Die GPM Fachgruppe Normen und Standards im PM [1] trägt zurzeit in ihrer Arbeitsgruppe ‚Agiles Projektmanagement‘ Theorie und Praxis des Agilen Projekt Managements zusammen. Die Ergebnisse dieses Dialogs sollen in relevante Normierungsgremien von DIN, CEN und ISO einfließen.
Eine der aus dem ISO Kontext mitgebrachten Fragen lautet: „Gibt es Unterschiede zwischen Agilem und Adaptiven Management? Und welche Unterschiede sind dies?“
Der folgende Blog-Beitrag geht hierzu auf Spurensuche!
Spüre ich dem Verständnis von Agilem Management nach, so stoße ich fast immer auf ein vorherrschendes Verständnis: Agiles (Projekt) Management = Scrum, alleine oder hybrid-integriert in ein planbasiertes Projektmanagement. Ich mache dies daran fest, dass in der überwiegenden Anzahl der Gespräche hierzu, sofort von Sprints, Product Backlog, Product Owner oder Scrum Master gesprochen wird, also speziellen Scrum Techniken! Sehr selten werden andere Techniken angeführt und noch viel seltener wird vom Agilen Manifest, von Mindset und Werten sowie Glaubenssätzen gesprochen oder dem Thema Governance. Der Begriff Selbstorganisation taucht zwar auf, jedoch wird keinerlei Zusammenhang zu dem universellen Prinzip der Selbstorganisation, als Governance, hergestellt. – PDCA oder PDIA [2] tauchen mit ähnlich geringer Häufigkeit in den Gesprächen auf, ganz zu Schweigen von Kontext, Empirie oder Komplexität. Agilität wird kaum als Balance von Flexibilität und Schnelligkeit gesehen (Agilität = Flexibilität * Schnelligkeit), und dementsprechend selten wird Agiles Management, als Management betrachtet, diese Balance herbeizuführen. Weiterführend verstehen wir im Management 4.0 Agilität als die Fähigkeit, Komplexität zu regulieren: D.h. sich mit der System-Komplexität, also der eigenen mentalen Komplexität oder der des Teams oder der der Organisation adaptiv auf die Komplexität des Umfeldes einzustellen und beide Komplexitäten, also von System und Umfeld, adaptiv wertschaffend zu meistern. Von diesem Verständnis ist das vorherrschende Verständnis Agilen (Projekt) Managements sehr weit entfernt.
Umso erstaunlicher ist folgende Feststellung: Eine (erste) Recherche zu Adaptivem Management zeigt ein viel allgemeineres und tiefgehendes Verständnis. Der Begriff Adaptives Management hat es bis zur U.S. Agency for International Development (usaid.gov) gebracht und wird in einer discussion note ausgeführt [3], die auch in direkter Verbindung zum UK BOND Netzwerk steht, das Adaptives Management als ein zentrales Mittel für die erfolgreiche internationale Entwicklung sieht [4, 5]. – Nachhaltigkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, aber auch Komplexität, Selbstorganisation, und PDCA/PDIA spielen in beiden Dokumenten eine zentrale Rolle:
“Adaptive management is defined in ADS 201.6 as “an intentional approach to making decisions and adjustments in response to new information and changes in context.” Adaptive management is not about changing goals during implementation, it is about changing the path being used to achieve the goals in response to changes. Like other donors and development organizations (see, for example, the following initiatives: Doing Development Differently, Problem-Driven Iterative Adaptation, Thinking and Working Politically, and The World Bank’s Global Delivery Initiative), USAID is increasingly recognizing the importance of adaptability for its work to be effective. ADS 201 now integrates adaptive management approaches throughout the Program Cycle. …“Manage adaptively through continuous learning” is one of the four core principles that serve as the foundation for Program Cycle implementation.”
Dies spiegelt den empirisch-wissenschaftlichen Hintergrund wider [6]:
„Adaptive management is a process that can improve management practices incrementally by implementing plans in ways that maximize opportunities to learn from experience. From: Models for Planning Wildlife Conservation in Large Landscapes, 2009”
Mein Verständnis von Management 4.0 beruht auf folgender Definition und schließt die obigen Ausführungen [3 ,4, 5, 6] zu Adaptivem Management ein:
Management 4.0 ist eine Führungs- und Management- Theorie und Praxis, um in einem komplexen und von Unsicherheit gekennzeichneten Handlungsfeld adaptiv und proaktiv agieren zu können. Sie ist gekennzeichnet durch einen agilen Mindset mit dem Fokus auf:
- einer Führung, deren Grundlage das Lernen und die Selbstführung ist,
- einer Führung, die auf den Grundbedürfnissen der Menschen fußt,
- einer Führung, die die belebte und unbelebte Natur als Basis unseres Lebens schützt und respektiert,
- einer Führung, die das Verständnis komplexer Systeme fordert, sowie deren Regulation durch ein iteratives Vorgehen fördert,
- einer Führung, die Menschen zur Selbstorganisation befähigt.
- Damit ermöglicht sie Fluide Organisationen, die das anpassungsfähige und schnelle Liefern von nutzbaren Ergebnissen fördern und durch den proaktiven Umgang mit Veränderungen innovative nachhaltige Lösungen schaffen,
- um wesentlich dazu beizutragen, dass alle Menschen in Würde in einem lebenswerten Umfeld leben, so dass sich das Bewusstsein unserer globalen Gesellschaft ständig integral weiterentwickelt.
Zusammenfassend stelle ich fest, dass Adaptives Management und damit Management 4.0, die Führung und das Management von Complex Adaptiv Systems [7] zum Ziel hat.
Die nachfolgenden drei Abbildungen illustrieren einige Aspekte dieser Definition und des damit verbundenen Verständnisses.
Abbildung 1 verdeutlicht „in einem komplexen und von Unsicherheit gekennzeichneten Handlungsfeld adaptiv und proaktiv agieren zu können“. Hiernach ist sowohl der Start als auch das Projekt-Ziel in einem gewissen Maße unbestimmt und der Weg vom Start zum Ziel ist von hoher Unsicherheit gekennzeichnet und erfordert mittels des PDCA/PDIA eine fortlaufende Adaption. Damit geht dieses Verständnis auch über dasjenige von [3] hinaus, in dem „changing goals“ explizit ausgeschlossen werden. – Das Goal wird im Management 4.0 über eine Ziel-Hierarchie abgebildet, und diese kann sich mit fortschreitender Erkenntnis auf allen Ebenen ändern. – Im Normalfall sollte die Änderung auf der obersten Ebene nur sehr selten und wenig erfolgen.- Die oberste Ebene stellt den am wenigsten sich ändernden Ordnungsparameter dar. Abbildung 1 ist für nicht wenige Projektmanager eine mentale Herausforderung, da sowohl Start als auch Ziel nur „fuzzy“ erfassbar sind.- Damit liegt für viele kein Projekt vor! Die Herausforderungen wie Corona oder Klimawandel illustrieren jedoch sehr eindrücklich die Unzulänglichkeiten dieses Projektverständnisses!
Abbildung 2 verdeutlicht den empirisch wissenschaftlichen Ansatz des Adaptiven Managements, der auch in [3, 4, 5, 6] enthalten ist. Am Beispiel des komplexen Umfeldes Corona können wir erkennen, wie über Jahrzehnte gelebte Praxis ohne Theorie zu Dummheit führt oder anders ausgedrückt zu mangelhafter Adaptionsfähigkeit und damit verbundenem mangelhaftem Adaptiven Management.
Werden Theorien und Modelle einer Pandemie nicht verstanden oder politisch weichgespült, können keine relevanten Sozialtechniken abgeleitet werden, z.B. abgestimmte Regionalisierungsmodelle zur Pandemie, konsequente Datenerhebungs- und Auswertungs-Modelle gemäß den hypothetischen Erfolgsfaktoren, Ableitung der hypothetischen Erfolgsfaktoren (wie z.B. Einlasskontrollen und Prüfungen im Inland und an den Grenzen, usw.) sowie transparentes Adaptieren der Erfolgskriterien (wie z.B. Inzidenzen, Intensivbettenbelegung, mentale Verfassung der Gesellschaft, usw.). Stattdessen werden in kurzen Zeitabständen ohne Fundament adhoc Maßnahmen eingeführt, die kurze Zeit später schon wieder verworfen werden: Die politischen Amtsträger überbieten sich regelrecht in Aussagen wie „Ich bin der Meinung, dass…“. Meinungen entbehren jedoch oft der Tragfähigkeit; sie finden sich jedoch oft kurze Zeit später als weitere Corona Regeln in einem Wirrwarr von anderen Corona Regeln. Adaptionsfähigkeit verkommt zum Spielball von Interessen oder auch zur Dummheit: Dies ist keine Adaptionsfähigkeit, genauso wenig wie Agilität!
Abbildung 3 verdeutlicht die Verwendung des obigen PDCA/PDIA Zyklus am Beispiel des Management 4.0 Handlungsrahmens Collective Mind [9]:
Im Handlungsrahmen Collective Mind werden Theorien und Modelle aus wissenschaftlichen Theorie übernommen und auf den jeweiligen Projektkontext als Sozialtechniken adaptiert (in Abbildung 3 sind nur einige Theorien und Modelle als Beispiele angeführt). Die Sozialtechniken gestalten die hypothetischen Erfolgsfaktoren aus, die wiederum die hypothetischen Erfolgskriterien beeinflussen sollen. Diese spezielle Form des Projektdesigns wird adaptiv in Iterationen mittels PDCA/PDIA überprüft und angepasst.
Der PDCA bzw. PDIA wurde nicht von der agilen Community erfunden, jedoch vielleicht erstmals entsprechend seiner Bedeutung verstanden und eingesetzt. Er ist die Basis jeglichen agilen Handlungsrahmens und des Adaptiven Managements. Seit kurzem verwenden immer mehr Anwendungsfelder dieses einfache Modell in verschiedenen spezifischen Ausprägungen. – Stellvertretend hierfür erwähne ich nur zwei sehr unterschiedliche Bereiche, die dies auf den ersten Blick nicht vermuten lassen: Das Sicherheits-, Gesundheits- und Arbeitsschutz-Management gemäß ISO 45001 [10] und das Data Science Analyse Modell gemäß des CRISP-DM Standards [11].
Im Management 4.0 verwenden wir die aus der Veränderungsarbeit des NLP bekannte Dilts Pyramide zur Charakterisierung von sozialen Systemen, also auch von Handlungsrahmen des Management 4.0 [12]. Die nachfolgende Tabelle charakterisiert Management 4.0 und den dort auch enthalten Handlungsrahmen Scrum:
Management 4.0 = Complex Adaptive System Management |
Scrum = Agiles Management |
|
Vision, Mission |
Wir und unsere sozialen Systeme respektieren Mensch, Tier und Natur und wir sorgen uns um deren Integrität in unserem gesamten Handeln! Wir sorgen dafür, dass die Arbeitswelt menschenwürdig wird und bleibt! |
Mit Empirie lösen wir im Team jede komplexe Aufgabe. |
Zugehörigkeit |
Wir gehören zu denen, die Komplexität als Basis des Seins verstehen und als Geschenk begreifen, das man annimmt, in dem man es immer besser erfassen lernt. |
Wir gehören zu denen, die eine komplexe Aufgabe lösen, in dem sie früh und häufig liefern. |
Identität |
Wir sind Modellierer unserer Arbeitswelt und sorgen mit Social Technologies für Synergien mit den Physical Technologies. |
Wir sind Problemlöser, die ihre Kunden respektieren und Respekt vom Kunden erwarten. |
Werte, Glaubenssätze |
• Fokus und Offenheit, Mut und Respekt, integrale Ganzheit und transzendentale Nachhaltigkeit • Theorie und Praxis gehören zusammen, Praxis ohne Theorie ist Dummheit: Nichts ist so praktisch, wie eine gute Theorie. • Selbstorganisation ist ein universelles Prinzip: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. • Die universellen Prinzipien sind fundamental für unser gesamtes Sein. |
Werte: Transparenz, Fokus, Mut, Offenheit, Selbstverpflichtung, Respekt Arbeitstechnik-Prinzipien: Timeboxen, Überprüfen und anpassen, frühe und häufige Lieferungen, Transparenz schaffen, ermächtigte selbstorganisierte Teams |
Fähigkeiten |
Selbstreflexion und Leadership, Modellierung und (systemische) Metakompetenz Adaption mittels Iterationen im (wissenschaftlichen) PDCA: Erfolgskriterien-Erfolgsfaktoren; Theoriebildung-Hypothesenbildung-Social Technologies/Sozialtechniken-Empirie-Theorieanpassung… |
Scrum-Team-Kompetenz: Product Owner -, Scrum Master -, Developer- Kompetenz, Kundenorientierung durch entsprechende Dienstleister-Kompetenz |
Verhalten |
Ständiges adaptives Verhalten auf der Basis der M 4.0 Fähigkeiten |
Scrum-Handlungsrahmen: Aufgabenorientierung (Backlog definiert die Aufgabe), iterative Vorgehensweise, Arbeiten im Team |
Kontext |
Komplexes System-Umfeld, das durch Unüberschaubarkeit und Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet ist. |
Eine komplexe Aufgabe ist umzusetzen und das möglichst schnell und zur Zufriedenheit des Auftraggebers/Kunden |
Tabelle 1: Management 4.0 und Scrum verglichen mittels der Dilts Pyramide
Wir bezeichnen die Ausprägungen aller Ebenen der Dilts Pyramide als Mindset. – Wie man unschwer erkennen kann, ist das Scrum Mindset im Management 4.0 Mindset enthalten, jedoch geht dieses weit über dasjenige von Scrum hinaus.
Damit beantworte ich abschließend unsere Eingangsfrage: Setzt man Agiles Management mit Scrum gleich, was oft geschieht, so ist Agiles Management nur eine spezielle Ausprägung Adaptiven Managements, insbesondere wenn man dieses verallgemeinert als Complex Adaptiv System Management, wie im Management 4.0, versteht.
[1] Fachgruppe Normen und Standards im PM der GPM (2021) https://www.gpm-ipma.de/know_how/fachgruppen/themenfokussierende_fachgruppen/normen_und_standards_im_pm.html
[2] Wikipedia (2021) PDCA, https://en.wikipedia.org/wiki/PDCA
[3] USAID Learning Lab (2021) Adaptive Management, https://usaidlearninglab.org/lab-notes/what-adaptive-management-0 und https://usaidlearninglab.org/library/discussion-note-adaptive-management
[4] BOND (2021) Adaptive Management, https://www.bond.org.uk/resources/adaptive-management-what-it-means-for-csos
[5] Wikipedia (2021) Adaptive Management, https://en.wikipedia.org/wiki/Adaptive_management
[6] ScienceDirect (2021) Adaptive Management, https://www.sciencedirect.com/topics/earth-and-planetary-sciences/adaptive-management
[7] Wikipedia (2021) Complex Adaptive System, https://en.wikipedia.org/wiki/Complex_adaptive_system
[8] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos, auch in englischer Sprache verfügbar: (2018) Project Management at the Edge of Chaos, Springer
[9] Köhler J und Oswald A (2009) Die Collective Mind Methode, Springer
[10] Wikipedia (2021) CRISP-DM, https://en.wikipedia.org/wiki/Cross-industry_standard_process_for_data_mining
[11] Wikipedia (2021) ISO 45001, https://de.wikipedia.org/wiki/ISO_45001
[12] Oswald A und Müller W (editors) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3.0“, BoD