„Einheit in der Vielfalt“ oder von der Selbstorganisation des Marktes

Anlässlich des 30zigsten Jahrestages der Deutschen Einheit wurde der Zukunftsforscher Daniel Dettling vom Zukunftsinstitut zum Stand der deutschen Einheit interviewt [1]. Er kommt zu dem auf den ersten Blick erstaunlichen Schluss „Der Westen wird sich dem Osten angleichen“. Dies basiert auf der weitreichenden Erkenntnis „Wir leben 2050 in einem Deutschland und Europa der Regionen. Landkreise und ihre Kommunen haben ähnliche Kompetenzen wie die Bundesländer und können vor Ort autonomer agieren, angefangen von den Schulen bis hin zu Steuern.“ – Die „Einheit in der Vielfalt“ sei das zukünftige Einende. – Dettling identifiziert nicht Geld, als den entscheidenden Ordnungsparameter, sondern er spricht vom „Glücksfaktor“, bei dem der Osten schon weiter sei als der Westen.

Man braucht nicht sehr „quer“ zu denken, um zu erkennen, dass dies nichts anderes ist als einer der Grundgedanken der Selbstorganisation, der sich auch im gesellschaftlichen Raum seinen Weg bahnt.

Die Grundgedanken der Selbstorganisation „Einheit in der Vielfalt“, die Suche nach Sinn, die Einführung von Nachhaltigkeit, die Ersetzung des Wettbewerbsgedankens durch den Kollaborationsgedanken, alle dies sind Ausdruck eines weiter entwickelten  gesellschaftlichen Bewusstseins, das sich anschickt zu emergieren.

In einem Artikel auf nature communication warnen Nachhaltigkeitsökonomen erst kürzlich vor den Konsequenzen des Überflusses. Sie skizzieren Konzepte, die auf dem Grundgedanken der Selbstorganisation beruhen und hier Abhilfe schaffen sollen [2]. Dies wird flankiert von den datenbasierten Forschungsergebnissen meines Sohnes Yannick, dass der Energie-Fußabdruck ganz wesentlich mit dem Einkommen und damit mit dem Überfluss korrespondiert [3]. Man siehe hierzu und zur korrespondierenden Oxfam-Studie auch den Kommentar in Forbes [4].

Der ein oder andere mag auf die Idee komme, dass dies dem Kapitalismus bzw. dem ungezügelten Kapitalismus zuzuschreiben ist. – Dies ist nicht ganz von der Hand zu weisen, jedoch liegt das Problem meines Erachtens tiefer. Es hat viel mehr mit den aktuell (noch) vorherrschenden Werte-Memen zu tun, die besagen, dass „Wer (mehr) Erfolg hat, hat auch ein Anrecht auf (mehr) Entlohnung, also mehr Überfluss“, dass „Innovationen schon immer unser aller Lebensstandard gehoben haben und deshalb (immer) gut sind“, und dass „wir klare Fakten brauchen, die keinen Zweifel aufkommen lassen, bevor wir die Pferde scheu machen, denn es ist noch immer gut gegangen ist“. Diese Aussagen sind zentrale Werte-Meme des sogenannten orangenen Werte-Mems. Das orangene Werte-Mem ist weitgehend blind für eine Relativierung unserer anthropozentrischen Bedeutung und unserer systemischen Einbettung. – Deshalb sind auch datenbasierte Forschungsergebnisse so wichtig; neben Rahmenbedingungen wie Corona oder ersten großen Klimaschäden, die einen mächtigen Druck zum Umdenken ausüben, ist es sehr wichtig, das orange Mem mit einer seiner eigenen Waffen, der „datenorientierten Innovation“, zu schlagen, um so mitzuhelfen, eine Transformation anzustoßen. – Denn, …der Überfluss entspringt einem Denken und Handeln, das nicht mehr zum 21. Jahrhundert passt.

In [2] wird ein „neuer Lebensstil für das 21. Jahrhundert“ vorgeschlagen. – Die nachfolgende Tabelle zeigt wie stark diese Vorschläge mit den im Management 4.0 vorgeschlagenen Werte-Memen korrespondieren [5]. Dieser Werte-Mem Shift hat schon vor mehr als 25 Jahren eingesetzt, denn man kann ihn an den Entwicklungen festmachen, die zum Agilen Manifest führten:

Nachhaltige Ökonomie/
Gesellschaft [2]

Management 4.0 [5]

Das Bruttoinlandsprodukt ist kein geeignetes Maß für Wohlstand oder gar den „Glücksfaktor“. – Dies entspricht der Aussage: Preise bzw. Geld sind keine Sinngeber!

Der überbordende Work-in-Progress von einzelnen Personen, Teams oder Organisationen ist letztendlich die organisationale Repräsentation des Glaubens „Geld ist der entscheidende Träger von Sinn“.

Der WIP ist vielmehr zu limitieren und als „falscher“ Ordnungsparameter zu entlarven, um den Weg für einen sinngebenden Ordnungsparameter frei zu machen.

Ermächtige Menschen auf allen Ebenen zur Partizipation und Demokratie mit stärkerer Selbst-Governance auf lokaler Ebene.

Führe Selbstorganisation ein, die auf den synergetischen Prinzipien der natürlichen Selbstorganisation beruht. Baue eine entsprechende dynamische Governance-Architektur auf.

Betone Gleichheit und reduziere Ungleichheit durch Umverteilung

Betone individuelle Wertschätzung und reduziere wertvernichtende Komplexität durch einen integralen Ansatz.

Unterstütze die Transformation des ökonomischen Systems durch die Betonung von Forschung und Innovation in einem kollaborativen lokalen Umfeld (bei gleichzeitiger Reduktion von Massenproduktion in einem Wettbewerbsumfeld) 

Richte die Organisation an einer innovativen Ziel-Hierarchie (z.B. Collective Mind, Story Map, OKRs,…) aus, die den Menschen in der Organisation Sinn vermittelt und ermögliche dies durch Kollaboration statt Silo-Denken und Wettbewerb.

Sorge für Kapazitäten in der (digitalen) Bildung sowie im Austausch von Know-How zwischen lokalen gesellschaftlichen Einheiten 

Sorge dafür, dass durch geeigneten Austausch Selbstorganisation und Skalierung von Organisationen Hand in Hand gehen.

 

In [2] werden zusätzlich unterschiedliche Organisationsformen skizziert, die sich insbesondere in der Ausgestaltung der Governance-Architektur unterscheiden: Nämlich, ist die Governance-Architektur eher dynamisch oder statisch?; gibt es eine übergeordnete Governance, die die Einheit in der Vielfalt sicherstellt?; und gibt es eine Governance, die die Wechselwirkung zwischen lokalen Einheiten im gesellschaftlichen System reguliert?

Auch im Management 4.0 kennen wir genau diese Fragestellungen.- Die meisten Agilen Handlungsrahmen (wie Scrum und Kanban oder SAFe und LeSS) verfügen lediglich über eine statische Governance. Nur der Handlungsrahmen Soziokratie bzw. der hiervon abgeleitete Handlungsrahmen Holacracy verfügt über eine dynamische Governance. Der Handlungsrahmen Scaled Agile Management 4.0 beruht auf einer dynamischen Governance, die zusätzlich auf den Prinzipien der natürlichen Selbstorganisation (Synergetik) beruht.

In dem Deutschlandfunk-Beitrag „Die Wertedebatte, Wie fünf Ökonominnen Wirtschaft und Politik neu verbinden“ [6] werden die volkswirtschaftlichen Konzepte der fünf bedeutenden Ökonominnen Mariana Mazzucato, Kate Raworth, Esther Duflo, Stephanie Kelton und Carlota Pérez skizziert. Ich zitiere beispielhaft hieraus zu einem „neuen Lebensstil für das 21. Jahrhundert“:    

„Voraussetzung wäre jedoch auch in ihren Augen der Abschied von traditionellen Theorien der Volkswirtschaft. Statt sich weiter an den Modellen der industriellen Massenproduktion zu orientieren, bei denen Wachstum, Erwerbsarbeit, Besitz und dergleichen wichtig sind, gelte es, einen neuen Lebensstil für das 21. Jahrhundert zu entwickeln.

Die Zukunft ist nicht immer die Fortführung der jüngsten Vergangenheit. Der Staat muss die Wettbewerbsbedingungen in eine synergistische Richtung lenken. Eine Richtung, in der das, was einer tut, allen anderen zugutekommt, sodass wir diese fantastische gemeinsame Energie für Wachstum und Wohlbefinden bekommen.

Erste Trends in diese Richtung gibt es ja bereits. Wir könnten noch mehr Gebrauchsgüter gemeinsam nutzen, statt einzeln zu besitzen. Eine individuelle maßgeschneiderte Produktion von qualitativ hochwertigen und langlebigen Einzelstücken könnte die heutige Massenproduktion von Billigteilen ersetzen. Wir könnten mehr Zeit für Familie, gegenseitige Fürsorge, Bildung und Kultur aufwenden statt um jeden Preis an überflüssig gewordenen Erwerbsarbeitsplätzen festzuhalten. Klingt utopisch?“

Die Erkenntnisse des Zukunftsinstituts, der modernen (Nachhaltigkeits-) Ökonomie und des Management 4.0 zeigen in die gleiche Richtung. Analog dem Agilen Manifest schlage ich auf dieser Basis ein ökologisch-ökonomisches Manifest vor:

  • Die Selbstorganisation der Gesellschaft ist wichtiger als die Selbstorganisation des Marktes.
  • Der Markt dient der Gesellschaft, und nicht die Gesellschaft dem Markt.
  • Eine geführte Selbstorganisation des Marktes ist wichtiger als eine ungeführte Selbstorganisation des Marktes.
  • Einheit in der Vielfalt ist wichtiger als Einheit.
  • Kollaboration ist wichtiger als Wettbewerb.
  • Lokalität ist wichtiger als Globalisierung.

Die nachfolgende Abbildung 1 fasst einige Aussagen der Blog-Reihe „Selbstorganisation des Marktes“ zusammen:

Abbildung 1: Die Selbstorganisation der Gesellschaft ist wichtiger als die Selbstorganisation des Marktes.

Viele Individuen tragen mit ihrem individuellen Verhalten in verschiedenen Kontexten auf der Mikro-Ebene zur Ausbildung von Mustern bei, die sich auf der Makro-Ebene des Marktes und der Gesellschaft zeigen. Damit tragen die individuellen Makro-Ebenen mit ihren individuellen Werten und Glaubenssätzen, ihren Identitäten und dem Sinn, den jeder seinem Leben gibt, zu den gesellschaftlichen Makro-Strukturen bei. – Es bilden sich mehr oder weniger viele Gesellschaften bzw. Teilgesellschaften sowie ein Markt bzw. Teilmärkte.

Die sozialen Makro-Ebenen (Markt/Märkte bzw. Gesellschaft/Teilgesellschaften) lassen sich wiederum durch unterschiedliche Ordnungsparameter beschreiben. So habe ich im letzten Blog z.B. erwähnt, dass man die unterschiedlichen ökonomischen Theorien u.a. auch durch die Reihenfolge der Markt-Ordnungsparameter charakterisieren kann. Der in allen ökonomischen Theorien oberste Ordnungsparameter ist die Technologie, sie ändert sich am langsamsten. – Die Schnelligkeit oder Langsamkeit, mit der sich die Größen im Verhältnis zueinander ändern, habe ich durch stärkere oder weniger starke Schwingungen angedeutet. So zeigt das Verhalten der Menschen auf Mikro-Ebene die (wahrscheinlich) stärkste Dynamik.

Der Markt ist Teil des gesellschaftlichen Systems. Berücksichtigt man, dass Modelle immer ihre Limitierungen haben, so hat die Ökonomie gezeigt hat, dass man mit mathematischen Modellen den Markt vielfach sehr gut beschreiben kann. – Man kann sogar mit Hilfe der mathematischen Theorien der Komplexitätsforschung und der Selbstorganisation für den Markt wichtige Erkenntnisse gewinnen. – Es ist jedoch wichtig, festzuhalten, dass der Markt bzw. die Märkte zwar emergierende Makro-Strukturen zeigen, jedoch in sich keine soziale Rechtfertigung tragen. – Sie sollten, trotz aller „selbstorganisierter Komplexität“ nur als „formale“ Repräsentationen gesellschaftlicher Makro-Strukturen betrachtet werden und diesen untergeordnet werden, damit sich die integralen Werte-Meme entwickeln können. Genau dies ist für mich die Quintessenz eines „neuen Lebensstils für das 21. Jahrhundert“. – Wenn man sieht, dass Management 4.0 gerade die organisationale Welt verändert, dann kann man die berechtigte Hoffnung haben, dass der Kapitalismus für das Leben im 21. Jahrhundert seine Dominanz verliert, Innovationen mehr integrale gesellschaftliche Relevanz zeigen und der „Glücksfaktor“ wächst.  

[1] Bayer Anna und Künßberg Jann-Luca (2020) Interview mit dem Zukunftsforscher Daniel Dettling über Deutschland 2050, „Der Westen wird sich dem Osten angleichen“, Spiegel,  https://www.spiegel.de/geschichte/deutschland-2050-der-westen-wird-sich-dem-osten-angleichen-a-5d614ef4-1d3a-4022-afde-49d6f1ddd7d4, zugegriffen am 24.10.2020

[2] Wiedmann Thomas, Lenzen Manfred, Keyßer Lorenz T., Steinberger Julia K. (2020) Scientits‘ warning on affluence, nature communications, (2020)11:3107

[3] Oswald, Y., Owen, A. & Steinberger, J.K. (2020) Large inequality in international and intranational energy footprints between income groups and across consumption categories, Nature Energy volume 5, page 349(2020)

[4] Ollie Williams (2020) Rich People Are Bad For The Planet Studies Show, https://www.forbes.com/sites/oliverwilliams1/2020/09/21/rich-people-are-bad-for-the-planet-studies-show/#2e6f07db2b46, zugegriffen am 24.10.2020

[5] Oswald Alfred, Müller Wolfram (editors) (2020) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, BoD, Norderstedt

[6]  Schrupp Antje (2020) Die Wertedebatte, Wie fünf Ökonominnen Wirtschaft und Politik neu verbinden, Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/die-wertedebatte-wie-fuenf-oekonominnen-wirtschaft-und.1184.de.html?dram:article_id=485902&utm_source=pocket-newtab-global-de-DE, zugegriffen am 24.10.2020

Von bösen und guten Preisen oder der Selbstorganisation des Marktes

Es ist einige Zeit her, ich glaube es war in der Sendung AnneWill, als ich einen Beitrag zum Thema Nahrungsmittelpreise und unsere Landwirtschaft gesehen habe. Ich war tief betroffen und wütend, als ein Ökonomieprofessor in etwa sinngemäß folgende Aussage traf: „Landwirtschaft und die damit verbundene Tierhaltung sowie die daraus gewonnenen Lebensmittel unterliegen dem Markt.“

In den Medien, u.a. in [1], konnte man die Tage lesen, dass Uli Hoeneß seinen Freund, den Fleischfabrikanten Tönnies mit den folgenden Worten verteidigt: „Wenn Fehler gemacht wurden, muss man dazu stehen. Das tut er ja. Wenn Dinge zu ändern sind, dann muss man das auch tun. Ich gehe davon aus, dass er das tut, wenn es notwendig ist.“  – Man beachte die mehrfach relativierende Satzkonstruktion „Wenn…dann…wenn es notwendig ist.“

Ich frage, sind das Fehler? – Wenn man Menschen und Tiere über Jahrzehnte ausbeutet und selbst auf dieser Basis Milliarden abschöpft.

Es folgt in [1] der Satz „…was er für eine große Firma aufgebaut hat, jetzt plötzlich in Schutt und Asche redet…“. – Beachtet man seinen eigenen Werdegang, so spricht vieles für ein dominantes ego-heroisches Werte Mem, wenn nicht sogar eine narzisstische Persönlichkeitsstörung flankiert von einem ausschließlich individuell oder spezifischen Gruppen dienenden autoritären Werte Mem von Orientierung und Kontrolle.  

Nikolaus Blome [2] hat in der Spiegel Kolumne zum Thema Tönnies unter dem Titel „Billig ist nicht böse“ einen Beitrag geschrieben. Dieser Beitrag lässt unmittelbar den Glaubenssatz erkennen, dass ein Preis, hier der Preis des Fleisches, das wir im Supermarkt kaufen, nicht böse sein kann, denn der Preis ist ja durch das „objektive“ Einschwingen von Angebot und Nachfrage in einen makroökonomischen Gleichgewichtszustand entstanden. – Personen, die dementsprechend einem Preis die Eigenschaft „böse“ zuordnen, verstehen nichts von Ökonomie.

Selbstverständlich entsteht, der Preis auf diese Weise und er ist auch in diesem Sinne „objektiv“, jedoch keinesfalls frei von Werten. Ein Gleichgewicht stellt sich immer auch auf der Basis von weiteren Systemparametern ein und diese Systemparameter können durchaus moralisch-ethisch verwerflich sein: Wenn die Landwirtschaft Tiere und Natur ausbeutet, Tönnies die Ausbeutung von Tier und Arbeitern fortsetzt, der Einzelhandel seine Zulieferer erpresst und sich in Preisschlachten gegenseitig unterbietet und wir als Verbraucher nach noch billiger gieren, weil Geiz geil ist oder weil wir uns nicht mehr leisten können, dann ist mit all dem sehr wohl eine böse Dynamik verbunden, nämlich ein nach immer niedrigeren Preisen gerichteter (temporärer) Preis-Gleichgewichtszustand. – Niedrige Löhne in der Fleischindustrie und in anderen Branchen führen fasst automatisch zu einem Zustand, in dem Preise niedrig sein müssen, damit sich diese Menschen die Lebensmittel leisten können. – Und wir anderen profitieren dann auch sehr von diesen niedrigen Preisen. Deshalb müsste es eigentlich das Ziel von Kolumnisten sein, nicht zur Stabilisierung dieser unsäglichen ökonomischen Glaubensätze beizutragen, sondern bewusst dazu beizutragen, dass ein „Denken lernen“ einsetzt [3], indem tradierte Glaubenssätze hinterfragt werden, damit ein gesellschaftlicher Wandel eintritt.   

Das Erste [4] hat einen Beitrag zu den Ursachen der Abstürze der Boeing 737 MAX veröffentlich. Auch hier spielte der Preis oder die Gier nach Markt- bzw. Macht-Anteilen die entscheidende Rolle. Die Boeing 737 geht in ihrer Urversion auf die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. – Im Laufe der Jahrzehnte wurde sie in verschiedenen Modellen weiterentwickelt. Mit dem Airbus 320 bot Airbus ein sparsameres Modell an. Die Sparsamkeit der Triebwerke beruht u.a. auf ihrer Größe. Also hat Boeing aus Kosten und Zeitgründen an die 737 größere als ursprünglich vertretbare Triebwerke angebaut. Das Resultat war, dass das Flugverhalten durch diese Übergröße instabil wurde und man dies mit einer entsprechenden versteckten Software korrigierte.- Nach Aussagen von [4] wussten die Piloten der Unglücksmaschinen nichts von dieser Software. Die Software war fehlerhaft und steuerte die Maschinen Kopf-vor in den Boden. Der Bericht legt nahe, dass dieses Verhalten kein Einzelfall ist, sondern Sicherheit systematisch dem Profit geopfert wurde und noch wird. – Auch hier wieder, der sich selbst überlassene Markt konnte es nicht zum Besseren führen.

Dies Alles, so glaubt man, kann an Perfidität nicht übertroffen werden. Doch es geht, wie Michael Moore in seiner zweistündigen Dokumentation im ZDF [5] zeigt: „Fahrenheit 11/9, Amerikas Betriebstemperatur, Wie konnte Donald Trump US-Präsident werden? Und was kann man jetzt tun?“

Auch hier herrschen Gier, Machtlust, Skrupellosigkeit, Rassismus, Sexismus, offener und verdeckter Betrug und Ego-Zentrik vorallem in den republikanischen Kreisen aber auch bei den Demokraten vor. Das Tragische ist, dass diese zerstörerischen Werte bei den Demokraten den Aufstieg von Trump erst ermöglicht haben.  – Moore zeigt an sehr vielen Beispielen die zerstörerische Macht der ego-heroischen, autoritären Werte Meme.

Ein herausgegriffenes Beispiel: Unter dem Deckmantel von Freiheit und Markt wurde eine ganze Stadt an bleivergiftetes Trinkwasser angeschlossen, obwohl reines Wasser zur Verfügung stand. Damit konnten einige wenige viel Geld abschöpfen und zudem wurde dieses Verhalten durch deren Rassismus sanktioniert. Die Stadt besteht nämlich überwiegend aus Afroamerikanern. – Es wurde die Gesundheit von mehreren zehntausend Menschen auf Generationen hin geschädigt. Auch hier hat der sich selbst überlassene Markt nicht funktioniert: Er hat es nämlich nicht ermöglicht, dass die Einwohner der Stadt zu einem akzeptablen Preis sauberes Wasser erhalten haben. Die Republikaner haben diese Schandtat ermöglicht und die Demokraten, namentlich Barack Obama, haben es nicht verhindert und sogar nachträglich sanktioniert.

Betrachtet man die letzten Jahrzehnte, so kann man diese Liste mühelos erweitern: Dieselskandal, deutsche Banken Skandale, Kindesmissbrauch, sexuelle Übergriffe, Waffenexporte, massenweise Steuerhinterziehungen, usw. …

Betrachtet man dieses „böse“ Verhalten des Marktes, so sind immer zwei Aspekte von Bedeutung:

  • Ein unentwickeltes Mindset bei Individuen, Gruppen oder gesellschaftlichen Teilen (unentwickeltes Mindset bedeutet, dass die magischen, ego-heroischen und autoritären Werte Meme vorherrschen)
  • Systemstrukturen, die das „böse“ Verhalten begünstigen oder zumindest nicht verhindern

Liegen diese zwei Aspekte zusammen vor, entwickeln sich mittels Selbstorganisation „böse“ Systemstrukturen in bestimmten Gruppen oder gesellschaftlichen Teilen. Diese „bösen“ Systemstrukturen sind deswegen „böse“ weil sie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf breiter Basis auf Kosten der gesamten Gesellschaft massiv verletzen.

Es kann jedoch nicht darum gehen, eine „gute“ Selbstorganisation durch eine doktrinäre Umerziehung zu erzwingen oder Selbstorganisation durch immer mehr Regularien abzuwürgen. Ziel müsste es sein, eine gesellschaftliche Transformation einzuleiten, die durch eine kluge Governance, die eine „gute“ Selbstorganisation ermöglicht, reguliert wird. Man siehe auch den Blogbeitrag zur Politik 4.0 [6].

Im meinem nächsten Blog beschäftige ich mich weiter mit der Selbstorganisation des Marktes und möglichen Governance-Ansätzen.

 

[1] FAZ (2020) HOENESS VERTEIDIGT TÖNNIES: „Das kann es nicht sein“, https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/uli-hoeness-verteidigt-clemens-toennies-nach-corona-skandal-16837550.html, zugegriffen am 07.02.2020

[2] Blome Nikolaus (2020) Billig ist nicht böse, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/fleischindustrie-billig-ist-nicht-boese-kolumne-a-9e513549-d37a-43b1-9ee9-75f3de7559d1, zugegriffen am 07.02.2020

[3] Oswald Alfred (2020) Denken lernen: „Durch Umgang und Erfahrung lässt sich in der modernen komplexen Gesellschaft in vielen Lebensbereichen kaum etwas erlernen.“!, https://agilemanagement40.com/denken-lernen-durch-umgang-und-erfahrung-laesst-sich-in-der-modernen-komplexen-gesellschaft-in-vielen-lebensbereichen-kaum-etwas-erlernen, zugegriffen am 07.02.2020

[4] Exclusiv im Ersten (2020) Boeing – Das tödliche System, https://www.ardmediathek.de/ard/video/reportage-und-dokumentation/exclusiv-im-ersten-boeing-das-toedliche-system/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuL2MwMDBkNzE3LTQ4NzMtNDI3Ny04N2Q2LWM4ZjY4MmY3NGJlMA/, zugegriffen am 02.07.2020

[5] Moore Michael (2020) Fahrenheit 11/9, https://www.zdf.de/dokumentation/zdfinfo-doku/fahrenheit-11-9-von-michael-moore–100.html, zugegriffen am 02.07.2020

[6] Oswald Alfred (2019) Politik 4.0: Politik im Angesicht von Komplexität und Selbstorganisation, von Schmetterlingseffekt, Tipping Point und selbstorganisierter Kritikalität, https://agilemanagement40.com/politik-4-0-politik-im-angesicht-von-komplexitaet-und-selbstorganisation-von-schmetterlingseffekt-tipping-point-und-selbstorganisierter-kritikalitaet, zugegriffen am 02.07.2020

Governance: Die hohe Kunst der Führung von Gesellschaft, Unternehmen und Projekten.

In den letzten Jahren sind auf der Weltbühne Ereignissen geschehen, die den ein oder anderen innehalten lassen. Sie oder er, fragt sich, was läuft schief – hätte man es ändern können und wenn ja, wie: Sei es das Flüchtlingsthema und deren Behandlung in Europa, das Auftauchen der AfD, der Austritt Großbritanniens aus der EU, das Auftauchen des Narzissten Trump oder das des Sultans Erdogan, der Abgas-Skandal und die Skandale bei Großprojekten wie dem BER.

Es wäre vermessen, anzunehmen, dass ich auf all diese Ereignisse und deren eventuelle Verhinderung eine passende und vor allem vollständige Antwort habe. Jedoch glaube ich, dass es unter diesen Ereignissen, wie z.B. dem Austritt Großbritanniens aus der EU, Ereignisse gibt, die man bei entsprechender rechtzeitiger „Führung“ mit recht großer Wahrscheinlichkeit hätte verhindern können.

Dieser Blog-Beitrag versucht zu erläutern, warum ich diesen Glaubenssatz habe. Der Blog Beitrag steht in unmittelbarem Bezug zu meinem Blog Beitrag „Karl Marx und die Theorie der Selbstorganisation“. Ich verweise auch auf den Blog Beitrag zum Großprojekt BER „Made in Germany – Management am Scheideweg“. Der erste Beitrag betrachtet die Marx’sche Theorie im Lichte der Theorie der Selbstorganisation und der zweite Beitrag schildert wie das Mindset der BER Führungskräfte die Projekt-Governance des Großprojektes BER verunstaltet hat.

Ich verallgemeinere die dort beschriebenen Erkenntnisse zur Selbstorganisation und stelle folgenden Glaubenssatz auf: Selbstorganisation findet immer und überall statt. Die Systeme (Gesellschaft, Unternehmen, Projekte) bilden selbstorganisiert kollektive Muster aus. Die Ausbildung dieser Muster hängt von den zur jeweiligen Zeit wirkenden Rahmenbedingungen ab. Diese Rahmenbedingungen schränken die möglichen Freiheitsgrade des Systems ein, was wiederum die Muster der Selbstorganisation einschränkt. Rahmenbedingungen sind Gesetze, Strukturen und Prozesse sowie Visionen, Werte und Glaubenssätze aber auch das individuelle Handeln von „herausragenden“ Personen oder Kollektiven.

Individuelles und kollektives Handeln unmittelbar zu beeinflussen ist sehr schwierig, ggf. unmöglich, in jedem Fall äußert ineffizient. Diese Form von Führung über unmittelbare Einflussnahme, nenne ich „Führung im System“. Effizienter und auch effektiver ist die „Führung am System“. Verfassungen von Staaten sind z.B. Ausdruck dieser Führung am System. Sie geben einen Rahmen vor, in dem sich das System, also der Staat und die Gesellschaft bewegen können. Nachgelagerte Gesetze haben im Prinzip die gleiche Funktion. Die Verfassung ist sozusagen das Big Picture, die Vision, und die nachgelagerten Gesetze die untergeordneten „Zielkorridore“, in denen sich die Gesellschaft bewegen darf. Leider schießt die Gesetzgebung nicht selten über das Ziel hinaus, und reguliert in einem falsch verstandenen Führen das individuelle und kollektive Handeln im Detail. Wenn dies passiert, hat man eine Diktatur der Gesetze: Die Freiheitsgarde werden massiv beschnitten, und das System, insbesondere auch das soziale System, sucht sich neue Wege, Freiheitsgrade auszubilden. Die öffentlichen Diskussionen der letzten Wochen zum Thema Abschiebung, sind auch Ausdruck dieser Problematik: Jeder kennt wahrscheinlich einen Abschiebe-Fall, in dem intergrierte Mitbürger abgeschoben werden, weil das Gesetz es so vorsieht. Es stellt sich dann die Frage: Befördern die Gesetz Demokratie, Gerechtigkeit und Menschlichkeit oder behindern sie diese, weil sie nicht (mehr) zum gesellschaftlichen Kontext passen?

Mein Kollege Reinhard Wagner erläutert Governance und Management in seinem GPM Blog Beitrag „Project Governance – Eine Aufgabe des Topmanagements“ [1] wie folgt:
„Governance und Management sind zwei sehr unterschiedliche Konzepte. Management plant und steuert die operative Ausführung von Aktivitäten (meine Anm.: Führen im System), wohingegen die Governance sich übergeordnet, d.h. strategisch und langfristig, um die Gestaltung der Rahmenbedingungen für das Management kümmert (meine Anm.: Führen am System). So geht es bei Governance vor allem darum, strategische Grundsätze, Prinzipien, Regeln bzw. Leitlinien für das Management einer Organisation zu definieren. Diese sollen dem Management Orientierung geben, aber auch Leitplanken für dessen Aktivitäten setzen.“

Governance entspricht also dem „Führen am System“ und Management entspricht dem „Führen im System“. Diese bedeutet jedoch keineswegs, dass eine Governance einmal gesetzt wird und dann nie mehr auf Effizienz und Effektivität überprüft wird:  Governance dient dazu einerseits Freiheit zu geben und andererseits Stabilität anzustreben. Dementsprechend hat Governance auch immer einen Kontext in dem diese gültig ist bzw. zu dem sie passt.

Werden die Systeme selbst und deren Wechselwirkung immer komplexer, versagt irgendwann das „Führen im System“, also das Management. – Denn das „Führen im System“ erfordert sehr viel kleinteiliges Management (Micro-Management) mit dem großen Nachteil, dass die Führungskraft (Manager, Politiker) diese „Kleinteiligkeit“ sehr genau kennen muss. – Wenn die Führungskraft (Manager, Politiker) nicht über dieses „kleinteilige“ Wissen verfügt – was im Projekt, im Unternehmen oder gar im Staat, ja oft der Fall ist – ergeben sich Entwicklungen, die für die Führungskraft überraschend sind.

Und damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angekommen: Hätte man z.B. den Brexit verhindern können. Ich glaube ja, wenn man die EU über Governance, nach den Prinzipien der Selbstorganisation, führen würde. D.h. es müssten Rahmenparameter, Kontrollparameter und Ordnungsparameter entwickelt werden, die Selbstorganisation ermöglichen (man siehe für die Erläuterung dieser Systemparameter meinen Blog-Beitrag „Karl-Marx und die Theorie der Selbstorganisation“)… Wir müssen ja nicht klüger sein als die Natur: Denn soweit wir dies wissen, führt uns die Natur über eine Governance, die nach den Prinzipien der Selbstorganisation wirkt.

Die EU hat seit 2005 eine Verfassung, die, so war es gedacht, auf dem Subsidiaritätsprinzip beruht. Das Subsidiaritätsprinzip bringt das Prinzip der Selbstorganisation der einzelnen Länder zum Ausdruck, wenn auch nicht in Form der o.g. Systemparameter: Die EU greift nur dort und dann in die Führung der einzelnen Mitgliedsstaaten ein, wenn dies (aus übergeordneter Sicht) erforderlich ist. Dieses Prinzip der Subsidiarität wird nur leider nicht wirklich gut von der EU gelebt.

Die EU- Verfassung verletzt schon rein äußerlich den Grundgedanken der Governance. – Governance zeichnet sich durch die Abwesenheit von Kompliziertheit aus. D.h. nicht, dass der Weg zu einer guten Governance einfach ist. – Das Ergebnis einer guten Governance, die sich an den Prinzipien der Selbstorganisation orientiert, ist zwar einfach, in dem nur relativ wenige System – oder Führungsparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) einzustellen sind. Gleichzeitig erfordert der Weg zu einer guten Governance ein Führen, das in einem hohen Maß von Muster-Wahrnehmung, von einem sehr guten Komplexitätsverständnis sowie von mutiger Intuition getragen wird.

Mit 475 Seiten ist die EU Verfassung ein mächtiges Stück „Kleinteiligkeit“, insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass die ursprüngliche Verfassung der USA nur wenige A4-Seiten umfasst.  So titelt die Zeit Online denn auch kürzlich erst: „Die EU braucht eine neue Verfassung“ [2]. Meine englischen Kollegen von der Association of Project Management (APM) haben den Zusammenhang von guter Governance und effizienter wie effektiver Führung wohl schon 2004 verstanden. Denn damals ist erstmals das Büchlein „Directing Change – A Guide to Governance of Project Management“ rausgekommen. Der wirklich wichtige Inhalt mit den Projekt-Governance Prinzipien findet auf 7 Seiten in der aktuellen Ausgabe seinen Platz! [3]

Wir konnten in den letzten Jahren aber auch beobachten wie nur wenige Worte die Bedeutung eines Ordnungsparameters bekommen haben (Ordnungsparameter sind die Parameter einer guten Governance, die einem System eine Ausrichtung geben). Obama hat mit seinem „Yes, we can!“ die Werte des Aktiven, Gestaltenden und des Gemeinschaftlichen angesprochen. In der Sprache des Bewusstsein- und Kulturmodells Spiral Dynamics [4] spricht man von Ausprägungen der Werte-Meme „orange“ (aktiv, gestaltend) und „grün“ (gemeinschaftlich, wir-orientiert). Trump hat sich einen anderen Ordungsparameter gegeben: „America first!“: Macht, Rücksichtslosigkeit, Arroganz gepaart mit meinem Ansatz von Mystik indem er „alternative Fakten“ einführt und Amerika als Heilsversprechen stilisiert und damit eine selbstverständliche Ordnung wieder herstellen will. In der Sprache von Spiral Dynamics spricht man von den Werte-Memen „purpur“ (mystisch) und „rot“ (macht-orientiert) sowie „blau“ (Ordnung). Auch unsere Bundeskanzlerin hat sich im Rahmen der Flüchtlingsthematik eines Ordnungsparameters bedient: „Wir schaffen dies schon!“ Sie adressiert damit in erster Linie unseren Gemeinschaftssinn. In der Sprache von Spiral Dynamics entspricht dies dem „grünen“ Werte-Mem (gemeinschaftlich, empathisch).

Diese Meme sind für ein Individuum Ausdruck seines Bewusstseins und für ein Kollektiv Ausdruck seiner Kultur. Die verschiedenen Meme gehören mehr oder weniger stark zu unserer Persönlichkeit. Obama spricht mit seinem Ordnungsparameter andere Personen an als Trump. Personen, die z.B. vorwiegend durch die Meme purpur (mystisch), rot (Macht) und blau (Ordnung) in ihrem Handeln „geführt“ werden, lassen sich gut durch (politische) Führungskräfte mit entsprechenden Werte-Memen führen.

Wenn Werte-Meme fehlen, so hat dies auch Konsequenzen: Im Fall der Flüchtlingsthematik fehlte in der Anfangsphase das orangene und das blaue Mem. – Mit den entsprechenden uns allen bekannten Konsequenzen. Manchmal hat das Fehlen von Werte-Meme oder das selektive gezielte Einsetzen von Werte-Memen eine erstaunliche Wirkung: Im Falle der Auseinandersetzung von Trump mit dem koreanischen Diktator Kim hat Trump diesen mit seinen eigenen Waffen geschlagen, denn die Werte-Meme beider Personen zeigen sehr ähnliche Ausprägungen. Hingegen konnte Obama mit seinen Werte-Memen bei Kim keine Wirkung hervorrufen. Man kann sich auch Fragen, ob die Werte-Meme mit denen die EU zur Zeit mit Trump versucht wirksam zu kommunizieren, geeignet sind beim ihm Wirkung hervorzurufen.

Der EU fehlt ein geeigneter, die EU einigender Ordnungsparameter, der im Idealfall alle Werte-Meme enthält, denn es sollen sich alle Nationen und deren unterschiedliche Gruppierungen in diesem Ordnungsparameter wiederfinden. – Damit kann man vielleicht nachvollziehen, dass der Ordnungsparameter eine gewisse Einfachheit haben muss, aber sehr schwer zu finden ist. Gleichwohl wäre es die oberste Aufgabe der EU diesen Ordnungsparameter und natürlich auch die beiden anderen Parametertypen, Kontroll- und Rahmenparameter, zu finden. Bei der Gestaltung der Flüchtlingsthematik spielen alle Parameter eine große Rolle, insbesondere auch die Gestaltung des oder der Rahmenparameter, also die Behandlung der Grenzen und des damit verbundenen Umfeldes.

Werte-Meme können wie in den obigen Beispielen geschildert als Ordnungsparameter wirken, in vielen Fällen wirken sie auch als Kontrollparameter: Gesellschaften, Gesellschaftsbereiche oder gesellschaftliche Gruppen lassen sich recht gut in ihrem Handeln durch ihre Werte-Meme verstehen. Die Werte-Meme z.B. der Wähler der Grünen sind mit Sicherheit andere als diejenigen der AfD-Wähler: Hier wirken eventuell die Werte-Meme „grün“ mit (etwas) „orange“ dort die Werte-Meme „blau“ mit (etwas) „rot“. Es wäre fatal beide Werte-Konstellationen gegeneinander auszuspielen oder zu sagen, dass die eine Werte-Konstellation „mehr Wert“ ist als die andere. Vielmehr ist es die Führungsaufgabe der Politik nach Maßnahmen zu suchen, die das Bedürfnis beider Werte-Konstellation berücksichtigt. Diese Maßnahmen sind jedoch keine „kleinteiligen“ Micro-Management Aktivitäten, sondern erfordern Führen mittels Governance.

Falls die Politiker dieser Führungsaufgabe nicht gerecht werden, dann suchen sich die sozialen Gruppen über Selbstorganisation ihren eigenen Weg. – Selbstorganisation ist nicht per se gut, sie kann ins Desaster führen. Dies erfahren wir fast täglich in den medialen Berichten. Entscheidend ist, dass die Politiker wahrnehmen, dass sie mit ihrem Verhalten zu solchen Entwicklungen nicht unwesentlich beitragen. Und zwar dann, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – objektiv oder gefühlt -, die vorherrschenden Werte-Meme (die Kontrollparameter) einer gesellschaftlichen Gruppierung verletzen. Aus meiner Sicht haben der Brexit und das Auftauchen der AfD sowie die jüngsten Gewaltausschreitungen bei uns gleiche fundamentale Ursachen: Es gibt in England wie bei uns einen nicht geringen Anteil an Menschen für die Sicherheit und Ordnung (Werte-Mem „blau“) eine große Bedeutung hat, ggf. gepaart mit einem gewissen Anteil an „rot“ (Macht) und „purpur“ (Mystik). Es fehlen weitgehend „orange“ (gestalten, unternehmen) und „grün“ (Gemeinschaft, Empathie). Entscheidend ist, dass Werte-Mem Konstellationen, denen eine oder mehrere Farben fehlen, Instabilität in sich tragen. In der Sprache von Spiral Dynamics fehlt das „Integrale“. Das „integrale“ Ausbilden aller Werte hat viel mit dem sozialen Kontext, der Bildung, und nicht zu unterschätzen, auch mit den materiellen Gegebenheiten (Einkommen, Vermögen) zu tun. (Wie man am Beispiel Trump sehen kann, kann, man reich sein, und doch über kein integrales Werte-System verfügen.) – Menschen, die um „ihre Existenz“ kämpfen müssen, denen rührt jede Form von Unsicherheit an „ihrer Existenz“. So gesehen erzeugt die Ineffizienz und Ineffektivität der EU und das Auftauchen der Flüchtlinge Unsicherheit. – Und dies führt zum Einsetzen von „unkontrollierter“ Selbstorganisation. Also einer Selbstorganisation, die nicht mittels Governance geführt wird. – Man spricht auch von kritischer Selbstorganisation: Ab einem bestimmten Punkt tritt die kritische Selbstorganisation ein und sie ist dann nur noch schwer zu stoppen.

Mein Appell an die Politiker ist deshalb: Reduzieren Sie das „kleinteilige“ Management zu Gunsten eines integralen Denkens in großen Bildern und gestalten Sie eine wirksame Governance auf EU wie auf Landes-Ebene. Mit diesem Appell verbunden ist auch die Erkenntnis, dass einer Transformation unserer Gesellschaft, eine Transformation der Politik vorausgehen muss, denn die Politik bzw. die Politiker sollen ja führen. Es stellt sich also als erste Frage nicht, wie wir die Gesellschaft transformieren, sondern wie die Politik zu transformieren ist.

[1] Reinhard Wagner (2015) Project Governance – Eine Aufgabe des Topmanagements“ im Blog http://gpm-blog.de/project-governance-eine-aufgabe-des-topmanagements

[2] Steffen Dobbert und Stefan Lorenzmeier (2018) Die EU braucht eine neue Verfassung in der ZEIT Online https://www.zeit.de/politik/2018-06/europaeische-integration-eu-verfassungaenderung-recht-asylpolitik

[3] APM Association of Project Mangement (2018) Directing Change – A guide to Governance of Project Management, www.apm.org.uk

[4] Alfred Oswald, Jens Köhler, Roland Schmitt (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos, Springer