Projektmanager einer Organisation nehmen an dem inhouse-Seminar „Agiles Management 4.0 und der Digitale Wandel“ teil. Die Projektmanager lernen das Große Bild, ausgedrückt über die Faustregel „Agiles Management 4.0 = Agiles Mindset* Agile Governance * Agile und Klassische Techniken“ kennen und anwenden. Hierbei findet die Dilts Pyramide als Modell für das individuelle Mindset und das organisationale Mindset (Kultur) besonders viel Interesse.
Im Rahmen der Mittagspause kommt es zu einer recht intensiven Diskussion zwischen einigen Projektmanagern. Bernd stellt ziemlich vehement fest, dass die heute überall angebotenen Trainings zu Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für die heute dreijährigen in 20 Jahren nicht mehr notwendig sein werden. Claudia widerspricht dieser Aussage und behauptet, dass sie dies ganz anders sähe und dass Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auch in 20 Jahren für die dann 23-Jährigen von Bedeutung sein werden und dass entsprechende Trainings auch dann nicht ihre Bedeutung verloren haben werden. Die Aussagen werden mehrmals, mit steigender Aggressivität auf beiden Seiten, wiederholt. Um seine Argumentation zu unterstreichen führt Bernd u.a. an, dass man bei der Einführung der Dampflokomotiven vor den Gefahren, die durch eine Geschwindigkeit von 20 km/h hervorgerufen werden, sehr heftig warnte. Und wie wir ja heute wüssten, sei dies ja ziemlicher Unsinn.
Bernd weist hier unbewusst auf die Kontextabhängigkeit unserer mentalen Modelle und die damit verbundenen Aussagen hin: Nahezu niemand konnte sich zum damaligen Zeitpunkt – zu dem damals erfahrbaren Kontext – vorstellen, dass von 20 km/h keine Gesundheitsgefährdung ausgeht, da 20km/h zum damaligen Zeitpunkt schon unvorstellbar schnell gewesen sein muss. In unserem Buch „Projektmanagement am Rande des Chaos“ verstehen wir unter Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, die Muster, die in unserer Umwelt enthalten sind, zu erkennen. Unter Achtsamkeit verstehen wir, die erkannten Muster zu respektieren, u.a die Motive, Werte und Grundannahmen der Anderen und zu erkennen wie diese mit den eigenen Motiven, Werten und Grundannahmen ein komplexes soziales System der Kommunikation hervorrufen. Aufmerksames und achtsames Handeln basiert also auf einer Kompetenz, die den Kontext wahrnimmt und gleichzeitig von diesem abstrahieren kann. Wir sprechen deshalb auch von einer Meta-Kompetenz.
Zurück im Trainingsraum, spürt der Trainer die angespannte Stimmung, die sich zwischen einigen der Teilnehmer breit gemacht hat und er fragt vorsichtig nach den Ursachen. Erst als er auf die Bedeutung der Werte Mut und Transparenz im Agilen Management 4.0 hinweist, erklärt sich Hans bereit die Situation am Mittagstisch zu schildern. Hans versichert sich vorher durch Blickkontakt eines leisen Einverständnisses der anderen. Nachdem Hans die Situation geschildert hat, sowie Claudia und Bernd die Darstellung von Hans bestätigen, fragt der Trainer, ob alle damit einverstanden sind, dieses Beispiel mit den Werkzeugen des Agilen Managements 4.0 zu bearbeiten und vielleicht sogar aufzulösen.
Der Trainer weist auf die Modellierung der Mindsets mittels der Dilts Pyramide hin und insbesondere auf die Verortung von Glaubenssätzen „oberhalb“ der Verhaltensebene, in der Ebene Werte und Grundannahmen. Er betont, dass die Aussagen von Claudia und Bernd auch als Glaubenssätze betrachtet werden können. Glaubenssätze sind Aussagen, die sich von ihrem jeweiligen Kontext, in dem sie gültig sind, verselbständigt haben und damit den Anspruch erheben in jedem Kontext gültig zu sein.
Um der Bedeutung des Kontextes auf die Spur zu kommen, schlägt der Trainer ein Gedankenexperiment, eine kleine Zeitreise, vor: Stellen wir uns vor, wir sind 20 Jahre später, die heute 3-Jährigen sind 23-Jährige, jedoch hat es keine nennenswerte technologische Entwicklung gegeben. Die 23-Jährigen sind lediglich mit den heute verfügbaren Smartphones, Smartpads und Smartwatches groß geworden. Auf diese Weise haben wir jetzt einen Kontext „definiert“. Und es stellt sich die Frage, wird dies zu einer solchen Veränderung der Gehirnstrukturen der 23-Jährigen führen, dass sie in einer Kommunikation mit oder ohne technische Hilfsmittel aufmerksam und achtsam kommunizieren werden. Wir können vermuten, dass die dann 23-Jährigen noch souveräner mit diesen technischen Hilfsmitteln umgehen. Nach allem was wir heute wissen, wird das Arbeiten mit Smartphone, Smartpad und Smartwatch wahrscheinlich Aufmerksamkeit und Achtsamkeit der dann 23-Jährigen in gleichem Maße beeinflussen wie es heute schon geschieht. – Man siehe hierzu auch Langzeitstudien an heute 13-jährigen bis 23-jährigen, wonach die intensive Nutzung von Smartphones Jugendliche einsamer und depressiver macht (Im Buch von Jean Twenge, Me, My Selfie and I). Wir können derzeit auf der Basis unserer aktuellen Kenntnisse also nicht davon ausgehen, dass die Verwendung von Smartphone, Smartpad und Smartwatch von frühester Jugend an, unsere neuronalen Strukturen so beeinflusst, dass sich dies auf eine Verbesserung von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auswirkt. – Natürlich, auch diese Aussage ist ein Glaubenssatz, den wir aktuell nicht beweisen können. Jedoch haben wir durch das Ausleuchten des Kontextes diese Aussage relativiert und damit als Glaubenssatz sichtbar gemacht.
Stellen wir uns jetzt einen anderen Kontext vor: Es sind 20 Jahre vergangen, die dann 23-Jährigen verfügen zum Beispiel über Smartglasses mit eingebauter Artifical Intelligence (AI). Alle Kommunikation findet unter Verwendung der Smartglasses statt: Diese Smartglasses spielen zum Beispiel während der Kommunikation Informationen aus dem Internet ein, die zum Inhalt der Kommunikation passen. Gleichzeitig analysiert eine AI die Körpersprache, die Modalitäten der verbalen Sprache (u.a. Tonalität, Frequenz) und den Inhalt der verbalen Sprache der Gesprächspartner. Die AI liefert Informationen zur Persönlichkeit, dem Mindset und der Stimmung der Gesprächspartner und macht Vorschläge für eine resonante Kommunikation. Zusätzlich scannt die AI das gesamte soziale System und dessen Umgebung, identifiziert systemische Muster sowie bietet Vorschläge für eine gelungene Gruppen- oder Teamkommunikation an. Da alle Kommunikationspartner über diese Hilfsmittel verfügen, hat sich die Qualität der Kommunikation wahrscheinlich (?) zum Besseren verschoben. – Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass alle Gesprächspartner die technischen Hilfsmittel gleich gut beherrschen und die bereitgestellten Informationen gleich gut und verantwortungsvoll in den Gesprächsfluss einfließen lassen werden. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit werden also wahrscheinlich weiterhin ihren Platz behalten – auch ein Glaubenssatz – jedoch wird ein Training in 20 Jahren bei dem so skizzierten Kontext andere Lerninhalte haben müssen. – Das was wir heute also unter Aufmerksamkeit und Achtsamkeit verstehen wird wahrscheinlich in 20 Jahren einen anderen Inhalt haben.
Gehen wir noch einen Schritt weiter: Wir stellen uns vor, dass eine Gruppe von zukünftigen Projektmanagern ausgestattet mit den geschilderten Smartglasses über die Bedeutung von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in ihrer zukünftigen Welt diskutiert. Biotechnologische Neuroimplantate sind schon am technologischen Horizont sichtbar. Die Smartglasses werden wohl zukünftig durch entsprechende Kontaktlinsen und andere Sensorik ersetzt, gleichzeitig wird die AI noch intelligenter und die Kenntnisse zu neurobiologischen Zusammenhängen hat einen gewaltigen Sprung gemacht. Zukünftig, so diskutieren die Projektmanager, wird es möglich sein, dass die von der AI erkannten Kommunikationsmuster sofort durch geeignete Neuroimplantate in entsprechendes resonantes Verhalten umgesetzt werden… Schöne, neue Welt …?
Entfallen damit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit? Wahrscheinlich nicht! Jedoch werden die Trainings völlig andere Trainingsinhalte enthalten bzw. enthalten müssen: Die AI und und die Neuroimplantate nehmen uns das Erkennen vieler Kommunikationsmuster und sogar die passende Reaktion dazu ab. Wenn wir damit aber nicht zu Robotern werden wollen, erfordert diese neue Welt eine erhebliche Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber der Interaktion von Mensch und Technik. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit werden damit (wieder) auf ein neues Niveau gehoben: Das Erkennen systemischer Muster und damit verbundenem nachhaltigem Handeln in einer Gruppen-Kommunikation verschiebt sich zu einem Erkennen systemischer Muster und entsprechendem nachthaltigen Handeln auf gesellschaftlicher Ebene. Und natürlich ist diese Skizze des Kontextes der Zukunft nur ein Szenario, aus dem sich Aussagen, verallgemeinert, nur als Glaubenssätze ableiten lassen. Wie in der 3sat scobel Sendung vom 24.05.2018 (www.3sat.de, Ethik der Algorithmen, Die Grenze zwischen Software und menschlichem Verhalten) diskutiert, wird es notwendig werden, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit um gesamt-gesellschaftliche Aspekte zu ergänzen, denn die AI bringt weitere Komplexität mit sich und damit mehr Potential aber auch mehr Gefahren für die weitere Entwicklung.
Was hat dies Alles mit Agilem Management 4.0 zu tun?
Agilität beginnt im Kopf! Mit diesem Glaubenssatz verbunden ist die Aussage, dass Aussagen immer einen Kontext benötigen. Wenn der Kontext weggelassen wird, entstehen automatisch Glaubenssätze. Diese können uns helfen Komplexität zu meistern, denn sie helfen uns komplexe Sachverhalte zu vereinfachen. Wenn die Kontextabhängigkeit jedoch völlig vergessen wird, können sie Glaubenskriege hervorrufen. Wie in unserem Beispiel geschildert, führen nicht identifizierte Glaubenssätze zu mentalen Blockaden und damit zu einem Verschwinden der Fähigkeit sich anzupassen, und damit zu einem Verschwinden von Agilität.