Schon im Blog-Beitrag vom August 2019 ‚Selbstorganisation Straßenverkehr – Der Straßenverkehr ein Spiegelbild unserer Gesellschaft?‘ habe ich die These vertreten, dass im Straßenverkehr immer mehr das eigene Ich zählt: Verkehrsregeln werden missachtet, selbst wenn es gefährlich ist; die Aggressivität nimmt zu und im Zweifel hat das Ich immer recht und dies wird oft dreist und aggressiv zum Ausdruck gebracht. Die Zunahme der panzerartigen SUV’s und Pickups als Rüstungen in Blech sind Zeichen dieser Entwicklung [1]: Sie sind mehr oder weniger verdeckte Egoshooter. – Inzwischen ist Gewalt auch in Arztpraxen angekommen, also bei Menschen, die uns helfen [2].
Abbildung 1: Bilder generiert von Stable Diffusion mittels des Titels als Prompt: Das linke Bild passt sehr gut zum Thema der Spontanen Ordnung mittels Selbstorganisation und der Ausrichtung auf einen Attraktor (‚Engel‘ im Anzug mit Pistole). Das rechte Bild zeigt besser die unschöne Seite des Egoshootings.
Die Motivation für diesen Blog-Beitrag geht zurück auf zwei mit dem Egoshooting unmittelbar verbundene Themen:
- Ein Interview mit Christian Lindner [3, 4] auf der OMR 2024 [5],
- und einen Blog-Beitrag der Nachhaltigkeitsökonomin Julia Steinberger [6] zum Thema Neoliberalismus.
Christian Lindner reagiert auf folgende Interview-Frage “Ein Thema beim Fachkräftemangel ist: Es gibt Studien, die einen direkten Zusammenhang herstellen zwischen Sparpolitik und Erstarken von rechten Parteien. Macht Ihnen das keine Sorgen?” mit dem Satz “An diese Studien glaube ich nicht. (…)”.
Julia Steinberger sieht den Ursprung der Klimakrise in der westlichen Ökonomieausrichtung des Neoliberalismus bzw. des Klassischen Liberalismus wie er von dem Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek [7, 8] in der Mont Pélerin Society [9] grundgelegt wurde.
Ich stelle die These auf, dass es zwischen diesen zwei o.g. Themen und dem Egoshooting einen verdeckten, aber sehr wichtigen Zusammenhang gibt und dass diese Themen auch eine wichtige Komponente in aktuellen Entwicklungen spielen: Dem Populismus, faschistischen oder autokratischen Tendenzen und sogar unserer überbordenden Bürokratie. Der vorliegende Blog-Beitrag versucht diese These auszuleuchten.
Schaut man sich das Interview von Christian Lindner an, so stellt man fest, dass er die besagte Studie mit einem Glaubenssatz bei Seite schiebt und statt dessen andere Studien heranzieht, die seiner Meinung nach für das Erstarken der rechten Parteien viel wichtiger sind. Dies ist ein bekanntes Muster, das man sehr oft in der Politik findet: Wissenschaftliche Aussagen werden relativiert, in dem andere wissenschaftliche Aussagen herangezogen werden. Dies erfolgt leider so, dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit der ersten Aussage nicht stattfindet. Der Zweck des Musters ist es nicht, Aussagen zu verstehen und in den jeweils gültigen Kontext zu setzen, sondern lediglich zu diskreditieren. Würden die entsprechenden Personen dies nicht tun, müssten sie sich mit unangenehmen Aussagen auseinandersetzen: Im Fall von Christian Lindner ist dies eine ihm nicht genehme wissenschaftliche Studie.
Die Auseinandersetzung kann bedeuten, sich mit eigenen Werten und Glaubenssätzen ernsthaft zu beschäftigen und diese ggf. abzulegen. – Damit könnte die eigene Identität in Frage gestellt werden und man wird angreifbar. Im Fall von Christian Lindner müsste er ggf. folgende tieferliegende Glaubenssätze in Frage stellen (dies sind Beispiele, die ich aufgrund seiner FDP Zugehörigkeit gewählt habe): Jeder ist seines Glückes Schmied. Erfolg lässt sich erarbeiten. Soziale Ausgaben des Staates sind rausgeschmissenes Geld. Die negativen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Überschuldung sind bekannt usw..
Ich fasse diese Muster unter dem Begriff ‚Muster der Wahrheitsrelativierung‘ zusammen, wohl wissend, dass viele unserer Aussagen lediglich Perspektiven sind und keine Wahrheiten. Ich möchte mit dem Begriff der Wahrheitsrelativierung zum Ausdruck bringen, dass es Wahrheiten gibt und dass diese viel öfter auftreten als wir uns dies eingestehen mögen.
Donald Trump dürfte der bekannteste und dreisteste Anwender des Musters der Wahrheitsrelativierung sein: Er lügt dreist und diffamiert Menschen, um seine Interessen durchzusetzen. – Die bekannten Nazigrößen der AfD stehen ihm hierbei sicherlich in nichts nach.
Dass auch heute noch viele Menschen nicht wirklich die drastischen Auswirkungen des Klimawandels als Wahrheit annehmen und ihr Handeln entsprechend anpassen (Elektroauto fahren, weniger Fliegen, weniger Autos kaufen usw.) hat sehr viel mit dieser Wahrheitsrelativierung zu tun.
Da dies im öffentlichen Raum sehr oft, insbesondere auch durch viele unserer Politiker, geschieht, vertrauen sehr viele Menschen den Aussagen der Politiker nicht mehr. – Die indirekte Aussage ist: Es gibt keine Wahrheiten, nur Interessen und dazugehörige Perspektiven. – Schließlich beginnen wir selbst Aussagen zu behaupten, die jeglicher Grundlage entbehren, denn ‚alle‘ machen es so! Die Erzeugung von beliebig unwahren Aussagen mittels KI und deren Verbreitung mittels Social Media sollten wir jedoch nicht diesen beiden Technologien anlasten. – Denn diese gehen auf uns selbst zurück.
Christian Lindner hat zumindest eingestanden, dass er einem Glaubenssatz folgt.- Das ist sicherlich positiv. In vielen Fällen geschieht dies jedoch intransparent.
Indem er einer Suche nach Wahrheit ausgewichen ist, hat er wahrscheinlich viele ermutigt, es ihm gleich zu tun und die Wahrheitsrelativierung für die eigenen Interessen zu nutzen!
Ich füge zum Muster der Wahrheitsrelativierung noch eine persönliche Erfahrung an, die ich im Rahmen einer Social Media Kommunikation gemacht habe.
Der Ablauf ist in diesem Fall deutlich subtiler, gehört aber meines Erachtens zu diesem Muster: Ein Kollege ist der Überzeugung, dass die aktuellen KI-Entwicklungen keinen wirklichen Fortschritt gebracht haben, denn die Mathematik, die der KI heute zugrunde liegt, sei auch diejenige, die er vor 30 Jahren in seiner Diplomarbeit zu neuralen Netzwerken verwendet hat. – Welches Ego macht eine Aussage möglich, die eine 30 Jahre alte Diplomarbeit mit einer 30-jährigen globalen Entwicklung vergleicht?
Es ist vielleicht sogar richtig, dass sich zum Beispiel die Mathematik der Tensoren seither nicht geändert hat. Deren Anwendung in generativen KI-Systemen auf Basis der Transformer-Technologie hat sich jedoch sehr drastisch verändert.
Ich versuche diese Form der Wahrheitsrelativierung, auf ein berühmtes Beispiel aus der Physik zu übertragen. Dadurch wird deren Absurdität noch deutlicher: 1926 stellte Schrödinger seine berühmte Schrödingergleichung vor, die bis heute eine der fundamentalen Grundlagen der modernen Physik ist. Die Schrödingergleichung ist eine partielle Differentialgleichung, deren mathematische Grundlagen im 18. Jahrhundert von Euler und Lagrange entwickelt wurden. Man stelle sich vor, die Schrödinger Gleichung wäre damals abgelehnt worden, weil sie nichts Neues beinhaltet.
Auch hier kann man die Frage stellen, welche Glaubenssätze machen diese Form der Wahrheitsrelativierung möglich. Hier mein Vorschlag: Wir Menschen sind doch was ganz anderes als KI-Systeme, das sind doch nur Maschinen. Unsere Intelligenz steht weit oberhalb der Intelligenz der KI, diese ist letztendlich dumm. Unbewusste Glaubenssätze können auch auf Gefühlen wie Angst basieren: Ich habe Angst vor KI-Systemen, denn sie bedrohen mich in meiner Einzigartigkeit. usw..
In diesem Fall, wie auch im obigen Beispiel zur Reaktion von Christian Lindner, verhindert die Wahrheitsrelativierung eine aktive Auseinandersetzung mit Perspektiven. Es wird verhindert, diejenige Perspektive zu finden, die der Wahrheit zum relevanten Kontext (wahrscheinlich) am nächsten kommt. Lernen, Entwicklung und Fortschritt, aber auch ein demokratischer Diskurs, werden damit blockiert: Christian Lindner hat mit seinem Ausweichmanöver einen kleinen, aber nicht unwesentlichen Beitrag zur Blockade des demokratischen Diskurses beigetragen.
Ich halte fest: Das Muster der Wahrheitsrelativierung ist inzwischen nahezu überall anzutreffen. Die Sozialen Medien machen die Verbreitung in Form der Diskreditierung von (wissenschaftlichen) Erkenntnissen sowie der Verbreitung von Lügen und (Deep) Fake News möglich. Wir alle tragen mehr oder weniger hierzu bei, insbesondere seit wir über Social Media auch zu öffentlichen Personen geworden sind. Wir sind jetzt öffentliche Personen, da unsere mediale Reichweite mit Social Media um ein Vielfaches größer geworden ist. – Unser Meinung wird mittels Social Media skaliert!
Soziale Medien sind heute wahrscheinlich mit Abstand die wichtigsten Technologien, um soziale Selbstorganisation zu skalieren: Äußert eine Person in einem großen sozialen Medium eine Wahrheitsrelativierung, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass diese von einem Personenkreis mit ähnlichen Werten und Glaubenssätzen aufgegriffen wird und weiter verbreitet wird. Es bildet sich in diesem so geschaffenen (temporären) Netzwerk eine gemeinsame Richtung der Wahrheitsauffassung aus. – In der Theorie der Selbstorganisation spricht man von der Ausbildung eines Ordnungsparameters oder von einem Attraktor.
Attraktoren spielen u.a. in der Ökonomie und im Liberalismus als (dynamische) Systemgleichgewichte eine sehr große Rolle. Preise, die sich aufgrund von Angebot und Nachfrage herausgebildet haben, charakterisieren ein ökonomisches Gleichgewicht. – Preise sind, wie auch von vielen geteilte Meinungen, Beispiele für Attraktoren, die eine spontane Ordnung in einem System charakterisieren.
Ich komme damit zum zweiten o.g. Thema: Der Klassische Liberalismus geht davon aus, dass das Marktgeschehen, ohne staatliche Intervention, das bestmögliche ökonomische Gleichgewicht durch spontane Ordnung (also Selbstorganisation) erreicht. Der Neuliberalismus deutscher bzw. europäischer Prägung vertritt jedoch die Ansicht, dass gewisse Interventionen in den Markt notwendig sind, um Verwerfungen des Marktes (wie zum Beispiel Oligopole, Monopole, usw.) zu korrigieren. Der von Julia Steinberger in ihrem Blog angesprochene Neoliberalismus ist nicht mit dem europäischen Neuliberalismus zu verwechseln, sondern steht für den Klassischen Liberalismus amerikanischer Prägung. Die Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek und Milton Friedman [10] sind die (wissenschaftlichen) Wegbereiter des modernen Klassischen Liberalismus (= Neoliberalismus). Gemäß Julia Steinberger sind die damit verbundene kapitalistische Ökonomie und Politik für das Desaster der Klimakrise und moderne Formen der kapitalistischen Ausbeutung verantwortlich.
Liest man das Buch von Naomi Klein, The Shock Doctrine [11], so kann man nur zum gleichen Schluss kommen: Ihre These ist, dass auf der Basis des Neoliberalismus Vertreter des amerikanischen Kapitalismus bewusst Notlagen von Menschen in Katastrophen ausnutzen, um diese auszubeuten und an deren Eigentum zu gelangen. Teilweise ginge dies soweit, dass Notlagen bewusst herbeigeführt würden, um eine bessere Welt zu erschaffen. Geleitet würden diese Kapitalisten von dem Sendungsbewusstsein eine Marktwirtschaft zu erschaffen, in der persönliche Freiheit sich vollkommen entfalten kann. Diese Marktwirtschaft sei die Basis für die ‚beste aller Welten‘.
Hört man Donald Trump zu, so kann man auf die Idee kommen, dass er ein (zentraler) Vertreter dieses Sendungsbewusstseins ist.
Ich will verstehen, ob man Hayek für diese Form des Egoshootismus und Liberalismus mitverantwortlich machen kann. Ich kann nicht beurteilen, was er wie bei welcher Gelegenheit, u.a. in der Mont Pélerin Society, gesagt hat. Statt dessen habe ich mir daraufhin sein letztes großes Buch ‚Recht, Gesetz und Freiheit‘ [12] über spontane Ordnung in Gesellschaft und Ökonomie angesehen. Dieses Buch besteht in der englischen Version aus drei Teilen, die im Zeitraum 1973 bis 1979 erschienen sind [13], also in einem Zeitraum als Hermann Haken [14] mit der Theorie der Selbstorganisation die Wirkweise des Lasers als selbstorganisiertes System schon modelliert hatte. Es gibt in ‚Recht, Gesetz und Freiheit‘ keinen Hinweis darauf, dass Hayek die Theorie der Selbstorganisation kannte, wenngleich er den ein oder anderen Bezug zu den Naturwissenschaften vorgenommen hat.
Ich zitiere im Folgenden einige Aussagen von Hayek aus ‚Recht, Gesetz und Freiheit‘ und betrachte sie aus dem Blickwinkel der Theorie der Selbstorganisation:
„<Das> Gefüge menschlicher Tätigkeiten paßt sich unablässig an Millionen von Tatsachen an, die in ihrer Gesamtheit keinem einzelnen bekannt sind, und es funktioniert aufgrund dieser Anpassung.“
Dies ist eine korrekte Aussage zur systemischen Wirkung von Selbstorganisation.
„Aus diesem Grunde beschränkt der Liberalismus eine vorsätzliche Einflussnahme auf die Gesellschaftsordnung insgesamt auf die Durchsetzung solcher allgemeinen (Anm. abstrakten) Regeln, wie sie zur Bildung spontaner Ordnung nötig sind, deren Einzelheiten wir nicht vorhersehen können.“… „Im Falle spontaner Ordnung können wir durch einige ihrer Bestimmungsfaktoren ihre abstrakten Züge festlegen; hingegen müssen wir die Einzelheiten Umständen überlassen, die wir nicht kennen.“
Hayek spricht von abstrakten Regeln, um zu unterstreichen, dass diese Regeln nicht kleinteilig sein dürfen. Er betont auch, dass Komplexität unmittelbar mit Unwissenheit verbundenen ist und dass deshalb die von Menschen geplante Gestaltung von abstrakten Regeln immer die zweite Wahl ist. In der Theorie der Selbstorganisation werden diese allgemeinen Regeln als Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter bezeichnet. Selbstorganisation entfaltet sich nur dann mit sichtbaren emergenten Strukturen, wenn dem System für die Entfaltung genug Freiheitsgrade gelassen werden: Also die Kontrollparameter entsprechend (klug) gewählt worden sind. Hayek‘s Buch behandelt zum großen Teil die sinnvolle Gestaltung der abstrakten Regeln also der Kontrollparameter (u.a. Verhaltensregeln, Recht, Moral). Er weist auch richtiger Weise daraufhin, dass die Kontrollparameter Zweck- und Ziel-frei sind bzw. sein müssen. Er erkennt jedoch noch nicht, dass eine moderne Gesellschaft aus einer Hierarchie von ineinander geschachtelten selbstorganisierten Systemen besteht. Übergeordnete selbstorganisierte Systeme geben ihre Ziele über Rahmenparameter den untergeordneten selbstorganisierten Systemen mit. – Damit ist es durchaus möglich, dass sich eine Ziel-Hierarchie ausbildet.
„Der zentrale Begriff, …, ist der der Ordnung, insbesondere die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Ordnung, die wir vorläufig als >>erzeugte<< und als >>gewachsene<< Ordnung bezeichnen wollen.“
„…es kann nie vorteilhaft sein, die (Anm. abstrakten) Regeln einer spontanen Ordnung zu ergänzen durch vereinzelte und subsidiäre Befehle… das ist der Kern des Argumentes gegen >>Eingriffe<< oder >>Interventionen<< in die marktliche Ordnung…Das allgemeine Argument gegen >>Interventionen<< läuft somit darauf hinaus, dass wir zwar trachten können, eine spontane Ordnung durch Revision der allgemeinen (Anm. abstrakten) Regeln, auf denen sie beruht, zu verbessern…., daß wir aber nicht die Ergebnisse durch spezifische Befehle verbessern können…“ „Obwohl es vorstellbar ist, daß die spontane Ordnung, die wir Gesellschaft nennen, ohne Staat existiert, …, so erweist sich doch in den meisten Fällen die Organisation, die wir Staat nennen, als unentbehrlich, …“
„Obwohl spontane Ordnung und Organisation immer nebeneinander bestehen werden, ist es nicht möglich, diese zwei Ordnungsprinzipien beliebig zu mischen.“ „Die Behauptung, wir müßten die moderne Gesellschaft vorsätzlich planen, weil sie so komplex geworden sei, ist also widersinnig…“
„…daß die einzige Möglichkeit, über die Kapazität des individuellen Verstandes hinauszugehen, darin besteht, sich auf jene überpersönlichen >>selbstordnenden<< Kräfte zu stützen…“ „Die These dieses Buches lautet: Ein Zustand der Freiheit, in dem alle ihr Wissen für ihre Zwecke gebrauchen dürfen und dabei nur durch allgemein gültige Regeln gerechten Verhaltens eingeschränkt sind, bietet Ihnen wahrscheinlich die besten Voraussetzungen zur Erreichung ihrer Ziele; …“ „Was ich in der Weg zur Knechtschaft nachweisen wollte, war… wenn wir sagen: >>Wenn du nicht deine Grundsätze änderst, wirst du zum Teufel gehen<<…“ „ Eine erfolgreiche Verteidigung der Freiheit muß daher dogmatisch sein…Es liegt ein Mißverständnis vor, wenn man dem klassischen Liberalismus vorwirft, er sei zu doktrinär gewesen. Sein Fehler bestand nicht darin, daß er sich allzu starr an Grundsätze gehalten hätte, sondern darin, daß ihm genügend eindeutige Grundsätze fehlten, …“
Diese Sätze bringen die zentralen Prämissen des Hayek’schen Verständnis von spontaner Ordnung zum Ausdruck: Spontane Ordnung, die keiner Intervention unterliegt, führt immer zu guten ‚heiligen‘ Ergebnissen. – Sie ist der Garant für unsere persönliche Freiheit. Der Klassische Liberalismus muss mit eindeutigen Grundsätzen diese Wahrheit vertreten.- Alle anderen Grundsätze führen ‚zum Teufel‘. Wie wir aus der Theorie der Selbstorganisation wissen, erfordert spontane (soziale) Ordnung ein Management am System. Kleinteiliges Management ist schädlich für die Emergenz. Leider ist es aber so, dass die emergenten Phänomene auch in der Natur nicht immer wünschenswert sind. Im Sozialen können wir durchaus von ‚guten‘ und ‚bösen‘ emergenten Phänomenen sprechen. Wenn sich ein Mob (über Social Media) selbstorganisiert, dann ist dies sicherlich eine ‚böse‘ spontane Ordnung. Wenn Trump in seiner Person mit seinen ‚bösen‘ Äußerungen einen sozialen Attraktor bildet, dann ist dies sicherlich eine ‚böse‘ spontane Ordnung. Gleiches gilt für mich auch für die AfD und andere Populisten. Das Eingreifen in ein soziales System verhindert nicht automatisch emergente Phänomene. Es ist jedoch richtig, dass der gelungene Eingriff wesentlich mehr Theorie und Praxis erfordert, als gemeinhin wahrscheinlich in Politik und Gesellschaft verfügbar ist. Es ist durchaus möglich, eine spontane Ordnung durch menschliche Interventionen zu erzeugen, denn sonst wäre Führung nicht möglich und technische Systeme auf der Basis von Selbstorganisation, wie KI Systeme, wären ebenfalls nicht möglich. Wie eine sehr aktuelle Studie zur Wirksamkeit von Interventionen im Zusammenhang mit der Klimakrise zeigt, ist die Mischung verschiedener Interventionsarten durchaus sinnvoll und notwendig [15]. Hayek ist also zwei großen Irrtümern erlegen: Spontane Ordnung führt per se nicht immer zu ‚guten‘ Ergebnissen.- Interventionen sind deshalb recht oft sogar notwendig und sie können auch zu einem besseren Ergebnis führen. Es gibt keine Trennung zwischen geplanter Ordnung und spontaner Ordnung: Der Unterscheid liegt lediglich in der Zahl der Freiheitsgrad und damit in der Möglichkeit (d.h. Wahrscheinlichkeit) emergente Phänomene auszubilden.
Aus diesen Prämissen ergeben sich einige Konsequenzen, hier beispielhaft durch Zitate verdeutlicht:
„Daß Eltern in der Wahl ihres Wohnortes oder ihrer Beschäftigung für gewöhnlich die Auswirkungen bedenken, die ihre Entscheidungen auf die Zukunftsaussichten ihrer Kinder haben werden, ist ein wichtiger Faktor in der Anpassung der Nutzung von Humankapital… Würde man Ihnen versichern, dass wo immer sie hinziehen …, der Staat zu garantieren hätte, dass die Chancen für Ihre Kinder die gleichen wären, …so würde in jenen Entscheidungen ein wichtiger Faktor außeracht bleiben, der diese im Allgemeininteresse leiten sollte.“
Basierend auf den Hayek’schen Prämissen der spontanen Ordnung ist dies eine schlüssige Konsequenz. Heutige politische Bestrebungen in Deutschland streben das Ideal der Elternhaus-unabhängigen Chancengleichheit für Kinder über eine entsprechende Bildungsinfrastruktur an. Die US-amerikanische Bildungspolitik verfolgt das Ideal der Elternhaus-unabhängigen Bildungspolitik nicht. – Der Liberalismus amerikanischer Prägung ermöglicht hingegen Bildungs-Attraktoren, wie Harvard/MIT, Princeton oder Stanford, wie wir sie in Europa in dieser ‚Attraktivität‘ nicht kennen. Er ermöglicht auch Kapital-Attraktoren wie Google, Apple oder Amazon und damit verbundene Innovations-Attraktoren wie Tesla, Openai und Nvidia, die ihrerseits inzwischen zu Kapital-Attraktoren geworden sind.
„In einer freien Gesellschaft besteht das Allgemeinwohl hauptsächlich in der Erleichterung der Verfolgung unbekannter individueller Ziele.“ …“Der klassische Liberalismus beruht auf einem Glauben an objektive Gerechtigkeit.“…“Der Sinn des ökonomischen Spiels, in dem nur das Verhalten der Spieler, nicht aber das Ergebnis gerecht sein kann.“ „Die Entlohnung, die Einzelpersonen und Gruppen auf dem Markt beziehen, bestimmen sich also danach, was ihre Leistungen denjenigen wert sind, … und nicht nach irgendeinem fiktiven >>Wert für die Gesellschaft<<.“…“Eine freie Gesellschaft ist eine pluralistische Gesellschaft ohne gemeinsame Hierarchie konkreter Ziele.“
Die eine Seite der Medaille des Klassischen Liberalismus sind die durch ‚freie‘ Selbstorganisation entstehenden diversen Arten von enorm skalierenden Attraktoren (u.a. Bildung, Kapital, Innovationen,…), die andere Seite der Medaille ist die Ablehnung aller übergeordneten Ziele gesellschaftlicher Verantwortung, wie Gerechtigkeit und sozialer Markt oder die Milderung und Abschaffung der Ungleichheit auf globaler Ebene. Auch übergeordnete Ziele zu Nachhaltigkeit, Artenschutz und Naturschutz haben im Klassischen Liberalismus keinen Platz. Neben den schon oben geschilderten falschen Prämissen des Klassischen Liberalismus zu spontaner Ordnung, liegt meines Erachtens eine weitere nicht explizit genannte Prämisse vor: Menschen haben unterschiedlich gute Startpositionen, sei es in DNA, Elternhaus oder Kulturkreis. Damit bilden sich über eine ‚freie‘ spontane Ordnung automatisch Wettbewerbsverzerrungen und damit soziale Ungerechtigkeiten aus. Hinzu kommt, dass neben der Startposition und dem Glück die Skalierungseffekte der Selbstorganisation einen enormen Beitrag zu der Ausbildung von gigantischen Attraktoren liefern. ‚The winner takes it all‘, wie man sagt: Amazon, Google oder Apple verdanken ihren enormen Erfolg zu einem sehr großen Teil diesen Skalierungseffekten. Wenn die gigantischen Attraktoren einmal vorliegen, bündeln sie ungeheure Macht und Kapital mit all den uns aktuell bekannten Vor- und Nachteilen.
Die europäische Politik weiß wahrscheinlich, um diese Vor- und Nachteile. Ich vermute aber, dass sie sehr viel weniger um deren Ursachen weiß. Hayek spricht richtiger Weise von abstrakten allgemeinen Regeln. Im Management 4.0 sprechen wir von der Governance der Selbstorganisation. Leider stimmt die Analyse von Hayek dahingehend sehr gut, dass eine Unkenntnis der Governance (d.h. der abstrakten allgemeinen Regeln der Selbstorganisation) einen „Weg in die Knechtschaft“ eröffnet: Statt abstrakte allgemeine Regeln der Selbstorganisation zu suchen und anzuwenden, werden kleinteilige Regeln erstellt. Es entsteht Bürokratie. – In Europa und Deutschland kennen wir dies zur Genüge.
Ich halte fest: Friedrich August von Hayek beschreibt in seinem Buch ‚Recht, Gesetz und Freiheit‘ viele gute Erkenntnisse zur sozialen Selbstorganisation.- Für die Zeit, in der diese Erkenntnisse entstanden sind, sind dies sehr beachtliche Erkenntnisse. Soweit ich die amerikanische Kultur kenne, beschreibt er damit einen Liberalismus amerikanischer Prägung, der (wahrscheinlich) schon lange vor seinen Erkenntnissen existierte: Es ist die US-amerikanische Kultur. Dieser Liberalismus ermöglich über soziale Selbstorganisation Attraktoren von einer Größe, die wir in Europa nicht (mehr) kennen. Gleichzeitig verhindert der Liberalismus über falsche Prämissen eine aktive menschenwürdige Gestaltung der sozialen Selbstorganisation. Übergeordnete Ziele der Gesellschaft wie ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen und ein nachhaltiger Umgang mit Natur und Tier sind nicht erlaubt, da sich damit die spontane Ordnung, die die größtmögliche Freiheit für alle (Anm. alle?) garantiert, nicht ausbilden kann.
Ich fasse zusammen: Ich gehe nicht davon aus, dass wir heute größere und bösere Egoisten als vor 100 Jahren sind. Was sich jedoch geändert hat, sind die Möglichkeiten der Skalierung von Selbstorganisation mittels Social Media: Viele große und kleine Attraktoren der spontanen Ordnung bilden sich heute sehr schnell aus. Manche wachsen zu enormer Größe. Diese Attraktoren sind nicht zwangsläufig ‚gut‘, sie können durchaus sehr ‚böse‘ sein. Sie geben denjenigen, die sie anziehen ein Zugehörigkeitsgefühl, das sich in einem neuem Selbstbewusstsein äußert. – Das kann sich auch im Straßenverkehr bemerkbar machen.
Die dringende Notwendigkeit Mensch und Natur global zu schützen, erfordert meines Erachtens u.a. eine Neuausrichtung der Ökonomie, in die Wissen um Vor- und Nachteile der sozialen Selbstorganisation einfließen müssen: Falls die Hauptprämissen der Hayek’schen Ökonomie einer Revision unterzogen werden, sollte sie auch in Zukunft noch eine Rolle spielen.
[1] Spiegel (2024) Pickups in Europa, https://www.spiegel.de/auto/pick-ups-in-europa-wie-der-ram-1500-deutsche-strassen-erobert-a-40680cef-803d-452e-9114-815ab36b0998https://www.montpelerin.org/Home.html
[2] ZDF (2024) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/aerzte-gewalt-eskalation-praxen-100.html?at_medium=Social%20Media&at_campaign=ZDFheuteApp&at_specific=ZDFheute&at_content=iOS
[3] Schulz E und Lindner C (2024) https://www.youtube.com/watch?v=dvfLkE1EQLQ
[4] Bautz C (2024) https://www.linkedin.com/posts/christoph-bautz_frage-an-finanzminister-christian-lindner-activity-7194745312287117312-FBa2/?utm_source=share&utm_medium=member_ios
[5] OMR (2024) https://omr.com/de/events/festival/
[6] Steigenberger J (2024) What we are up against,
https://medium.com/@jksteinberger/what-we-are-up-against-2290ba8c4b5c, erschienen 17.06.2024
[7] Wikipedia (2024) Friedrich August von Hayek, https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_August_von_Hayek
[8] Hayek Gesellschaft (2024) https://hayek.de/
[9] Mont Pélerin Gesellschaft (2024) https://www.montpelerin.org/
[10] Wikipedia (2024) Milton Friedman, https://de.wikipedia.org/wiki/Milton_Friedman
[11] Klein N (2014 ) The Shock Doctrine, The rise of disaster capitalism, Penguin, kindle edition
[12] Hayek F.A. (2013) Recht, Gesetz und Freiheit, Hayek Gesammelte Schriften in deutscher Sprache, B 4, Nachdruck, Mohr Siebeck, Tübingen
[13] Walter Eucken Institut (2024) https://www.eucken.de/publikation/recht-gesetz-und-freiheit/
[14] Wikipedia (2024) Hermann Haken, https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Haken_(Physiker)
[15] Spiegel (2024) https://www.spiegel.de/wissenschaft/klimaneutralitaet-bis-2050-studie-zeigt-welche-massnahmen-besonders-wirksam-sind-a-6d162367-f1ff-427a-b4a0-34d7827dea4c?sara_ref=re-so-app-sh