Vor Kurzem bin ich auf den Spiegelartikel „Wir brauchen das Grundrecht auf eine analoge Existenz“ von Alexander Grau gestoßen [1], [2]. Dieser Artikel hat diesem Blog-Beitrag einen Teil des Titels gegeben.
Alexander Grau geht von folgender Grundannahme aus: „Digitalisierung ist längst keine Technologie mehr, sondern eine Ideologie…. Die Digitalisierung ist der Fetisch unserer Zeit… Allenfalls von ein paar Datenschützern oder Entwicklungspsychologen sind hin und wieder kritische Töne zu hören.“
Ist das so?
Andererseits gibt es AutorInnen wie Andrea Gadeib, die zwar eine optimistische Zukunft auf der Basis der Digitalen Transformation haben, gleichzeitig titelt ihr Buch „Die Zukunft ist menschlich: Manifest für einen intelligenten Umgang mit dem digitalen Wandel in unserer Gesellschaft.“ Der Titel manifestiert ihre statistische Erhebung, wonach im Jahre 2018 80% der deutschen Bevölkerung Angst vor der (unmenschlichen) Digitalisierung haben.
Das Recht auf eine analog Existenz – wie darf man dies verstehen? Heißt dies, dass das Recht auf eine analoge Existenz im Grundgesetz festgeschrieben wird und dass im Jahre 2050 jeder noch das Recht hat, mit Bargeld zu bezahlen, oder dass die Steuererklärung auch dann noch per Papier abgegeben werden darf, oder dass die Deutsche Bahn auch dann noch Schalter zur Verfügung stellen muss, an denen der Verkauf eines Papiertickets möglich ist, …oder, dass wir dann noch Autos oder Waschmaschinen haben werden bzw. haben müssen, die keine Chips enthalten, …oder…oder…oder…
Die Digitalisierung kann sicherlich Angst machen: Wenn sie einen überfordert oder wenn man glaubt, dass sie einem die Arbeit wegnimmt und man verarmt. Oder wenn man glaubt, dass Künstliche Intelligenzen uns beherrschen werden, oder dass Roboter die menschliche Interaktion ersetzen …oder…oder…, oder dass KI uns eines Tages auslöschen wird.
Alexander Grau zitiert den Politologe Patrick J. Deneen „Wir seien, so der Wissenschaftler, »autonom und frei, und doch genau den Technologien unterworfen, die uns das Gefühl von Unabhängigkeit vermitteln«.“.
Genau diese Aussage kann ich sehr gut nachvollziehen.- Sie ist vielleicht eine neue Erkenntnis, die Basis, auf der sie beruht, ist jedoch keineswegs so neu.
Wir ‚entscheiden uns ständig‘, Facebock, Twitter, LinkedIn und wie sie alle heißen zu nutzen, Influencern oder auch besonders rührigen Kollegen zu folgen und entsprechende Like‘s einzugeben. – Wir verlassen uns auf die Kaufempfehlungen von Amazon und Co., die wir selbst erzeugen. – Wir like‘n die ideologischen Empfehlungen verschiedener Politiker und trage damit zu deren Popularität bei….
Oder wir machen es mal ganz anders: Wir reagieren einfach mal mehrere Stunden oder Tage auf keine eMail oder Whats App Nachricht. Wir like‘n nicht jede Nachricht, die uns angeboten wird, und lesen mal ein Buch, das zwar mehr Fokus erfordert, statt den Kurzinfos diverser Kollegen oder Politiker zu folgen.
Diese letzte Form von Freiheit hat viel mit Bildung und Kompetenz, insbesondere Digitaler Bildung, und einer entsprechenden selbstreflektierenden Kompetenz zu tun. – Diese selbstreflektierende Kompetenz, die ich schon des Öfteren als Metakompetenz bezeichnet habe, wird umso wichtiger, je komplexer unser Leben wird. Digitale Kompetenz ist der Schlüssel, damit wir unsere Freiheit in der Digitalität (Digitalität = Digitale Realität) wahrnehmen können.
Mehrere Schritte zurück in die rein analoge Welt auf der Basis eines Grundrechtes nach einer analogen Existenz macht keinen Sinn. Diese Forderung ist naiv und mutet mich sogar dumm an. Es zeigt meines Erachtens auch ein Fehlen von Metakompetenz an. So schreibt Alexander Grau:
„Natürlich griffen schon Dampfmaschine, Elektrizität oder Verbrennungsmotor massiv in die Gesellschaft, unsere Arbeitswelt und unser Wertesystem ein. …Aber sie manipulierten nicht unser Denken. Anders die digitalen Technologien. Sie steuern unsere Gedanken und entwerfen unsere Träume. … Diese Entwicklung unterminiert die Basis liberaler Demokratien. … Nur der Mensch, der die Möglichkeit hat, ein analoges Leben zu führen, ist im eigentlichen Sinne frei. …Diese Freiheit zu schützen wäre die wichtigste und dringlichste Aufgabe des Staates. Doch der Staat schützt sie nicht. Stattdessen opfert er sie lieber wirtschaftlichen und technologischen Interessen, die als Notwendigkeiten deklariert werden. …“
Wer sich mit Auto-Enthusiasten unterhält, wird schnell feststellen, wie das Auto mit oder ohne Verbrennungsmotor und seine emotionale Aufladung als Freiheitssymbol über Jahrzehnte unser Denken manipuliert hat. Oder wie möge man erklären, dass über Jahrzehnte Landschaften auf dieser Basis gestaltet wurden und gerade heute die sogenannten nachhaltigen E-Autos immer dicker und umweltschädlicher werden. Unser individuelles und gesellschaftliches Denken ist massiv und großflächig von dieser Technologie manipuliert. – Es wird nicht so gesehen, weil es längst zum allgemeinen Gedankengut geworden ist.
Die Degrowth Bewegung [4] steht für eine Abkehr von jeglicher Technologie, da die ständige Weiterentwicklung der Technologie die Basis eines Wachstums ist, das uns mehr schädigt als es uns nützt.
Technologie ist per se nicht gut oder böse oder ideologisch, wir sind es. Was wir benötigen, ist ein Umgang mit der Technologie, der unser individuelles und gesellschaftliches Handeln in seinen örtlichen und zeitlichen Konsequenzen mit einpreist. Und genau das haben wir meines Wissens bei keiner Technologie bisher getan, beim Auto nicht und bei der Digitalisierung bisher auch nicht.
Man möge sich die Frage stellen, was gewesen wäre, wenn ehemals zu Gutenbergs Zeiten gefordert worden wäre ‚Jeder hat das Recht sich Schrift und Buch zu entziehen, das ist eine Technologie, die in unsere Freiheit eingreift, weil sie uns die Gedanken anderer, die uns manipulieren, dauerhaft zum Nach-Denken gibt.‘
Vor ein paar Wochen wurde mir das Buch ‚Walden‘ von Henry David Thoreau geschenkt [5], [6], [7]. Thoreau beschreibt in diesem Buch aus dem Jahre 1854 (!) seinen zweijährigen Aufenthalt in einer Waldhütte in Nordamerika. Ein Buch voller Metakompetenz. Mahatma Gandhi und Martin Luther King sollen von ihm beeinflusst worden sein, sowie die Naturbewegung und die Degrowth Bewegung. Ich möchte nur ein Zitat hier anführen, das viel mit unserer digitalen Like-Kultur zu tun hat: „Macht einer nach dem Essen ein halbstündiges Schläfchen. So reckt er, kaum ist er erwacht, den Hals und fragt: „Was gibt’s Neues?“ – als hätten die anderen unterdessen für ihn Posten gestanden. Manch einer lässt sich zu diesem Zweck alle dreißig Minuten wecken und erzählt einem dann zum Entgelt, wovon er geträumt hat. Am Morgen sind ihm die Nachrichten so unentbehrlich wie das Frühstück…Für den Philosophen sind alle sogenannten Nachrichten nur Klatsch, und wer dergleichen druckt oder liest, ist eine Klatschbase. Dabei sind nicht wenige auf diesen Klatsch versessen.“
Für mich liest sich dies wie eine Vorwegnahme unserer Like-Kultur, es zeigt aber auch, dass dazugehörige Muster schon sehr lange existieren!
Wer möchte schon in einer zukünftigen Welt leben, in der, mit Hilfe unseres eigenen unreflektierten Handelns, Bedeutungszuweisungen durch Like‘s zu gigantischen Bedeutungsattraktoren in sozialen Medien werden, denen sich dann nur noch wenige entziehen können. Und hier hat Alexander Grau sicherlich recht: Wir sind auf dem besten Weg, dass wir unsere Unfreiheit in einem Maße global und dynamisch selbst erschaffen, wie es in der Zeit vor der Jahrtausendwende nicht möglich gewesen ist. – Einige wenige analoge Enthusiasten werden dies jedoch keinesfalls aufhalten, selbst wenn die analoge Existenz im Grundrecht verbrieft sein sollte.
Es gibt derzeit (noch) keine ganzheitliche Ethik, die u.a. der Digitalisierung Zügel anlegt. – Die Zügel einer ganzheitlichen vorausschauenden Ethik hätten wir in der Vergangenheit schon des Öftern benötigt, ob es die extensive, noch anhaltende Nutzung des Autos ist, die rein betriebswirtschaftliche Ausrichtung von Landwirtschaft und Tierhaltung, die nicht-nachhaltige Ausrichtung der Energiewirtschaft …oder …oder …
In Kombination mit den damit verbundenen heraufdämmernden Katastrophen kann die unreflektierte Digitalisierung wie ein Brandbeschleuniger wirken. So könnten Millionen oder Milliarden armer Menschen ihre Digitalität dazu verwenden, um sich zusammen zu tun, um sich gegen die reichen Nationen des Nordens zu wenden. Populisten könnten die Digitalität dazu verwenden, um rechte oder linke Ideologien oder Verschwörungsideologien als Bedeutungsattraktoren einzuführen.
Deshalb ist es um so wichtiger, dass man die Digitale Realität in ihren grundlegenden Mustern versteht.
Felix Stalder definiert Digitalität als „jenes Set von Relationen, das heute auf der Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie in der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird“ [8].
Diese Relationen erzeugen zusätzliche Verbindungen in unserem Leben, die „drei Formen des Ordnens“ hervorrufen, „die dieser Kultur ihren spezifischen, einheitlichen Charakter verleihen: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität“ [9], [10], [11].
Referentialität bedeutet die Menge an Bedeutungszuweisungen, die wir mit unseren Klicks, Likes oder anderen Formen der Bedeutungszuweisungen Dingen, Meinungen, Nachrichten und Ähnlichem zuschreiben.
Gemeinschaftlichkeit bedeutet, dass diese Bedeutungszuweisungen in einer gemeinschaftlichen Formation erfolgt, d.h. in einer Gruppe, einem digitalen Mopp, einer wissenschaftlichen, politischen, modischen, oder anderen Interessensgruppe.
Algorithmizität bezeichnet jene Aspekte der kulturellen Prozesse, die von Maschinen (vor-) geordnet werden.
Aus meiner Sicht sind diese drei Dimensionen wichtig und vorhanden, sie treffen jedoch auch für eine Dorfgemeinschaft zu. – Man siehe die zitierte Aussage von Thoreau weiter oben. – Auch dort schreiben Menschen u.a. über Smalltalk Dingen, Meinungen und Nachrichten Bedeutung zu. Auch dort bildet sich über eine gemeinschaftliche Formation eine gemeinschaftliche Ordnung heraus. In der Sprache von Komplexität und Selbstorganisation sind dies Attraktoren, Bedeutungsattraktoren, die sich auf einem Bedeutungsmarkt ausbilden. Selbst die Algorithmizität gibt es meines Erachtens schon recht lange.- Es sind dann vielleicht keine Maschinen im eigentlichen Sinne, jedoch folgt man Kafka, dann übernehmen Bürokratien die Rolle intransparenter Algorithmen.
Meines Erachtens gibt es lediglich einen entscheidenden Unterschied, die Skalierung, die den Bedeutungsmärkten in der Digitalität eine neue Qualität verleiht:
Die Bedeutungszuweisungen werden von einzelnen Menschen in digitalen Plattformen vorgenommen. Diese Plattformen sind „beliebig“ skalierbar, d.h. „unendlich“ viele Menschen können hier ihre Bedeutungszuweisungen vornehmen. D.h. es können über individuelle Referenzialität auf sehr dynamische Weise gigantisch große gemeinschaftlich Bedeutungszuweisungen entstehen. Diese gemeinschaftlichen Bedeutungszuweisungen erzeugen ihre eigne Sogwirkung, sie werden zu Bedeutungsattraktoren, sie entziehen uns unsere Freiheit. – Leider haben wir sie selbst erzeugt. Digitale Algorithmen können die Ausbildung von Bedeutungsattraktoren dämpfen, verstärken oder beschleunigen.
Auf den skalierbaren Plattformen bilden sich unter Umständen viele Bedeutungsmärkte (Bedeutungsmarktplätze) aus: Diese Bedeutungsmärkte können sich auf materielle und immaterielle Objekte beziehen. Bedeutungsattraktoren können Moderichtungen sein, politische Meinungen, Ideologien, Verschwörungsideologien, Hasstiraden, aber (auch ideologisch verbrämte) wissenschaftliche Ansichten. Diese Bedeutungsmärkte überschneiden sich recht oft auch mit den wirtschaftlichen Märkten, nämlich dann, wenn zum Beispiel bei Amazon zu einem Produkt Bewertungen abgegeben werden und diese Bewertungen das Kaufverhalten beeinflussen.
Skalierbarkeit und Bedeutungsmärkte können enormen räumlichen und zeitlichen Dynamiken unterliegen: Die Zusammensetzung der Agenten (Personen, Algorithmen) kann sich dynamisch in Qualität und Quantität ändern, so dass in kurzer Zeit Bedeutungen auf oder abgebaut werden. Diese Formen des Ordnens können auch zu exponentiellem organisationalem Wachstumsformen führen. Amazon, google und Co. sind Ergebnisse dieser neuen Dynamiken.
Skalierbarkeit und Bedeutungsmärkte zeigen dann ihr ganzes negatives Potential, wenn die Agenten (Menschen oder Algorithmen) intransparent und ohne digitale Metakompetenz wirken.
Deshalb benötigen wir, wie im Blog-Beitrag vom August 2022 angesprochen, eine ganzheitliche Ethik und eine Veränderung des Bildungssystems, das eine ganzheitliche Kultur der Digitalisierung vermittelt.
[1] Grau A (2022) Alexander Grau, http://alexandergrau.de/index.html, zugegriffen am 17.09.2022
[3] Gadeib A (2019) Die Zukunft ist menschlich: Manifest für einen intelligenten Umgang mit dem digitalen Wandel in unserer Gesellschaft (Dein Business), GABAL Verlag GmbH, Kindle Ausgabe
Schaut man zur Zeit in die verschiedenen Informationskanäle, so beherrscht die Schlagzeilen neben der Angst, dass Corona das Leben kosten könnte oder die Existenz, vor allem die Unsicherheit was wird von Corona wie lange bleiben. – Und hier insbesondere die Frage, ob wir wieder schnell zu unserem alten Leben zurück können oder ob Corona unser Leben nachhaltig verändern wird.
Der eine oder andere mutmaßt gar, dass Corona ein Weckruf war und dass dies zu einem nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel führen wird oder könnte [1], [2] [3]. – Wobei kaum zum Ausdruck kommt, was denn unter nachhaltigem gesellschaftlichem Wandel zu verstehen ist.
Schaue ich in erster Linie auf Deutschland oder Europa, so verstehe ich unter nachhaltigem gesellschaftlichem Wandel, dass wir beginnen unsere Tiere und Pflanzen zu schützen und mit Respekt zu behandeln; und nicht etwa Tiere in Massenhaltung unter grauenhaften Bedingungen halten, um im Supermarkt billig Fleisch anbieten zu können oder zu kaufen. Ich verstehe auch darunter, dass wir unseren Müll selbst verwerten und nicht exportieren, um diesen anderenorts abzuladen und Menschen für dessen sogenanntes Recycling auszubeuten. Ich verstehe auch darunter, dass dem umweltschädlichen Auto nicht der Vorzug vor dem öffentlichen Verkehr gegeben wird – dass die Autoindustrie nach dem Abgasskandal und Corona etwas dazugelernt hat und statt Abwrackprämien zu fordern, Innovationen einbringt, um die Mobilität auf völlig neue Wege zu bringen. Ich verstehe darunter, dass die Energiewende wirklich eingeleitet wird und regenerativen Energien der absolute Vorzug gegeben wird. Ich verstehe auch darunter, dass wir Produkte nicht billigst anderenorts produzieren und so Menschen ausbeuten, um diese Produkte dann, je nach Geschäftsmodell, teuer oder auch billig bei uns anzubieten. Ich verstehe auch darunter, dass man nicht für ein paar Euro, mehrmals im Jahr in Urlaub fliegen muss oder für „einige“ Euro mehr mehrere Kreuzfahrten unternimmt. Ich verstehe auch darunter, dass Vorstände und Geschäftsführer nicht nach Agilen Techniken suchen, um die Arbeit noch effizienter zu machen, um die Arbeitskraft Mensch unter dem Diktat des Marktes weiter auszubeuten.
Dieser, so verstandene, nachhaltige gesellschaftliche Wandel kann sicherlich nicht von heute auf morgen eingeleitet werden, wichtig ist vielmehr, dass über die Notwendigkeit dieses Wandelns sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens entwickelt und dieser auch (mittels eines mittelfristigen Masterplans) in Willen zur Transformation umgesetzt wird.
Nach meiner Einschätzung ist für das Einsetzen einer Transformation entscheidend, ob die äußeren Umstände, also der technische, gesellschaftliche und natürliche Kontext zusammen, ausreichen, um genug „Druck“ aufzubauen, so dass eine breite mentale Entwicklung in der Gesellschaft einsetzt. Dies allein dürfte jedoch nicht hinreichend sein, damit die obigen Verhaltensänderungen einsetzen werden. – Die passende Ausgangsbasis der Gesellschaft und der politischen Führung ist zusätzlich relevant.
Die nachfolgende Abbildung versucht einen Teil der relevanten Einflussfaktoren zu skizzieren. Ähnlich wie bei Individuen und Organisationen ist für die Transformationsfähigkeit einer Gesellschaft die (gesellschaftliche) Werteverteilung entscheidend (man siehe auch den vorherigen Blog „Cultural Entropy: Corona deckt unsere Werte auf“[0]).
Mentale Entwicklung und gesellschaftliche Transformation
Links in der Abbildung sind die sogenannten value meme (v-Mem) nach Spiral Dynamics zu sehen [1]. Die Darstellung vereinfacht das Werteprofil einer Gesellschaft: In einer Person und damit auch in einer Gesellschaft sind immer mehrere value meme enthalten, dargestellt ist hier jeweils nur das in einer Gesellschaft höchste und dominanteste v-Mem. In der deutschen Gesellschaft dürfte dies aktuell das orangene v-Mem sein: Erfolg und Effizienz sind wichtig. Materielle Güter zeigen dies an. Wissenschaft auf der Basis von linearem Ursache-Wirkungs-Denken hilft Erfolg und Effizienz zu erreichen. Diese v-Meme waren in den letzten 70 Jahren so erfolgreich, dass sie die Grundlagen unseres Wohlstandes gelegt haben, leider gleichzeitig auf Kosten von massiver Ausbeutung, insbesondere unserer natürlichen Ressourcen aber auch von Menschen (in ärmeren Ländern). – Da hilft es auch nicht zu betonen, dass wir u.a. über die Globalisierung mit zum Wohlstand Chinas beigetragen haben. – Denn letztendlich ging es uns nicht um eine globale gerechtere Weltordnung, sondern ganz eigennützig um unseren eigenen wirtschaftlichen Erfolg. Die Bedeutung des orangenen v-Mems kann man auch an den langen Verkaufsschlangen vor IKEA am 04.05.2020 oder auch dem wachsenden Bedürfnis die Abschottungsregeln zunehmend massiv in Frage zu stelle, erkennen. Das Auftauchen von Verschwörungstheorien ist hingegen eher dem in der Abbildung enthaltenen purpurnen v-Mem (magisch) zuzuordnen.
Die v-Meme bis zur Ebene der grünen v-Meme sind auch mit unseren menschlichen Grundbedürfnissen verbunden, und sind in nahezu jedem Menschen mehr oder weniger vorhanden: Es kann also nicht darum gehen, bestimmte Grundbedürfnisse auszuradieren, sondern lediglich in ihrer Stärke zu relativieren, so dass sie keinen Schaden anrichten. Um die Dominanz des orangen v-Mems deutlich zu reduzieren und durch das grüne v-Mem zu regulieren, bedarf es meines Erachtens mehr als nur Corona. Grüne v-Meme sind u.a. gekennzeichnet durch: Gemeinschaft und Teilen mit allen Menschen, die Natur wird voll umfänglich geschützt und respektiert, Leben auf Augenhöhe mit den Anderen.
Es müsste also einen „Druck“ geben, der diesen v-Memen eine größere Bedeutung zukommen lässt, als dies bisher der Fall ist. – Die sogenannte Digitale Transformation kommt meines Erachtens hierfür auf keinen Fall in Frage, sie stützt derzeit mehr die orangenen v-Meme als dass sie diese relativiert. Auch wenn Sigmar Gabriel in [1] sagt, dass der Einsatz der Online Kommunikation während der Corona-Krise einer Bruchkante zwischen Online und Offline gleichkomme.
Derzeit wurden sehr viele Besprechungen und Treffen in den virtuellen Raum verlegt. Viele berichten davon, dass der Meeting Marathon offensichtlich weitergeht, teilweise mit noch weniger Pausen als bei realen Treffen. Anstatt sich also zu besinnen, wird mit den gleichen Werten „Erfolg und Effizienz“ weitergemacht. Der Übergang von orangenen zu grünen Werten scheint flächendeckend nicht in Gang zu kommen. Die ein oder andere Verwaltung berichtet davon, dass starre alte mentale Strukturen zumindest etwas aufgebrochen werden, und online Meetings abgehalten werden. Hier könnte man die Hoffnung haben, dass die blauen v-Meme der Bürokratie etwas ins Wanken geraten, zumal die Gesellschaft als Ganzes die blauen v-Meme längst relativiert hat. – Dies würde bedeuten, dass sich die Verwaltung in Teilen von dominant blau zu orange eingefärbt transformiert.
Schaut man sich die großen v-Mem Veränderungen an, so sind diese bisher offensichtlich mit sehr großen globalen Katastrophen (1. Weltkrieg/ Weltwirtschaftskrise, Nazi-Reich, 2. Weltkrieg) einher gegangen. Sollten, was wir wahrscheinlich alle hoffen, die wirtschaftlichen Folgen von Corona beherrschbar bleiben, so dürfte dies auch leider mit einem Verharren in den bisherigen v-Mem Strukturen verbunden sein. – Ich mache dies u.a. an dem Wiedererstarken von CDU/CSU fest. – Diese steht sicherlich nicht für die grünen v-Meme.
Die Abbildung enthält unten verschiedene Wirtschaftszweige mit einer geschätzten Zuordnung von v-Memen: Die Öl/Gas und Kohle Industrie hat meiner Meinung hiernach noch substantielle Anteile im Bereich purpurner und roter Werte und in keinem Fall grüne Werte, dafür ist der Anteil, den diese Giganten für die Forschung in erneuerbare Energie aufwenden, viel zu gering. Meines Erachtens zeigt die Forderung der Automobilindustrie nach neuen Abwrackprämien, um die Corona-Krise zu überstehen, dass ihre orangenen v-Meme lediglich einen grünen Anstrich erhalten haben. – Bisherige grüne v-Mem Äußerungen sind lediglich Lippenbekenntnisse.
Im oberen Bereich, unter Gesellschaft, habe ich die aktuelle v-Mem Verteilung für die deutsche bzw. amerikanische Gesellschaft sowie die deutsche und amerikanische Regierung eingeschätzt. Schon im letzten Blog ging ich von einer Verteilung grün zu (orange+blau+magisch) von 30% : 50% aus. – Höchstens 20 % der deutschen Bevölkerung hat die gelbe (systemische) oder türkise (ganzheitliche) Bewusstseinsebene erreicht. – Meines Erachtens werden diese Zahlen durch die Berichte zu unserem Verhalten in der Corona-Krise gestützt. Ich vermute, dass die amerikanische Gesellschaft einen etwas höheren orangenen Anteil zu Lasten des grünen Anteils hat. Ich gehe davon aus, dass die v-Mem Verteilung der deutschen politischen Führung in etwa der Verteilung der Gesellschaft folgt. Die v-Mem Verteilung der derzeitigen US-politischen Führung repräsentiert wohl kaum in diesem Maße die US-amerikanische Gesellschaft.- Purpurne (magische) und rote (ego-heroische) v-Meme nehmen in der US Administration einen substantiellen Anteil ein: keine Empathie, lügen, drohen, verleumden, Wissenschaft ist Unsinn und spielt keine Rolle, usw.. – Margarete Stokowski hat gerade einen sehr schönen Beitrag zum Verständnis von Wissenschaft bei ego-heroischen Wertvorstellungen geschrieben [5].
Meine Prognose ist, dass deshalb die oben skizzierte Transformation bisher nicht eingesetzt hat und dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass sie im Rahmen von Corona einsetzt. – Außer, …die derzeitige Corona-Krise setzt sich fort oder verschlimmert sich (was ich mir nicht wünsche). Ich nehme an, dass in dem Fall der Corona Fortsetzung oder Verschlimmerung, diejenigen mit einem substantiellen Anteil an orangenen Bewusstseins-Memen die Population mit grünen Bewusstseins-Memen nachhaltig anreichert. Dadurch sollte in Deutschland (und Ländern mit ähnlicher v-Mem Verteilung) die Transformation in Gang gesetzt werden, da der blaue, rote und magische Anteil zusammen deutlich unter 50% liegt und die Transformation nicht mehr verhindern kann. – Sollte der Corona-Kelch und die damit verbundene schmerzliche Transformation an uns vorüber gehen, so gehe ich davon aus, dass der nächste Katastrophen-Kelch schon auf uns wartet.- Nach jetzigem Wissen dürfte dies die Klimakatastrophe sein.
[2] Scharmer Otto (2020) Acht aktuelle Lektionen von Otto Scharmer: Vom Coronavirus zum Klimaschutz, erstellt von Sascha Berger, https://medium.com/@sascha.g.berger/acht-aktuelle-lektionen-von-otto-scharmer-vom-coronavirus-zur-klimaaktion-6588e131a519, zugegriffen am 05.05.2020
[5] Stokowski Margarete (2020) Ein Virus, das Lunge und Ego angreift, https://www.spiegel.de/kultur/corona-ein-virus-das-lunge-und-ego-angreift-kolumne-a-fcac8579-7466-427d-9b5c-a30aafb3f565, zugegriffen am 12.05.2020
Unlängst hat der Soziologe Dirk Baecker ein Buch herausgebracht, das den Titel trägt „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“ [1].
4.0 – Grund genug, eventuelle Gemeinsamkeiten und
Verbindungen zwischen Soziologie 4.0 und Management 4.0 [3] aufzuspüren. Ich betrachte
hierzu neben [1] eine ältere Veröffentlichung [2], die wichtige Ergänzungen zum
soziologischen Verständnis des Begriffes „System“ enthält.
Die Sprache in [1] und [2] ist keineswegs einfach, aus meiner Sicht nicht selten kryptisch (d.h. u.a., dass Begriffe nicht klar definiert sind oder deren Verwendungen (mir) nicht nachvollziehbar erscheinen oder, dass Sätze Negationen von Negationen von …enthalten). Ich nehme in beiden Werken drei Sprachebenen wahr: Die Sprache, die den Bezug zur Alltagswelt herstellt, die Sprache eines Soziologen Luhmann’scher Prägung und eine Sprache, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse wiedergibt oder verarbeitet. Bemerkenswert ist, dass immer wieder ein Thema in allen drei Ebenen ausgedrückt wird und die Suche nach der „Einheit“ von Natur, Technik und Gesellschaft überall durchschimmert.
In [1] analysiert Baecker die Entwicklungsstufen (1.0 bis 4.0) der Gesellschaft von der tribalen Gesellschaft (1.0 „Erfindung“ der Sprache), der antiken Gesellschaft (2.0 „Erfindung“ der Schrift), der modernen Gesellschaft (3.0 „Erfindung“ des Buchdrucks) zur nächsten (post-modernen) Gesellschaft (4.0 „Erfindung“ der elektronischen Medien). Um diese Gesellschaftsformen zu beschreiben, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten verwendet er 26 Themen (dies sind u.a. Überschusssinn, Strukturform, Kulturform, …., Witz). – Ich gehe nicht auf diese 26 Themen ein, sondern vielmehr auf dahinterliegende Grundaussagen. – Die „Übersetzung“ dieser Themen in eine operationalsierbare und damit in der Praxis testbare Theorie sprengt bei weitem den Rahmen eines Blogbeitrages.
Die zeitliche und inhaltliche Zuordnung der Nummerierung 1.0
bis 4.0 entspricht nicht derjenigen der im Management 4.0 verwendeten [6]. – Mit
der Kennzeichnung 4.0, beziehen sich jedoch beide auf die nächste, sich gerade
entwickelnde Gesellschaftsform. Management 4.0 und Soziologie 4.0 enthalten sehr
viele gemeinsame Aussagen und stimmen in ihren Prinzipien (meines Erachtens)
überein.
Um dies zu zeigen, habe ich im Folgenden eine Reihe von Aussagen aus [1] und [2] herausgegriffen und damit eine Perspektive eingenommen, die sicherlich nicht vollständig ist, jedoch vielleicht einige wesentliche Aspekte der Soziologie 4.0 einfängt und die Verbindung zum Management 4.0 aufzeigt.- Meine Kommentare zu den Soziologie 4.0 Aussagen füge ich in kursiv hinzu:
„4.0 steht für die Gesellschaft elektronischer Medien und
nicht nur für die elektronischen Medien.“ [1, S. 30]
Hier taucht schon eine Sicht auf, die
Medien/Digitalisierung und Gesellschaft als „Einheit“ betrachtet und nicht als
etwas „Getrenntes“. Eine grundlegende Aussage, um die nächste, jetzt anstehende
Gesellschaft (ich verwende der Einfachheit wegen im Folgenden den Begriff post-moderne
Gesellschaft) zu verstehen.
„Eine Soziologie 4.0 ist eine Soziologie, die Trajektorien
im Netzwerk folgt und ein intensives Interesse daran entwickelt, wie Elemente
heterogener Art, vermittelt über Schnittstellen digitaler und analoger Art,
unwahrscheinliche Muster, Geschichten und Modelle bildet, an denen sich
Operationen orientieren, die im nächsten Moment zu Operanden werden.“ [1,
S.58].
Trajektorie heißt ein gesellschaftlicher, historischer,
wirtschaftlicher, ökologischer oder technologischer Entwicklungsverlauf [4],
und ist ein Begriff der in Natur-, Technik- und Sozialwissenschaften sehr
ähnlich verwendet wird. Er beschreibt den Entwicklungspfad von Systemen. Das
System der post-modernen Gesellschaft wird als heterogenes Netzwerk verstanden,
das Komplexität ausprägt (Muster, Geschichten und Modelle). Prozesse
(Operationen) wirken in diesem komplexen Netzwerk und werden in „höheren“
Prozessen weiterverarbeitet. – Dies deutet auf eine selbstreferentielle Entwicklung
zu „höheren“ Stufen hin. Der Begriff „emergente Phänomene“ taucht hier zwar
nicht auf, im Management 4.0 verbinden wir jedoch diese selbstreferentielle
Entwicklung mit Emergenz.
„Die sogenannte digitale Transformation (der Gesellschaft)
ist rekursiv und nicht-trivial. Sie verändert die Voraussetzungen, unter denen
sie stattfindet, und damit auch die Ziele, die sie verfolgt.“ [1, S. 61]
Dieser Satz führt die vorherige Aussage fort: Prozesse,
Regeln oder Strukturen der Transformation erbringen ein Transformationsprodukt,
das wieder Prozessen, Regeln und Strukturen ausgesetzt wird. Hierbei können
sich die Prozesse, Regeln und Strukturen, die das Produkt hervorrufen, schon
wieder verändert haben. In diesem Sinne liegt keine „ideale“ Rekursion vor. Im
Management 4.0 verwenden wir deshalb den Begriff der Selbstreferenzialität
(auch wenn wir wissen, dass das Selbst sich durch den Selbstbezug ändern wird).
Komplexität und Selbstreferenzialität sind im Management 4.0 die Basis von
Selbstorganisation und damit von emergenten Strukturen.
„Der gemeinsame Nenner von Wissenschaft, Natur und
Gesellschaft ist die Eigenschaft der rekursiven Komplexität.“ [1, S.137] „Rekursivität
ist die Voraussetzung jeder kontextuellen Berechnung, die die eigenen Ansätze
überprüft, indem sie sie im Material überprüft.“ [1, S. 138]
Hier wird mit dem Begriff der rekursiven Komplexität, der Natur, der Technik und der Gesellschaft ein gemeinsamer Nenner gegeben. – Mir ist allerdings nicht bekannt, dass es Komplexität ohne Rekursion gibt. – Der Begriff ist aus meiner Sicht ein Pleonasmus (weißer Schimmel): Komplexität beruht immer auf Feedback, also u.a. auf Rekursion. Im Management 4.0 gehen wir von der Grundannahme aus, dass die grundlegenden Prinzipien in Natur, Technik und Gesellschaft gleich sind. Die kontextuelle Berechnung unter Einbeziehung von Selbstreferenzialität („rekursiver“ Komplexität) führt im Kontext von Personen oder sozialen Systeme zur Selbstreflexion. Sie ist eine zentrale Basis des Agilen Managements.
„Als Einmalerfindungen liegt die Gesellschaft auf derselben
Ebene wie das Leben, das Gehirn, das Bewusstsein, vielleicht auch die Welt. Es
gibt sie, man kann sie beobachten und beschreiben, aber man kann sie nicht
erklären. Sie verdanken sich Symmetriebrüchen, wie man in der Physik
formuliert.“ [1 S. 143]
Hier wird Emergenz in seiner höchsten Form beschrieben. Diese
wird im Zusammenhang mit Symmetriebrüchen genannt. Nicht „Alles“ auf der
jeweiligen Stufe bleibt „symmetrisch“ vorhanden, sondern es wird eine Selektion
vorgenommen, also die Symmetrie im „Alles“ wird gebrochen. Dies führt zur
nächsten Entwicklungsstufe. Ein Symmetriebruch ist eine zentrale Voraussetzung
für die Ausbildung von Selbstorganisation (Prinzip 7) [5]
„Die soziologische Systemtheorie im Stile Luhmanns ist der
theoretische und nicht entschiedene Versuch, die Teleologie und die Teleonomie
miteinander zu verbinden, das heißt gesellschaftliche Institutionen als Einrichtungen
zu untersuchen, die sich teleonomisch ihr Gesetz selbst geben, um teleologisch
eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen.“ [1 S. 144] (Teleologisch ist
Phänomenen ein bestimmter Logos verordnet, teleonomisch geben sie sich ihre
Gesetze selbst. [1 S. 144])
Die soziologische Systemtheorie kann den „Unterschied“ zwischen teleonomisch und teleologisch nicht auflösen, da diese Form der Systemtheorie nur die Makroebene und nicht die Mikroebene kennt [5]. Über die Verbindung dieser beiden Ebenen lässt sich dieser Widerspruch (meines Erachtens) auflösen. In der sozialwissenschaftlichen Veröffentlichung vonStadelbacher und Böhle [6] wird die teleonomische Ausrichtung im Kontext der Selbstorganisation als autonome Selbstorganisation bezeichnet, eine von der Organisation selbstgeleistete, selbstbestimmte absichtliche Selbstorganisation. Die telelogische Ausrichtung wird als autogene Selbstorganisation, eine von der Organisation, in der Organisation nicht absichtlich herbeigeführte Selbstorganisation bezeichnet. Die Theorie der Selbstorganisation (u.a. die Synergetik) löst den „Widerspruch Teleologie-Teleonomie“ auf. Die Theorie der Selbstorganisation macht keinen Unterschied, ob die Systemparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) absichtlich oder unabsichtlich gerade so sind, dass emergente Makrostrukturen entstehen. – Ich betrachte diesen „Widerspruch“ als Anzeichen der Reife einer wissenschaftlichen Disziplin: Die Thermodynamik war über viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, eine phänomenologische Theorie der Makrostruktur von (makroskopischen) Objekten. Ludwig Boltzmann war im 19ten Jahrhundert derjenige, der auch die Mikroebenen-Sicht vertrat und diese mit der Makroebene zusammenbrachte. Er wurde Zeit seines Lebens hierfür angefeindet, so dass er sich wahrscheinlich deshalb das Leben nahm. Erst Einstein und die Quantenmechanik trug zur Auflösung dieser vermeintlichen „Widersprüche“ bei.
„Genügt dem Individuum in der modernen Gesellschaft
fachliche und soziale Kompetenzen sowie die Fähigkeit, zwischen Ihnen zu
wechseln, so benötigt es jetzt zusätzlich die Kompetenz der Selbstselektion.“
[1 S. 158]
Die Kompetenz der Selbstselektion bezeichnet im
Management 4.0 die Metakompetenz: Dies ist die Fähigkeit, sein Verhalten über
die höheren Ebenen der sogenannten Dilts-Pyramide (Vision, Mission,
Zugehörigkeit, Identität, Werte und Grundannahmen) dem Kontext entsprechend
selbst zu selektieren und entsprechend zu handeln [5], [3]. Diese
Selbstselektion ist die zentrale Fähigkeit, um in komplexen Umfeldern
Komplexität zu regulieren und Unsicherheit zu meistern.
„Man liebt sich, weil man ist, wer man ist, und keine Rolle
spielt, wer man ist. Liebe ist die andere Seite aller Verbreitungsmedien, die
eingeschlossene ausgeschlossene Wahrnehmung im Kontext des Ausschlusses der
eingeschlossenen Kommunikation.“ [1 S. 167]
Der erste Satz stellt wohl ein Beispiel für einen
allgemein verständlichen Satz dar, der im zweiten Satz abstrahiert wird. – Man
kann dies mit etwas Mühe nachvollziehen, jedoch erschließt sich (mir) der
Mehrwert der Abstraktion nicht wirklich.
Werte wie Liebe werden in der Soziologie 4.0 als Verbreitungsmedien angesehen.
– Werte sind also Medien, in denen sich Kommunikation verbreitet. Mit dem
Agilen Manifest wurde explizit der Übergang zu einer wertorientierten
Kommunikation eingeleitet. Die Gestaltung der Kommunikation über eine bewusste
und transparente Persönlichkeitsorientierung ist eine Basis des Management 4.0.
– Die Persönlichkeitsorientierung schließt nicht nur die Werteorientierung,
sondern alle eine Persönlichkeit ausmachenden Charakteristika mit ein. – Die
Quellen der Werte einer Gesellschaft sind also Menschen. Wir modellieren eine
Persönlichkeit mit der sogenannten Dilts Pyramide [3], [5]. Deshalb werden die
logischen Ebenen der Dilts Pyramide (Zugehörigkeit, Identität, Werte und
Grundannahmen) mit der Theorie der Grundbedürfnisse (Grawe Neuropsychiatrie), dem
Kultur- und Bewusstseinsmodell Spiral Dynamics, dem Modell des Schnellen und
Langsamen Denkens nach Kahneman und Tversky, dem Reiss Motive Profil sowie dem
MBTI Temperamentprofil ausgestaltet. Man kann das resultierende Feld der
Interaktion der Persönlichkeiten als ein Verbereitungsmedium oder ggf. als
mehrere Verbreitungsmedien mit unterschiedlichen Charakteristika ansehen.
„Die nächste Organisation ist entweder Plattform oder agil.
Sie ist entweder, wie oben bereits zitiert, Schnittstelle und Nutzer, System
und Programm, Bühne und Regelwerk, Standard und Abweichung, Zentrum und
Peripherie zugleich, oder Projekt in jenem Sinne der Philosophie eines agilen
Managements, die zugleich auf einen hohen Grad der Vertaktung von Organisation
und der Schaffung von Spiel- und Freiräumen setzt.“ [1, S. 173]
Dies entspricht vollständig dem Management 4.0 Ansatz. Für
die umfangreiche Ausgestaltung dieses Satzes im Sinne des Management 4.0
verweise ich auf Release 3 des Management 4.0 Handbuches [6].
„Im agilen Management ist das Projekt eine Art
internalisierte und strikt temporalisierte Plattform.“ [1 S. 176]
Dies entspricht vollständig dem Management 4.0 Ansatz. Die
Gestaltung von Raum und Zeit als Ausgestaltung des Rahmenparameters (Abschottung,
time boxing und PDCA-Zyklus) spielt für die Regulation von Komplexität u.a.
durch Selbstorganisation eine sehr große Rolle [6].
„Technische Objekte sind mitten unter uns. Und mehr Objekte
sind technisch, als es sich die Moderne mit ihrer Unterscheidung von Technik,
Natur und Gesellschaft träumen ließ. Im Grunde ist jedes Objekt, vom Faustkeil
über das Fell, den Stuhl und das Fahrrad bis zum Phasenprüfer und Smartphone
ein technisches Objekt der Herstellung von Einfachheit an der Schnittstelle von
Black Boxes, hinreichend komplexen Einheiten.“ [1 S. 185]
Dies entspricht einem der wichtigsten Glaubenssätze des Management 4.0: Hiernach löst sich der Glaubenssatz der willkürlichen Unterscheidungen von Natur, Technik und Gesellschaft in der post-modernen Gesellschaft auf, er wird obsolet und schließlich abgeschafft. Die post-moderne Gesellschaft ist für das Management 4.0 eine Gesellschaft in der gemäß der Spiral Dynamics Codierung die value meme gelb (vernetzt) und türkis (holistisch) ihre Wirkung entfalten.
„Die Abstraktion ist eine Vorstellung, die sich von der
Anschauung unabhängig macht, um in sie zurückzukehren. Sie ist nicht der
Sündenfall eines Verrats an der Lebenswelt, sondern ein Medium der Erkundung
dieser Lebenswelt.“ [1, S. 239]
Dies entspricht einem der wichtigsten Glaubenssätze des
Management 4.0: Ohne die Abstraktion ist keine Metakompetenz und damit keine
Selbstselektion möglich. Ein selbstbestimmtes Leben in einer komplexen Welt der
Netzwerke wäre damit verwehrt. Ich verweise auch auf meinen Blog-Beitrag „Vom
Unterschied, der den Unterschied macht: „Principles rather than processes are
what matter.”“ vom Juni 2019.
„Architektur und Kleidung, Praktiken und Routinen, kognitive
Schemata und institutionalisierte Selbstverständlichkeit. Sobald sie als das
Produkt eines Designs auftreten, absorbieren sie Ungewissheit, weil sie sich
verdächtigen und somit testen lassen.“ [1, S. 258]
Dies entspricht einem der wichtigsten Glaubenssätze des
Management 4.0: „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.“ Eine gute
Theorie liefert die Grundlage für ein bewusstes Design und reguliert damit
Komplexität, um Ungewissheit zu absorbieren. In [5] haben wir einen
verallgemeinerten PDCA Prozess eingeführt, um Hypothesen auszutesten und das
Design iterativ und bewusst zu gestalten.
Zusammenfassend stelle ich bisher fest, dass die Soziologie 4.0 und das Management 4.0 sehr viele Gemeinsamkeiten und Verbindungen besitzen und die Kennzeichnung über die 4.0 dies auch zum Ausdruck bringt.
Die Veröffentlichung zum Systembegriff [2] ist aus dem Jahre
2010. Sie enthält einige der Grundlagen, die in der Soziologie 4.0 zum Tragen
kommen. Ich verwende die gleiche Vorgehensweise wie oben, um [2] in seinen
Aussagen zu skizzieren:
…nach dem Tod der beiden größten Mathematiker, die sich mit
der Kybernetik beschäftigt haben, John von Neumann und Norbert Wiener, [waren] drei
Probleme der Kybernetik ungelöst liegen geblieben: das Problem unzureichender
statistischer Datenreihen, um neben technischen auch soziale Probleme mit den
Mitteln der Kybernetik lösen zu können; das Problem der Kopplung nichtlinearer
Oszillatoren; und das Problem kontinuierlich nichtlinearer Vorhersage.
Die o.g. drei Probleme wird man heute wohl nicht mehr
allein der Kybernetik, sondern eher der breiter aufgestellten Komplexitätsforschung
(inkl. Theorie der Selbstorganisation, Chaostheorie, Synchronisationstheorie) zuordnen.
Das Problem unzureichender statistischer Datenreihen, um soziale Probleme
quantitativ anzugehen, ist sicherlich immer noch vorhanden, jedoch befindet es
sich mit dem Thema von Big Data (und KI) in der Auflösung.- Hierzu gibt es
zahlreiche Beispiele, man siehe u.a. [7], [8]. Die Kopplung nichtlinearer
Oszillatoren ist ein aktuelles Forschungsgebiet, das u.a. über die durch
Synchronisation induzierte Selbstorganisation von gekoppelten Systemen und
komplexen Netzwerken enorme Fortschritte gemacht hat [9]. Der verwendete
Begriff „kontinuierlich nichtlineare Vorhersage“ entzieht sich so meinem
Verständnis. Ich interpretieren ihn so, dass damit die zukünftige Vorhersage in
nichtlinearen Systemen auf der Basis eines beliebigen Ausgangszustandes gemeint
ist. Auch hier wurden erhebliche Fortschritte gemacht [9], wenngleich jedes
komplexe oder chaotische Systeme Unvorhersehbarkeit in sich trägt und damit dieses
Problem wahrscheinlich nie ganz gelöst wird.
Dabei interessierte ihn [John von Neumann] in Diskussionen
mit Heinz von Foerster laut McCulloch insbesondere die Frage eines
Verständnisses der Selbstorganisation von Sternen, Kristallen und Organismen
auf der Grundlage eines Systembegriffs, der von informationaler Geschlossenheit
(bei energetischer Offenheit, das versteht sich von selbst) ausgeht.
Ich kenne kein System, das energetische Offenheit und
informationale Geschlossenheit hat. Energetische oder materielle Offenheit
führt auch immer informationale Offenheit mit sich. – Energie/Materie
transportiert Information. Die Aufnahme oder Abgabe von Information ist
wesentlich, damit sich Systeme an die Umgebung anpassen können.- Natürlich darf
die Offenheit nur so groß sein, dass sich das System selbst erhalten kann.
Aus der Frage, welche statistischen Zeitreihen komplexe
Phänomene beschreiben, wird die Frage, wie Systeme zählen und rechnen. Die
Frage nach der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren wird übersetzt in die Frage
der symmetrischen Tauschfähigkeit unter den Werten, die die Zustände eines
Systems beschreiben. Und aus der Frage nach der kontinuierlich nichtlinearen
Vorhersage wird die Frage nach einer funktionalen Beobachtung, die in der Lage
ist, die Zustände eines Systems asymmetrisch zu ordnen und diese Ordnung nach
Bedarf auch wieder aufzulösen. Tausch und Ordnung laufen über eine Befähigung
des Systems zur Negation, die möglicherweise an dieselbe Erfahrung der
Inkommensurabilität und unreduzierbaren Komplexität der Komponenten des Systems
rückgekoppelt ist, die auch das Zählen ermöglicht, wenn nicht sogar erzwingt.
Die nachfolgende Tabelle listet diese zentralen Fragen, ordnet
diesen dann die abgeleiteten Fragen der sozialen Systemtheorie zu und skizziert
entsprechende Fragen des Management 4.0:
Zentrale
Fragen der Kybernetik
Abgeleitete
Fragen der sozialen Systemtheorie
Fragen im
Management 4.0
Unzureichende
statistische Zeitreihen oder das Beschreiben statistischer Zeitreihen
Wie zählen
und rechnen Systeme? Die Wahl der Verben „zählen und rechnen“
erschließt sich mir nur bedingt. Es geht um Wechselwirkung und damit
verbundene charakteristische Größen. In der Mathematik werden
Wechselwirkungen durch Operationen abgebildet. Zählen und Rechnen sind
sicherlich eine Form von Operationen.
Was sind
die zentralen Größen und deren Wechselwirkung? Und ist es auf der Basis
dieser zentralen Größen möglich, Zeitreihen für die zentralen Größen zu
definieren. Z.B. ist die Persönlichkeit eine zentrale Größe? Und durch welche
Variablen lässt sich diese beschreiben und welche Zusammenhänge gibt es
zwischen diesen Variablen -und wie ergibt sich aus den Persönlichkeiten und
evtl. anderen Größen (und welche sind die wichtigsten?) eine soziale
Makrostruktur?Zu charakteristischen Zeitreihen siehe man für Gruppen [10] oder für
social media Groß-Gruppen [7].People Analytics ist ein neues
Anwendungsgebiet, das auf Big Data und KI aufsetzt.- Man siehe hierzu auch
meinen Blog“#PAFOWLondon – People Analytics & Future of Work –
Deutschland, wo bist Du?“ vom April 2019
Kopplung
nichtlinearer Oszillatoren
Symmetrische
Tauschfähigkeit unter den Werten. Auch hier erschließt sich mir die
Wahl der Zuordnung nur bedingt: Gehe ich mal davon aus, dass es sich nicht
(allein) um materielle Werte (Gold, Aktien, usw.) handelt, sondern um
Kulturwerte, so geht es nicht nur um Tausch, sondern um Wechselwirkungen und
diese müssen auch keinesfalls vollständig symmetrisch sein.
Wie führt
die Kopplung nichtlinearer Agenten, u.a. deren Persönlichkeiten (u.a. die
Werte, aber nicht nur diese, s.o.) zu nichtlinearen Wechselwirkungen, die
wiederum nichtlineare soziale Felder ausbilden. In der Theorie der
Selbstorganisation ist die Kopplung nichtlinearer Oszillatoren/Agenten sehr
stark mit der Variation der sogenannten Kontrollparameter verbunden [5]. Man
siehe auch [9], [10].
Kontinuierliche
nichtlineare Vorhersage
funktionale
Beobachtung, die in der Lage ist, die Zustände eines Systems asymmetrisch zu
ordnen und diese Ordnung nach Bedarf auch wieder aufzulösen
Handlungen
auf der Basis des verallgemeinerten PDCA Zyklus ausgehend von
falsifizierbaren Hypothesen [5]. Ausgestaltung von Systemen mittels der acht Prinzipien der
Selbstorganisation [5] und Anwendung des verallgemeinerten PDCA Zyklus. Iterative, selbstkonsistente Ausbildung eines symmetriegebrochenen
Makrozustandes
Das, was sich in einem System zu einem System zusammenstellt
(griech. syn-histamein), greift aus dem System heraus, um innerhalb des Systems
eine Ordnung aufrechtzuerhalten oder herzustellen.
Dies entspricht in der Theorie der Selbstorganisation der Ausbildung von Ordnungsparametern und der damit verbundenen Emergenz von Makrostrukturen [5], [10], [9].
Mit der Kybernetik und ihrer Rezeption der mathematischen
Kommunikationstheorie Claude E. Shannons wird jedoch eine Mathematik verfügbar,
die für diese Ergänzungsbedürftigkeit einen eigenen Begriff hat, denjenigen der
Nichtlinearität, und die in der Lage ist, diesen Begriff auf die Beschreibung
von Gesamtsystemeigenschaften zurückzubeziehen, die mit Hilfe der Thermodynamik
nicht mehr mechanisch verstanden werden müssen, sondern als Zustände gemischter
Ordnung und Unordnung verstanden werden können. Der entscheidende Punkt hierbei
ist die Verwendung eines probabilistischen Ordnungsbegriffs, der sowohl den
Zufall als auch die Entscheidung zu inkorporieren erlaubt, und so erstmals den
Systembegriff auf die Spitze der Differenz eines Ereignisses stellt, bei dem
alles darauf ankommt, den Unterschied zwischen System und Umwelt zu verstehen
und zu verarbeiten. »Zufall « heißt einerseits Unsicherheit und andererseits
Material für abweichende Elemente und Operationen.
Damit ist klar, daß die Operationen eines Systems zwischen
das Rauschen und den Zufall einerseits und die Entscheidung und die
Beschreibung eines dafür passenden Möglichkeitsraums andererseits eingespannt
sind.
Die Theorie von Komplexität und Chaos ist eine deterministische Theorie. – Z.B. ist die rekursive (!) Gleichung, auf der die Mandelbrot Bäumchen basieren, eine deterministische Gleichung. Jedoch ist die numerische Sensitivität dieser Gleichung so enorm hoch, dass sich wohldefinierte chaotische Strukturen ergeben: Hiermit wird oft die Metapher verbunden, dass ein Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Hurrikan in New York auslösen kann. Ereignisse werden als „Zufall“ sichtbar, da sie andere (dominante) Ereignisse aufgrund einer gerade vorliegenden Systemkonstellationen mitauslösen: Der Flügelschlag des Schmetterlings (Zufallsereignis) löst aufgrund der aktuellen Wetterverhältnisse (Systemkonstellation) einen Hurrikan (neues Ereignis) aus. Natürlich können Systeme verschiedene „Mischungen“ von Ordnung oder Unordnung enthalten (was immer man auch als Ordnung oder Unordnung ansieht): Eine Gruppe von Personen votiert für A und eine andere Gruppe von Personen votiert für nicht-A. Aufgrund eines Ereignisses und der aktuellen Systemkonstellation kann das soziale Systeme in eine bestimmte dominante Struktur (Ordnung) wechseln: Alle votieren für A. Und natürlich ist es möglich und sinnvoll solche „Mischungen“ und deren Änderungen mit Wahrscheinlichkeiten zu belegen. Rauschen und Zufall können je nach Kopplungsstärke in Systemen, Systeme stabilisieren (u.a. zur selbstorganisierten Synchronisation führen) oder destabilisieren [9]. – Fehlende Informationen (auf Mikroebene) werden durch Aussagen zu Wahrscheinlichkeiten oder zu Wahrscheinlichkeitsverteilungen „kompensiert“.
Die Systemtheorie, so dann auch Niklas Luhmann, hat es mit
Prozessen einer »Konstitution von oben« zu tun, nicht einer »Emergenz von
unten«.
Die Systemtheorie hält sich damit an das Vorbild der
Thermodynamik.
Wie weiter oben schon skizziert, enthält die
Systemtheorie nach Luhmann meines Erachtens eine große Einseitigkeit in der Betrachtungsweise.
Die Thermodynamik hatte, wie schon erwähnt, sehr lange Zeit, aus der
„wissenschaftlichen Not heraus“ – d.h. das Wissen war noch nicht so weit –
ebenfalls diese einseitige Betrachtungsweise. Mit der statistischen Mechanik
oder Quantenmechanik hat sich ihre Betrachtungsweise seit Ludwig Boltzmann
erheblich erweitert.
Das muß nicht darauf hinauslaufen, das System als etwas zu
verstehen, was mehr ist als die Summe seiner Teile, wie eine allzu oft zitierte
aristotelische Formel holistischen Denkens lautet. Die Systemtheorie rechnet
auch mit der Möglichkeit, daß das Ganze, verstanden als System, weniger ist als
die Summe seiner Teile, und dies deswegen, weil die Teile eine höhere reflexive
Kraft haben als das Ganze. Sie profitieren davon, wenn man so sagen darf, daß
sie im Verhältnis zueinander mehr Probleme zu bewältigen haben als das Ganze.
In [5] skizzieren wir diese Aussage mit folgender Abbildung 1, sie ist eine Basis des Komplexitätsverständnisse im Management 4.0:
Abbildung 1: Komplexität und Entropie
Entscheidend ist das Verständnis des Systems als
intervenierender Variable.
Eine der griffigsten Möglichkeiten, diesen Sachverhalt der
nichtlinearen Reproduktion auf den Punkt zu bringen, besteht im Graph der
perturbierten Rekursion, wie ihn Peter Bøgh Andersen gezeichnet hat.
Abbildung 2: System-Rekursion: Auf der Basis von [2].
Die Bezeichnung jener Black box, die für die Verschaltung
von Rekursion und Perturbation verantwortlich ist, als »Prozeß« ist hier wie so
oft ein Verlegenheitsbegriff, der die Stelle besetzt, an der von
»Selbstorganisation« als dem entscheidenden Vermögen komplexer Phänomene die
Rede sein müßte. Immerhin jedoch können wir aus dem Graph die basale
Ungleichung der Systemtheorie ableiten, die das System, S, als Funktion seiner
selbst, S, und seiner Umwelt, U, beschreibt:
Diese Paradoxie, die mit jedem auf eine Umweltstörung reagierenden Schritt der Systemreproduktion S als S identifiziert und differiert zugleich, muß aufgelöst werden, wenn das System sich reproduzieren können soll, wobei man sich eine Entparadoxierung nicht nur in der Zeitdimension des Sinns, abhängig vom Zeitpunkt t, St≠ St‘, sondern auch in der Sachdimension, abhängig vom Beobachter b, Sb ≠ Sb’, und in der Sozialdimension, abhängig von der Differenz zwischen ego und alter oder zwischen Ich und Du, Sich ≠ Sdu, vorstellen kann.
Abbildung 2 skizziert schematisch eine
Selbstkonsistenzbedingung für ein (komplexes oder selbstorganisiertes) System.
Der Begriff Selbstkonsistenz ist hier enorm wichtig. Systeme zeigen, so lange
sie existieren, nie das Verhalten S ≠ S, denn dann höheren sie auf zu existieren. Die geforderte
Bedingung Selbstkonsistenz würde sich dann wie folgt ausdrücken S =! S, d.h.
das System muss sich konsistent selbst erzeugen. Natürliche, technische und
soziale Systeme kennen in der „Realität“ keine Paradoxie, Paradoxien entstehen
in unserem Verständnis (unseren Theorien und Modellen) der Systeme – nicht in
der „Realität“. Das Einführen von Variablen (Zeit, Beobachter, …) ermöglicht die
Einführung einer Änderung des Systems nach diesen Variablen. Zum Beispiel für
die Variable Zeit ergibt sich statt St ≠ St‘: dS/dt = S (S, U, t). Die Lösungen der
Differentialgleichung (wenn sie denn existieren) sind selbstkonsistente
Systemzustände.
Will man die Ergebnisse der Auseinandersetzung der Systemtheorie mit den ungelösten Fragen der Kybernetik zusammenfassen, so kann man festhalten, daß das System seine eigene Statistik aus einem Zählen gewinnt, zu dem es sich durch Negationen im Medium der eigenen inkommensurablen Komplexität befähigt. Das Problem der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren wird von Sinnfiguren gelöst, die aus oszillierenden Unterscheidungen bestehen, deren Termini in je nach Bedarf und Findigkeit überraschenden und zwingenden Beziehungen zueinander stehen. Und das Problem der kontinuierlich nichtlinearen Vorhersage wird von funktionalen Bewertungen gelöst, die im Kontext der Beobachtung funktionaler Äquivalente stehen, die jede für sich die Frage einer unbekannten Zukunft sowohl aufwerfen als auch zu bearbeiten erlauben.
In Teilen wurde diese Zusammenfassung schon weiter oben
betrachtet. Hier kommentiere ich lediglich die Aussage „Kopplung nichtlinearer
Oszillatoren wird von Sinnfiguren gelöst“: Im Management 4.0 sagen wir, dass
die Wechselwirkung der Menschen über Kontrollparameter (Werte, Grundannahmen,
Temperament, Work-in-Progress) so einzustellen ist, dass sich ein
Ordnungsparameter (eine Ziel-Hierarchie: u.a. Vision, Mission, Zugehörigkeit)
einstellt, der Sinn vermittelt und daraus eine soziale Makrostruktur entsteht,
die wir als Collective Mind bezeichnen.
Man darf gespannt sein, ob die Mathematik Anschluß an diese
Rezeption mathematischer Ideen in der Systemtheorie finden wird.65
Deutlich ist bislang nur, daß der Rahmen der zweiwertigen Logik für diesen
Anschluß der Mathematik unzureichend ist. Doch offen ist, inwieweit eine
mehrwertige Logik semantischer Felder jene operative und kategoriale
Bestimmtheit erreichen kann, die es erlauben würde, den statistischen
Feldbegriff der Thermodynamik an den konstruktivistischen Systembegriff der
kognitionswissenschaftlichen Forschung aufschließen zu lassen. Entschieden ist
jedenfalls nichts.
65Es ist vermutlich kein Zufall, daß aktuelle
Formulierungen der Systemtheorie als Theorie komplexer Systeme (Santa Fe) nur
unter der Bedingung der Vermeidung einer Bearbeitung des Selbstreferenzproblems
mit einer mathematischen Modellierung kompatibel sind.
Mir erschließt sich diese Aussage nicht wirklich:
Operationalisierbare Theorien haben einerseits den Anspruch ein Modell zu
liefern, das möglichst nahe an der Realität ist und andererseits für die
Modelle auch (mathematische oder durch Simulation erhaltene) Lösungen
anzubieten. Falls die Modelle (bisher) keine Lösungen liefern, werden die
Modelle oft so einfach gemacht, dass Lösungen möglich sind. Die zitierte
Literatur greift aus diesem Grunde der Einfachheit wegen auch auf binäre
Modelle mit zwei Zuständen 1 und 0 zurück. – Dies entsprach auch schon vor 25
Jahren nicht mehr dem Stand der Erkenntnis und der mathematischen Technik. Die
mathematische Abbildung von Selbstreferenz wird in seiner einfachsten Form mit
S*S (x*x =x2) abgebildet und führt zur geforderten (rekursiven)
Komplexität (man siehe auch Abbildung 2).
Abbildung 3 zeigt eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Temperamentdimension Extraversion-Introversion im Persönlichkeitsmodell MBTI oder Big Five. Mit der Einführung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen löst sich die binäre Logik auf.- Selbstverständlich wird damit eine mögliche mathematische Theorie wesentlich anspruchsvoller (u.a. sehr viele Freiheitsgrade) und derzeit ist mir keine Theorie bekannt, die auf der Basis von Persönlichkeitspräferenzen über Wahrscheinlichkeitsverteilungen eine emergente soziale Makrostruktur ableiten könnte. – Gleichwohl wird unter einer mathematischen Beschreibung die Klarheit im Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen deutlich erhöht.
Abbildung 3: Wahrscheinlichkeitsverteilung für die
Temperamentausprägung Extrovertiert (E) und Introvertiert (I) mit vereinfachter
„zweiwertiger“ Wahrscheinlichkeitslogik (0,8 und 0,2)
Zusammenfassend sehe ich folgenden Nutzen für mein beispielhaftes
Schauen über den Tellerrand:
Das eigene Verständnis wird im Betrachten eines Sachverhalts
durch eine andere Brille wesentlich geschärft.
Fortschritt entsteht auch wesentlich aus
Transdisziplinarität: Andere Sichtweisen helfen eigene Blockaden zu erkennen
und damit zur Emergenz neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse beizutragen.
Dies setzt jedoch voraus, dass sich unterschiedliche
(wissenschaftliche) Disziplinen einer gemeinsamen Sprache oder zumindest einer
gemeinsamen sprachlichen Basis bedienen. – Wie in den obigen Ausführungen zu
sehen ist, ist die fehlende gemeinsame Sprache eine große Quelle für potentielle
Missverständnisse.
Dieser Blogbeitrag soll auch dazu beitragen in unserem Dialogforum „Projekte neu gedacht“, in dem verschiedenen Disziplinen um ein post-modernes Verständnis zu Projekten ringen, disziplinübergreifende Brücken zu bauen.
[1] Baecker Dirk (2018) 4.0 oder die Lücke die der Rechner
lässt. Merve Verlag, Leipzig
[2] Baecker Dirk (2010) System, erstveröffentlicht in:
Christian Bermes und Ulrich Dierse (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie
des 20. Jahrhunderts, Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 6, Felix Meiner
Verlag, Hamburg, 2010, S. 389-405 – ISBN 978-3-7873-1916-9, online:
www.vordenker.de Neuss 2018, J. Paul (Ed.), ISSN 1619-9324, URL: <
http://www.vordenker.de/dbaecker/dbaecker_system.pdf >
[3] Oswald A, Müller W (2019) Management 4.0 – Handbook for
Agile Practices, BoD Verlag, Norderstedt
[5] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2016) Projektmanagement
am Rande des Chaos, Springer, Heidelberg
[6] Stadelbacher S und Böhle F (2016) Selbstorganisation als
sozialer Mechanismus der reflexiv-modernen Herstellung sozialer Ordnung in
Böhle F und Schneider W, Subjekt-Handeln-Institution – Vergesellschaftung und
Subjekt in der reflexiven Moderne, Velbrück Wissenschaft, Weilerwist
[7] Centola D (2018) How
Behavior Spreads: The Science of Complex Contagions (Princeton Analytical
Sociology, Band 3), Princeton Univers. Press
[8] West G
(2017) Scale: The Universal Laws of Growth, Innovation, Sustainability, and the
Pace of Life in Organisms, Cities, Economies, and Companies, Penguin Press,
Kindle Edition
[9]
Boccalletti S, Pisarchik A N, Del Genio C I, Amann A (2018) Synchronization –
From Coupled Systems to Complex Networks, Cambridge University Press, Cambridge
UK
[10] Haken H and Schiepek G (2010) Synergetik in der
Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten, Hogrefe, 2010
Die Digitale Transformation (DT) [0] ist eine der Hauptthemen der GPM Fachgruppe Agile Management und das Hauptthema der GPM Fachgruppe Digitale Transformation. Der von der Politik gesetzte Rahmen lässt sich gut an Hand der beiden Strategiepapiere [1] und [2] sowie ergänzend an Hand der Hightech-Strategie 2025 [3] und des Gutachtens der Expertenkommission Forschung und Innovation [4] einschätzen. Das Strategiepapier „Digitalisierung gestalten“ [1] ist für die Digitale Transformation das zentrale Dokument. Es enthält Maßnahmen zur Verbesserung der Digitalen Kompetenzen verschiedener Bevölkerungsgruppen (u.a. DigitalPakt Schule), zu Infrastruktur und Ausstattung (u.a. Glasfaserausbau, 5G), zu Innovation und digitale Transformation (u.a. KI, Blockchain, Digitale Medizin, Make-it (FabLabs), Startups, Nachhaltigkeit, Arbeit 4.0, Cybersicherheit), zur Gesellschaft im digitalen Wandel (u.a. Ethik und Algorithmen, Datenökonomie, Digitalisierung und Kultur, Smart Cities, Autonomes Fahren, Digitalisierung und Entwicklungsländer) und zum Modernen Staat (u.a. Digitalisierung der Verwaltung, BIM, digitale Agrarförderung).
Es fällt hingegen sehr schwer, unter der Vielzahl an Einzelmaßnahmen
ein „Großes Bild“ zu erkennen, das alle Maßnahmen bündelt und leitet. –
Eventuell ist dieses „Große Bild“ auch gar nicht vorhanden.
Auf der Basis verschiedener Publikationen [4], [5], [6] hat
die GPM Fachgruppe Agile Management in dem neuen Release 3 ihres Management 4.0
Handbuches [7] den Versuch unternommen, ein „Großes Bild“ der Digitalen
Transformation zu skizzieren (Man siehe hierzu auch meine Blog-Beiträge: April
2017: Agile Management und Digitalisierung, passt dies überhaupt zusammen?
sowie Januar 2019: Bits to Atoms – Die Dritte Digitale Revolution.)
Abbildung 1: Die Digitale Transformation [7]
Abbildung 1 zeigt dieses „Große Bild“ zur DT: Unten im Bild sind die derzeit sichtbaren Basistechnologien zu sehen, die die Digitale Transformation treiben. – Nicht alle dieser Basistechnologien sind z.B. in [1] berücksichtigt. Ein oder mehrere Basistechnologien kommen in den grün gekennzeichneten Anwendungsfeldern zum Einsatz. Diese Anwendungsfelder treiben die Transformation unserer Gesellschaft – nicht selten werden lediglich die grünen Anwendungsfelder als Aspekte der Transformation benannt: Die heute schon erkennbaren sozialen Auswirkungen der Transformation sind in der Mitte des Bildes als rote Themenbereiche zu sehen. Diese sozialen Themenbereiche habe ich zum Beispiel in keinem der Strategiepapiere der Bundesregierung wahrgenommen. Sie entstehen durch die mit der Digitalisierung verbundene zunehmende soziale und technische Vernetzung. – Die Gesamt-Komplexität wächst, unvorhersehbare Dynamiken bilden sich aus und die Geschwindigkeit der Veränderung nimmt zu. Dies führt zu zentralen Chancen oder Risiken; oben im Bild angedeutet durch jeweils überlappende hellblaue Kreise: Beispielsweise treibt die zunehmende Vernetzung die Ausbildung von Crowd Dynamiken, die im Positiven Bewegungen wie „Fridays for Future“ oder im Negativen leider die globale Koordination nationalsozialistischer oder terroristischer Bewegungen ermöglichen.- In diesem Bild fehlen zwei sehr große Themen, nämlich Cybersicherheit/Cyberkriminalität und die Cyber-Kriegsführung (d.h. Cyber-Angriffe auf bestehende Infrastrukturen und die autonome Kriegsführung mittels entsprechender Waffentechnologien).
Die Autoren der Publikationen [4], [5] und [6] gewichten
die Risiken und Chancen völlig unterschiedlich. Während Land [6] eine
durchgehend optimistische Sicht auf die Digitale Transformation hat (d.h. die
Technologie führt zu Wohlstand für alle), überwiegt bei O’Neil [5] die „Herrschaft“ der Algorithmen. Kucklick [4] nimmt eine
mittlere Position ein und betont, dass sich mit der Digitalisierung neue
Wirklichkeitsräume eröffnen, die wir bisher nicht gekannt haben. – Und diese
neuen Wirklichkeitsräume besitzen Chancen aber auch Risiken. In [8] gehen wir
von der Grundannahme aus, dass diese neuen Wirklichkeitsräume durch Komplexität
geöffnet werden und wir nehmen an, dass Komplexität die Basis des Seins und des
Lebens ist. Komplexität ist also ein Geschenk und treibt unsere Evolution. Geht
man davon aus, dass die Digitalisierung heute einer der vorherrschenden
Komplexitätstreiber ist, so treibt die Digitalisierung unsere Evolution. Dies
ist u.a. auch für Harari der zentrale Grundgedanke der Digitalen Transformation
[9, 10].
Im Management 4.0 betrachten wir die Digitale
Transformation auf dieser Basis und schließen uns der mittleren Position [4],
die Chancen wie Risiken sieht, an:
Aus Abbildung 1 lassen sich folgende („Große Bild“-) Chancen
und Risiken ableiten:
Chancen
Die zunehmende Vernetzung treibt unsere
Evolution an. – Wir entwickeln neue individuelle und soziale Entwicklungsstufen,
die die Makrostruktur der Gesellschaft positiv beeinflussen. (Man siehe hierzu
auch meinen Blog-Beitrag vom Februar 2019: Projekte neu gedacht:
Entwicklungsstufen, Selbstorganisation und Co-Evolution)
Die Wirklichkeit wird immer fein-granularer. – Die
Individualisierung der Produkte nimmt zu. In nahezu allen Bereich des Lebens bereichern
Innovationen unser Leben. – Z.B. nehmen wir inzwischen schon mit Smartphones
und biofeedback-Algorithmen und -Daten (dies sind feingranulare Daten) Einfluss
auf unser Verhalten.
Die Verlagerung von Entscheidungen auf
Algorithmen ermöglicht uns gesellschaftliche Werte und Grundannahmen
transparent zu machen.
Die Digitalisierung unterstützt die
Demokratisierung in Kontinenten wie Afrika.
Die Digitalisierung führt zu einer „Befreiung“
von schweren, gefährlichen und langweiligen Tätigkeiten und eröffnet die
Möglichkeit sich kreativ zu beschäftigen. Das Arbeiten um der Erwerbstätig wegen
verliert an Bedeutung oder verschwindet ganz.
Risiken
Die Gesellschaft teilt sich in „Versteher“ der
DT und in „Nicht-Versteher“ der DT: Es gibt eine neue Form der Elite.
Die voranschreitende Automatisierung (u.a. KI, Robotik)
führt zum Verlust vieler Arbeitsplätze, dies kann die Ungleichheit verstärken
und die Demokratie gefährden.
Der Faktor Arbeit in der Produktion nimmt
weiter ab. Kapital spielt eine noch größere Rolle in Industrie/Produktion.
Die Verlagerung in virtuelle Welten begünstigt
exponentielle Organisationen (wie google, amazon,..), die eine
weltbeherrschende Stellung einnehmen.
Die Demokratisierung wird durch die
weltbeherrschende Stellung einzelner Organisationen unterlaufen.
Algorithmen treffen Entscheidungen: Die
individuellen Werte und Grundannahmen der Algorithmen-Ersteller fließen
intransparent in die Algorithmen ein.
Crowd-Dynamiken können sich selbst-organisiert bilden
oder bewusst eingesetzt werden, um Manipulationen in Gesellschaften vorzunehmen.
– Die Demokratie wird unterhöhlt.
Die klare Benennung dieser Chancen und Risiken ist für mich
in den Strategiepapieren [1] und [2] nicht erkennbar. In den Strategiepapieren
ist eine pauschale Grundannahmen wahrnehmbar: Für das Wohlergehen des
Standortes Deutschland ist es unabdingbar, die DT aktiv so zu gestalten, dass wir
zu den ersten Staaten mit einer erfolgreichen DT gehören.
Wenden wir die Management 4.0 Prinzipien auf die Sicht der
Bundesregierung zur Digitalen Transformation an, ergibt sich folgendes Bild: Die
Strategiepapiere [1] und [2] sind Maßnahmenkataloge, die jedoch explizit keine
Chancen und Risiken benennen und diesen, auf dieser Basis, Maßnahmen zuordnen. –
Es ist nicht nachvollziehbar inwieweit der Maßnahmenkatalog auf etwaige Chancen
und die Risiken-Milderung einzahlt. Viel weniger noch kann man nachvollziehen
inwieweit die angedachten Maßnahmen zur Selbstorganisation der Gesellschaft
beitragen. Denn dies würde den Aufbau einer Hierarchie an Rahmen-, Kontroll-
und Ordnungsparameter erfordern und im Maßnahmenkatalog müsste dies u.a. über
eine entsprechende Ziel-Hierarchie mit einer klaren Priorisierung abgebildet
werden. Hierzu müssten auch Wirkzusammenhänge sichtbar gemacht werden, wie dies
in der Betrachtung von Systemdynamiken üblich ist [11]: Die Maßnahmen müssten als
Interventionen in das System betrachtet werden, und sind hinsichtlich ihrer
Wirksamkeit zu monitoren. – Ein Monitoring ist in den Strategiepapieren
vorgesehen, es ist jedoch fraglich, ob dieses über das reine
Umsetzungsmonitoring hinaus geht und die Wirksamkeit des Maßnahmen-Netzwerkes als
Ganzes berücksichtigt.
Für den Teilbereich (Projekt-) Arbeit und (Projekt-)
Management, den die GPM (wahrscheinlich) beeinflussen kann, sehe ich folgende
Konsequenzen für die projektorientierte Organisation:
Ausbau
der Physical Technologies Kompetenz
Ich nehme an, dass die Anzahl an Projekten mit Schwerpunkt
Digitalisierung deutlich zunehmen wird. Für das Kompetenzprofil der
Projektmitglieder und insbesondere der Projektmanager hat dies enorme
Konsequenzen. Dies erfordert eine sehr gute Physical Technologies Kompetenz in
den Basistechnologien wie KI und Blochchain. Darauf aufbauend ist spezifisches
digitales Anwendungswissen zu erwerben (siehe Abbildung 1): Vielfach kann
dieses in GPM Fachgruppen verortet werden (z.B. Autonomous Mobility in der
Fachgruppe Automotive PM oder Smart Health in der Fachgruppe PM-Healthcare,
usw. ).
Ausbau
der Social Technologies Kompetenz
Da mit der Digitalisierung immer mehr Prozesse,
Transaktionen und Strukturen in digitale Systeme (u.a. via Künstliche
Intelligenz und Blockchain) verlagert werden, werden damit auch bisherige
implizite Werte und Grundannahmen und auch explizite Normen und Strukturen in
digitalen Systemen abgebildet. Projektteilnehmer und insbesondere Projektmanager,
die diese digitalen Systeme erstellen, müssen über entsprechende Social
Technologies Kompetenz verfügen, um diese Verlagerung ethisch
verantwortungsvoll durchzuführen.
Ausbau
der Digitale Transformation Kompetenz
Mit der Digitalen Transformation werden digitale Werkzeuge
auch zunehmend in die Projektarbeit und in das (Projekt-) Management Einzug
halten. Hiermit sind nicht die schon seit langem bekannten (digitalen) PM-Werkzeuge
gemeint, sondern, z.B.
Einsatz von KI zur Planung und Steuerung von Projekten (Hierzu sind entsprechende Daten vergangener Projekte zu sammeln und für das KI-Training verfügbar zu machen).
Einsatz von innovativen Kollaborationswerkzeugen (man siehe hierzu auch das Kapitel 4.2 ‚Agile Leadership 4.0 – Digital Network Intelligence‘ des Release 3 unseres Handbuches Management 4.0 [7])
Einsatz von sogenannten People Analytics [12], [13] Werkzeugen, die helfen soziale Interaktionen bewusster im Hinblick auf ein Ziel oder eine Ziel-Hierarchie auszugestalten. Hierzu zählt u.a. die digital unterstütze Auswahl von Teammitgliedern und das Tracken und Monitoren von Verhaltensweisen im Hinblick auf Team- und Organisations-Performance. People Analytics ist ein Teilbereich der Social Technologies Kompetenz und hat einen direkten Bezug zum Thema „feingranulare Gesellschaft“.– Diese Werkzeuge basieren teilweise auf den in [8] und [7] beschriebenen Modellen und Methoden und gehen inzwischen an vielen Stellen durch die KI-Anwendung in People Analytics darüber hinaus (man siehe hierzu auch meine Blog Beiträge: April 2017: Agile Management und Digitalisierung, passt dies überhaupt zusammen? sowie Juni 2018: Von Glaubenssätzen, Zeitreisen und der Digitalisierung).
Einsatz von neuen Transaktionswerkzeugen auf der Basis von Blockchain, um das Vertrags- und Claim-Management transparenter und sicherer zu gestalten.
Die nachfolgende Tabelle fasst zusammen, wie diese o.g. Konsequenzen,
als Management 4.0 Maßnahmen umgesetzt, auf die Chancen bzw. die Risiko-Milderung
einzahlen:
Chancen
Risiken
„Einzahlungen“ der (Projekt-) Arbeit und des (Projekt-) Managements
Die zunehmende Vernetzung treibt unsere Evolution an. Wir entwickeln neue Entwicklungsstufen, die die Makrostruktur der Gesellschaft positiv beeinflussen.
Die Gesellschaft teilt sich in „Versteher“ der DT und in „Nicht-Versteher“ der DT: Es gibt eine neue Form von Eliten. Crowd-Dynamiken können sich selbstorganisiert bilden und bewusst eingesetzt werden, um Manipulationen in Gesellschaften vorzunehmen und die Demokratie zu unterhöhlen.
Die Social Technologies Kompetenz aller (Projekt-) Mitarbeiter ist deutlich auszubauen, weil: Die Komplexität steigt und es damit notwendig wird, Kompetenzen zur Erkennung von komplexen sozialen (Makro-) Mustern zu entwickeln, um kompetent agil intervenieren zu können.
People Analytics Technologien werden immer mehr eingesetzt: Damit wir nicht zu deren Sklaven werden, sollten wir sie verstehen und ggf. regulieren können.
Die Wirklichkeit wird immer fein-granularer. – Die Individualisierung der Produkte nimmt zu. In nahezu allen Bereich des Lebens bereichern Innovationen unser Leben.
Die Verlagerung in virtuelle Welten begünstigt exponentielle Organisationen, die eine weltbeherrschende Stellung einnehmen.
Individuen, Teams und Unternehmen sollten Komplexitäts-Kompetenzen aufbauen, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft einschätzen zu können und ggf. regulieren zu können.
Die Verlagerung von Entscheidungen auf Algorithmen zwingt uns dazu gesellschaftliche Werte und Grundannahmen transparent zu machen.
Algorithmen treffen Entscheidungen: Die individuellen Werte und Grundannahmen der Algorithmen-Ersteller fließen intransparent in die Algorithmen ein.
Ein Projektteam sollte über Physcial und Social Technologies Kompetenzen verfügen, um Werte und Grundannahmen in Algorithmen und bei der Auswahl von KI-Trainingsdaten sichtbar zu machen und ggf. regulieren zu können.
Die Digitalisierung unterstützt die Demokratisierung in Kontinenten wie Afrika.
Die voranschreitende Automatisierung (Robotik) führt zum Verlust vieler Arbeitsplätze, dies kann die Ungleichheit verstärken und die Demokratie gefährden. Die Demokratisierung wird durch die weltbeherrschende Stellung einzelner Organisationen unterlaufen.
Der verantwortungs-bewussten Führungskraft kommt in der DT eine ganz besondere Rolle zu: Der Beitrag zur Wertschöpfung durch Projekte wird wachsen, zusätzlichen werden die Projekte immer komplexer und erfordern einen mentalen Entwicklungssprung (einen „v-Mem Sprung“ im Mindset). Dieser „Sprung“ ist bewusst zu gestalten.
Die Digitalisierung führt zu einer „Befreiung“ von schweren, gefährlichen und langweiligen Tätigkeiten und eröffnet die Möglichkeit sich kreativ zu beschäftigen. Die Erwerbstätig verliert an Bedeutung oder verschwindet ganz.
Der Faktor Arbeit in der Produktion nimmt weiter ab. Kapital spielt eine noch größere Rolle in der Industrie/Produktion.
Projekte werden zunehmend Linientätigkeiten verdrängen, deshalb kommt einer nachhaltigen Projektarbeit eine ganz besondere Aufgabe für die Gestaltung unserer Zukunft zu. Diese Nachhaltigkeit sollte ganzheitlich sein und erfordert eine bewusste Ausgestaltung des organisationalen Mindsets: Die „Führung“ durch Prozesse und Strukturen geht zunehmend verloren und ist durch die Gestaltung von Governance für die bewussten „Führung“ des organisationalen Mindsets (Kultur) zu ersetzen.
In Kurzform definiere ich die Digitale Transformation wie folgt: Die Digitale Transformation ist ein Prozess, in dem digitale Technologien die soziale und technische Vernetzung und Dynamik so stark treiben, dass neue Muster der sozialen Evolution entstehen.
[1] Bundesregierung (2018a) Digitalisierung gestalten –
Umsetzungsstrategie der Bundesregierung, 3. Überarbeitete Auflage, Presse- und
Informationsamt der Bundesregierung, Berlin, www.digital-made-in.de
[3] Bundesregierung (2018c) Forschung und Innovation
für die Menschen – Die Hightech-Strategie 2025, Berlin, https://www.hightech-strategie.de/
[3] EFI (2019) Gutachten zu Forschung, Innovation und
Technologischer Leistungsfähigkeit, EFI Expertenkommission Forschung und
Innovation, Berlin, www.e-fi.de
[4] Kucklick Christoph (2016) Die granulare
Gesellschaft: Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst, Ullstein
Taschenbuch, Kindle edition
[5] O’Neil
Cathy (2016) Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and
Threatens Democracy, Allen Lane, Kindle edition
[6] Land Karl-Heinz (2018) Erde 5.0: Die
Zukunft Provozieren, futurevisionpress e.K., Kindle edition
[7] Oswald A, Müller W (Hrsg.) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3.0“, BoD, Norderstedt
[8] Oswald A, Köhler J and Schmitt R (2016)
Projekt Management am Rande des Chaos, oder in der englischen Version: (2018) Project
Management at the Edge of Chaos, Springer Heidelberg
[9] Harari, Yuval
(2017) Homo Deus: A Brief history of tomorrow, Harper
[11] Vester F (2002) Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität, Ein Bericht an den Club of Rome, dtv Verlagsgesellschaft