wie in Organisationen auch, haben Mythen eine blockierende Wirkung und verhindern notwendige Veränderungen oder einen Systemwechsel. Mythen gehören zur Kategorie der Glaubenssätze, die sich meistens schon viele Jahre, manche Jahrhunderte, gehalten haben. Will man Veränderungen hervorrufen, ist es deshalb unabdingbar, die Beseitigung dieser Blockaden vorzunehmen. Gerade in demokratischen Gesellschaften geht einer wesentlichen Strukturänderung eine solche Blockadenbeseitigung voraus.

Schauen wir uns das Thema Preisbildung etwas genauer an:

Die Preisbildung ist eine Form der Selbstorganisation: Preise sind Ordnungsparameter, die sich in Abhängigkeit von Rahmen- und Kontrollparametern, in Subsystemen unseres Systems Gesellschaft einstellen. Rahmen- und Kontrollparameter des Subsystems Preisbildung (es gibt natürlich sehr viele dieser Subsysteme) werden durch die Historie (u.a. auch Mythen und Glaubenssätze) sowie Gesetze, Steuerabgaben, Innovationen oder auch Marktmonopole ausgebildet. Mythen und Glaubenssätze, Gesetze, Steuerabgaben, Innovationen sowie Marktmonopole sind wiederum durch weitere andere selbstorganisierte Prozesse entstanden. Die Preisbildung ist also in eine Hierarchie (vertikal wie horizontal) von selbstorganisierten Strukturen und Prozessen eingebettet. Vielfach ist mit dem Verständnis der Selbstorganisation ein großes Missverständnis, um nicht zu sagen ein Glaubenssatz, verbunden: Selbstorganisation läge nur dann vor, wenn es keinerlei „Eingriffe“ gibt. Aber was sind „Eingriffe“. Allein die Systemumgebung zum Subsystem Preisbildung ist schon ein „Eingriff“. Dieser „Eingriff Systemumgebung“ bestimmt nämlich ganz wesentlich welche Strukturen und Prozesse das so selbstorganisierte Subsystem Preisbildung ausbildet. Und diese Systemumgebung kann man beeinflussen, also z.B. durch Führung gestalten. – Im New Work spielt u.a. die Raum- und Zeitgestaltung als Systemumgebung eine ganz besondere Rolle. In Agilen Frameworks (wie z.B. Scrum) wird diese Erkenntnis schon sehr lange angewendet, wenngleich dies dort eher als starrer Rahmen(parameter) vorgegeben wird, da die Wirkmechanismen der Selbstorganisation den Anwendern der Frameworks selten bekannt sein dürften. Andere „Eingriffe“ sind Werte und Glaubensätze, die ebenfalls in Selbsorganisationsprozessen entstanden sind und auf den Prozess der Preisbildung auch als Rahmen- oder Kontrollparameter wirken. So liegt also ein unglaublich komplexes Netzwerk an selbstorganisierten Prozessen vor, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. – Selbstorganisation kennt also sehr wohl „Eingriffe“.

In (einfachen) mathematischen Modellen, die die Realität nur bedingt abbilden, sind die Rahmen- und Kontrollparameter wirklich Parameter, also einzelne Zahlen, in die die obigen Rahmen- und Kontrollparameter der Realität (Werte, Glaubenssätze, Mythen, andere Prozesse und Strukturen) abgebildet werden. Der Kontrollparameter ist dann eine Zahl, deren Veränderung u.a. Selbstorganisation oder auch chaotisches Verhalten im mathematischen Modell hervorruft. So kann man in einem einfachen Modell zu Preisbildung, das auf der logistischen Gleichung beruht, bei Variation des Kontrollparameters u.a. chaotisches Preisbildungsverhalten erzeugen [3]. 

Hinter diesen Systemparametern versteckt sich also in mathematischen Modellen auch das böse oder gute Verhalten einzelner Personen oder Gruppen, die erheblichen „Eingriff“ in die Selbstorganisation vornehmen.

Wie in anderen Blogbeiträgen schon dargelegt, kann der Mechanismus der Selbstorganisation jedoch selbst nicht zwischen gut und böse unterscheiden.

In meinem letzten Blog [2] habe ich gezeigt, dass eine unregulierte Preisbildung, also eine unregulierte Selbstorganisation, „böse“ Ergebnisse zeigen kann.

Mit dem Glaubenssatz „Die unsichtbare Hand erzeugt Gemeinwohl“ ist der weitere Glaubenssatz „Den Markt sollte man sich selbst überlassen, der Staat sollte nicht eingreifen!“ eng verbunden. Dieser Glaubenssatz wird leider durch viele Erfahrungsbeispiele „bestätigt“. – Denn vielfach hat man in den Markt eingegriffen, aber ohne die Zusammenhänge der Selbstorganisation zu berücksichtigen. – Die Resultate waren oft negative Erfahrungen, die den obigen Glaubenssatz wieder untermauert haben.

Andreas Liening zeigt in [3] an vielen (realen) Beispielen wie mittels der Synergetik ein tieferes und ganzheitlicheres Verständnis ökonomischer Prozesse gelingt: Preise sind Ordnungsparameter. Es gilt das Prinzip, dass man Ordnungsparameter einer Selbstorganisation nicht vorgeben darf. – Vorgeben heißt strikt vorgeben. – Eine Intervention reingeben und schauen was das System daraus macht, dies ist keine strikte Vorgabe. – Im Agilen Management sagen wir, dass eine Führungskraft durchaus auf einen Ordnungsparameter Einfluss nehmen darf, jedoch nur soweit wie alle anderen auch. – In machtorientierten Organisationen ist dies sicherlich ein sehr schwieriges Unterfangen. Falls man es doch tut, spätestens dann gehen die Vorteile der Selbstorganisation verloren. – Im Management, agil wie traditionell, kennen wir die negative Wirkung von vom Management vorgegebenen Ordnungsparametern wie Vision, Mission oder auch Werten. – In nahezu allen Fällen geht die sinnstiftende Wirkung verloren, und damit auch die intendierte Wirkung als Mittel der Ordnungsbildung, also als Mittel der Ausrichtung auf ein gemeinsames unternehmerisches Ziel hin.

Je nach Kontext, können völlig unerwartete und unerwünschte Makrostrukturen entstehen, z.B. kann eine Preisdeckelung (als massiver Eingriff in die Ausbildung eines Ordnungsparameters) bei den Anbietern eines Produktes zu einer Angebotsreduktion führen, d.h. die Anbieter befürchten, dass sie nicht genug Gewinn machen und ziehen Ihr Angebot zurück. Für lebenswichtige Produkte wie Wohnungen oder Nahrungsmittel kann dies katastrophale Folgen haben. – Bei entsprechender Kenntnis von Selbstorganisationsmechanismen, wäre man sicherlich auf diese Zusammenhänge gestoßen und hätte einen anderen Systemparametermix gefunden. Andere Systemparameter, die als Rahmen- oder Kontrollparameter z.B. für den Wohnungsmarkt wirken, sind: Wohnberechtigungsscheine, Sozialer Wohnungsbau, progressive Besteuerung von Gewinnen aus Mietgewinnen, usw….

Wenn der Staat nicht eingreifen soll und egoistisches Handeln im Markt sich letztendlich für die Gesellschaft positiv auswirkt, dann ist damit auch ein dritter Glaubenssatz verbunden: „Ökonomisches Wachstum ist sinnvoll, da es unseren Wohlstand garantiert“. – Wie wir sehen, bin ich jetzt schon beim dritten Glaubenssatz angelangt. – Wir sprechen im Management 4.0 von Glaubenssatzsystemen. – Das Erkennen und Hinterfragen von Glaubenssatzsystemen ist eine Fähigkeit der Metakompetenz Selbstorganisation 4.0. – Im Markus Lanz Talk [4] zur Neuausrichtung unserer Ökonomie kann man sehr gut die derzeit vorliegenden ökonomischen Glaubenssätze unseres Denkens erkennen und wie diese die Fruchtlosigkeit des Talks bedingen und wahrscheinlich unser Unvermögen den Systemwandel bald möglichst einzuleiten.

Nehmen wir das Beispiel Tönnies: Tönnies wirbt auf der eigenen Internetseite [5] mit „Fleischexport: Wertschöpfung für In- und Ausland“ sowie Millardenumsätzen. – Der Exportanteil liegt bei über 50%. – Das Wachstum hat (vermutlich) sogenannte Skaleneffekte ermöglicht, also eine enorme „Effizienz“ mit sich gebracht, was bei niedrigen Lohnkosten und sehr preisbewussten Käufern zu niedrigen Fleischpreisen führt. Man könnte also auf die Idee kommen, dass die Selbstorganisation doch prima funktioniert, denn alle haben was davon: Niedrige Fleischpreise, viele Arbeitsplätze, hohe Steuereinnahmen, gute Gewinne. Und dies untermauert wieder den Glaubenssatz „Ökonomisches Wachstum ist sinnvoll, da es unseren Wohlstand garantiert.“. Nur was heißt „unseren Wohlstand“? Wie bemessen wir den Wohlstand der Tiere? Wie bemessen wir die Folgen der einseitigen Tierhaltung (u.a. Futtermittelproduktion, Gülle, usw.) und deren Folgen für die Natur? Wie bemessen wir die Folgen für unsere Gesundheit, weil wir (und die Menschen im Ausland, wohin ca. 50% exportiert werden) zu viel Fleisch essen? Wie bemessen wir den umweltschädlichen Transport ins Ausland? Wie bemessen wir die Folgen für die Arbeiter in den Fabriken? Wie bemessen wir die Folgen von Corona und ähnlichen Krisen? usw.

Im nächsten Blogbeitrag versuche ich diese Fragen weiter zu diskutieren.

        

[1] Wikipedia (2020) Unsichtbare Hand, https://de.wikipedia.org/wiki/Unsichtbare_Hand

[2] Oswald, Alfred (2020) Von bösen und guten Preisen oder der Selbstorganisation des Marktes, https://agilemanagement40.com/von-boesen-und-guten-preisen-oder-der-selbstorganisation-des-marktes

[3] Liening Andreas (2017) Komplexität und Entrepreneurship, SpringerGabler, kindle Version

[4] ZDF-Markus Lanz (2020) https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-7-juli-2020-100.html, zugegriffen am 28.07.2020

[5] Tönnies (2020) https://toennies.de/fleischexport-wertschoepfung-fuer-in-und-ausland/, zugegriffen am 28.07.2020

Von bösen und guten Preisen oder der Selbstorganisation des Marktes

Es ist einige Zeit her, ich glaube es war in der Sendung AnneWill, als ich einen Beitrag zum Thema Nahrungsmittelpreise und unsere Landwirtschaft gesehen habe. Ich war tief betroffen und wütend, als ein Ökonomieprofessor in etwa sinngemäß folgende Aussage traf: „Landwirtschaft und die damit verbundene Tierhaltung sowie die daraus gewonnenen Lebensmittel unterliegen dem Markt.“

In den Medien, u.a. in [1], konnte man die Tage lesen, dass Uli Hoeneß seinen Freund, den Fleischfabrikanten Tönnies mit den folgenden Worten verteidigt: „Wenn Fehler gemacht wurden, muss man dazu stehen. Das tut er ja. Wenn Dinge zu ändern sind, dann muss man das auch tun. Ich gehe davon aus, dass er das tut, wenn es notwendig ist.“  – Man beachte die mehrfach relativierende Satzkonstruktion „Wenn…dann…wenn es notwendig ist.“

Ich frage, sind das Fehler? – Wenn man Menschen und Tiere über Jahrzehnte ausbeutet und selbst auf dieser Basis Milliarden abschöpft.

Es folgt in [1] der Satz „…was er für eine große Firma aufgebaut hat, jetzt plötzlich in Schutt und Asche redet…“. – Beachtet man seinen eigenen Werdegang, so spricht vieles für ein dominantes ego-heroisches Werte Mem, wenn nicht sogar eine narzisstische Persönlichkeitsstörung flankiert von einem ausschließlich individuell oder spezifischen Gruppen dienenden autoritären Werte Mem von Orientierung und Kontrolle.  

Nikolaus Blome [2] hat in der Spiegel Kolumne zum Thema Tönnies unter dem Titel „Billig ist nicht böse“ einen Beitrag geschrieben. Dieser Beitrag lässt unmittelbar den Glaubenssatz erkennen, dass ein Preis, hier der Preis des Fleisches, das wir im Supermarkt kaufen, nicht böse sein kann, denn der Preis ist ja durch das „objektive“ Einschwingen von Angebot und Nachfrage in einen makroökonomischen Gleichgewichtszustand entstanden. – Personen, die dementsprechend einem Preis die Eigenschaft „böse“ zuordnen, verstehen nichts von Ökonomie.

Selbstverständlich entsteht, der Preis auf diese Weise und er ist auch in diesem Sinne „objektiv“, jedoch keinesfalls frei von Werten. Ein Gleichgewicht stellt sich immer auch auf der Basis von weiteren Systemparametern ein und diese Systemparameter können durchaus moralisch-ethisch verwerflich sein: Wenn die Landwirtschaft Tiere und Natur ausbeutet, Tönnies die Ausbeutung von Tier und Arbeitern fortsetzt, der Einzelhandel seine Zulieferer erpresst und sich in Preisschlachten gegenseitig unterbietet und wir als Verbraucher nach noch billiger gieren, weil Geiz geil ist oder weil wir uns nicht mehr leisten können, dann ist mit all dem sehr wohl eine böse Dynamik verbunden, nämlich ein nach immer niedrigeren Preisen gerichteter (temporärer) Preis-Gleichgewichtszustand. – Niedrige Löhne in der Fleischindustrie und in anderen Branchen führen fasst automatisch zu einem Zustand, in dem Preise niedrig sein müssen, damit sich diese Menschen die Lebensmittel leisten können. – Und wir anderen profitieren dann auch sehr von diesen niedrigen Preisen. Deshalb müsste es eigentlich das Ziel von Kolumnisten sein, nicht zur Stabilisierung dieser unsäglichen ökonomischen Glaubensätze beizutragen, sondern bewusst dazu beizutragen, dass ein „Denken lernen“ einsetzt [3], indem tradierte Glaubenssätze hinterfragt werden, damit ein gesellschaftlicher Wandel eintritt.   

Das Erste [4] hat einen Beitrag zu den Ursachen der Abstürze der Boeing 737 MAX veröffentlich. Auch hier spielte der Preis oder die Gier nach Markt- bzw. Macht-Anteilen die entscheidende Rolle. Die Boeing 737 geht in ihrer Urversion auf die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. – Im Laufe der Jahrzehnte wurde sie in verschiedenen Modellen weiterentwickelt. Mit dem Airbus 320 bot Airbus ein sparsameres Modell an. Die Sparsamkeit der Triebwerke beruht u.a. auf ihrer Größe. Also hat Boeing aus Kosten und Zeitgründen an die 737 größere als ursprünglich vertretbare Triebwerke angebaut. Das Resultat war, dass das Flugverhalten durch diese Übergröße instabil wurde und man dies mit einer entsprechenden versteckten Software korrigierte.- Nach Aussagen von [4] wussten die Piloten der Unglücksmaschinen nichts von dieser Software. Die Software war fehlerhaft und steuerte die Maschinen Kopf-vor in den Boden. Der Bericht legt nahe, dass dieses Verhalten kein Einzelfall ist, sondern Sicherheit systematisch dem Profit geopfert wurde und noch wird. – Auch hier wieder, der sich selbst überlassene Markt konnte es nicht zum Besseren führen.

Dies Alles, so glaubt man, kann an Perfidität nicht übertroffen werden. Doch es geht, wie Michael Moore in seiner zweistündigen Dokumentation im ZDF [5] zeigt: „Fahrenheit 11/9, Amerikas Betriebstemperatur, Wie konnte Donald Trump US-Präsident werden? Und was kann man jetzt tun?“

Auch hier herrschen Gier, Machtlust, Skrupellosigkeit, Rassismus, Sexismus, offener und verdeckter Betrug und Ego-Zentrik vorallem in den republikanischen Kreisen aber auch bei den Demokraten vor. Das Tragische ist, dass diese zerstörerischen Werte bei den Demokraten den Aufstieg von Trump erst ermöglicht haben.  – Moore zeigt an sehr vielen Beispielen die zerstörerische Macht der ego-heroischen, autoritären Werte Meme.

Ein herausgegriffenes Beispiel: Unter dem Deckmantel von Freiheit und Markt wurde eine ganze Stadt an bleivergiftetes Trinkwasser angeschlossen, obwohl reines Wasser zur Verfügung stand. Damit konnten einige wenige viel Geld abschöpfen und zudem wurde dieses Verhalten durch deren Rassismus sanktioniert. Die Stadt besteht nämlich überwiegend aus Afroamerikanern. – Es wurde die Gesundheit von mehreren zehntausend Menschen auf Generationen hin geschädigt. Auch hier hat der sich selbst überlassene Markt nicht funktioniert: Er hat es nämlich nicht ermöglicht, dass die Einwohner der Stadt zu einem akzeptablen Preis sauberes Wasser erhalten haben. Die Republikaner haben diese Schandtat ermöglicht und die Demokraten, namentlich Barack Obama, haben es nicht verhindert und sogar nachträglich sanktioniert.

Betrachtet man die letzten Jahrzehnte, so kann man diese Liste mühelos erweitern: Dieselskandal, deutsche Banken Skandale, Kindesmissbrauch, sexuelle Übergriffe, Waffenexporte, massenweise Steuerhinterziehungen, usw. …

Betrachtet man dieses „böse“ Verhalten des Marktes, so sind immer zwei Aspekte von Bedeutung:

  • Ein unentwickeltes Mindset bei Individuen, Gruppen oder gesellschaftlichen Teilen (unentwickeltes Mindset bedeutet, dass die magischen, ego-heroischen und autoritären Werte Meme vorherrschen)
  • Systemstrukturen, die das „böse“ Verhalten begünstigen oder zumindest nicht verhindern

Liegen diese zwei Aspekte zusammen vor, entwickeln sich mittels Selbstorganisation „böse“ Systemstrukturen in bestimmten Gruppen oder gesellschaftlichen Teilen. Diese „bösen“ Systemstrukturen sind deswegen „böse“ weil sie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf breiter Basis auf Kosten der gesamten Gesellschaft massiv verletzen.

Es kann jedoch nicht darum gehen, eine „gute“ Selbstorganisation durch eine doktrinäre Umerziehung zu erzwingen oder Selbstorganisation durch immer mehr Regularien abzuwürgen. Ziel müsste es sein, eine gesellschaftliche Transformation einzuleiten, die durch eine kluge Governance, die eine „gute“ Selbstorganisation ermöglicht, reguliert wird. Man siehe auch den Blogbeitrag zur Politik 4.0 [6].

Im meinem nächsten Blog beschäftige ich mich weiter mit der Selbstorganisation des Marktes und möglichen Governance-Ansätzen.

 

[1] FAZ (2020) HOENESS VERTEIDIGT TÖNNIES: „Das kann es nicht sein“, https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/uli-hoeness-verteidigt-clemens-toennies-nach-corona-skandal-16837550.html, zugegriffen am 07.02.2020

[2] Blome Nikolaus (2020) Billig ist nicht böse, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/fleischindustrie-billig-ist-nicht-boese-kolumne-a-9e513549-d37a-43b1-9ee9-75f3de7559d1, zugegriffen am 07.02.2020

[3] Oswald Alfred (2020) Denken lernen: „Durch Umgang und Erfahrung lässt sich in der modernen komplexen Gesellschaft in vielen Lebensbereichen kaum etwas erlernen.“!, https://agilemanagement40.com/denken-lernen-durch-umgang-und-erfahrung-laesst-sich-in-der-modernen-komplexen-gesellschaft-in-vielen-lebensbereichen-kaum-etwas-erlernen, zugegriffen am 07.02.2020

[4] Exclusiv im Ersten (2020) Boeing – Das tödliche System, https://www.ardmediathek.de/ard/video/reportage-und-dokumentation/exclusiv-im-ersten-boeing-das-toedliche-system/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuL2MwMDBkNzE3LTQ4NzMtNDI3Ny04N2Q2LWM4ZjY4MmY3NGJlMA/, zugegriffen am 02.07.2020

[5] Moore Michael (2020) Fahrenheit 11/9, https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/fahrenheit-11-9-von-michael-moore–100.html, zugegriffen am 02.07.2020

[6] Oswald Alfred (2019) Politik 4.0: Politik im Angesicht von Komplexität und Selbstorganisation, von Schmetterlingseffekt, Tipping Point und selbstorganisierter Kritikalität, https://agilemanagement40.com/politik-4-0-politik-im-angesicht-von-komplexitaet-und-selbstorganisation-von-schmetterlingseffekt-tipping-point-und-selbstorganisierter-kritikalitaet, zugegriffen am 02.07.2020