Das ZDF hat in den letzten Wochen eine sechsteilige Dokumentation von Hollywood-Regisseur Steven Spielberg und Oscarpreisträger Alex Gibney zum Thema „Warum wir hassen“ gezeigt [1] – Man siehe auch das Interview mit dem Konfliktforscher Andreas Zick [2]. Diese Dokumentation zeigt eindrucksvoll die vielen Beispiele, in denen Menschen hassen – von kriminellen Gangs, religiösen und ethnischen Gruppierungen zu ideologischen Gruppierungen oder Gesellschaften. Hiernach hat der Hass folgende gemeinsame Ursachen:
Hass ist eine der ursprünglichsten Emotionen und hat sich auf der Basis von (zufällig vorhandenen) Rahmenbedingungen (Rahmenparametern) in der Evolution ausgebildet.
Diejenigen, die man hasst, kennt man nicht; sie werden entmenschlicht, d.h. die Hassenden sprechen ihnen menschliche Züge ab. Empathie für den Anderen ist nicht vorhanden.
Fakten werden nicht wahrgenommen. Starke Emotionen wie Angst und Furcht sind vorhanden. Es kommt zu erheblichen mentalen Verzerrungen.
Hassende verfügen über ein niedriges Selbstwertgefühl. Sie suchen nach Führung, Halt und Sicherheit. In vielen Fällen sind ihre Grundbedürfnisse (Bedürfnis nach Bindung, Bedürfnis nach Orientierung & Kontrolle, Bedürfnis nach Lust & Unlustvermeidung und nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz [3]) nicht erfüllt oder verletzt.
Gruppen oder einzelne Personen geben mittels einfacher Aussagen, die nicht auf Fakten beruhen, Führung und fehlendes Selbstwertgefühl, indem sie eine Abgrenzung und Ausgrenzung des Anderen vornehmen und damit die Zugehörigkeit stärken. Sie vermitteln vermeintlich Sinn.
An Hand von Beispielen illustriert die Reihe drei Prinzipien zur Überwindung des Hasses:
Eine Gruppe oder eine einzelne Person leitet einen Integrationsprozess zur Überwindung des Hasses ein (Beispiel: Südafrika – Nelson Mandela). – Hiermit wird der Kontext, in dem Hass gedeiht, geändert.
Die Hassenden lernen sich als Menschen kennen (Beispiel: Kolumbien – FARC). – Eine zweite Möglichkeit, um den Kontext, in dem Hass gedeiht, zu ändern.
Meditation und Achtsamkeit hilft, die Vernetzung von Amygdala und präfrontalem Kortex zu stärken, um ursprüngliche Emotionen zu regulieren (Beispiel: Ehemaliges Gangmitglied vermittelt heute Meditation für Kinder). – Man siehe auch [4].
Gedanken und Emotionen kann man als emergente Muster der Selbstorganisation (sogenannte Attraktoren, also Anziehungsbereiche) unseres Gehirns bzw. unserer Neuronen in unserem Gehirn verstehen.
Man kann sich diesen Zusammenhang sehr gut vergegenwärtigen, wenn man an die Metapher der inneren Teile oder an das innere Team nach Schulz von Thun denkt [5], [6]: Die inneren Teile sind dann langlebige Attraktoren. Zwangshandlungen und -gedanken sind weitere Beispiele für langlebige Attraktoren. Andere langlebige Attraktoren sind Glaubenssätze. Diese werden mittels Erfahrungen gewonnen, verallgemeinern diese und führen dann ein „Eigenleben“. Beispiele sind lebensbestimmende Glaubenssätze wie „Mich mag keiner“ aber auch „Mich haben alle lieb“, oder auch (vermeintlich) weniger bedeutungsvolle wie „Jedes Projekt benötigt einen Projektplan“. Glaubenssätze tauchen auch als Faustregeln auf und bilden dann die Grundlage für bestimmte Formen der Intuition mit einer großen Gefahr der Ausbildung von mentalen Verzerrungen [3].
Selbstorganisation ist „immer“ da, auch dann, wenn wir sie nicht bewusst herbeiführen. Gedanken und Emotionen befallen uns sozusagen und die Selbstorganisation macht auch keinen Unterschied zwischen Gut und Böse. Selbstorganisation beginnt auf der Ebene der Elementarteilchen und reicht über die Moleküle bis zur unbelebten und belebten Natur. Sie bildet sich in unserem Gehirn aus und setzt sich in unseren sozialen (und zunehmend auch technischen) Systemen fort. – Seit Anbeginn hat sich zunehmend ein riesiges Geflecht von selbstorganisierten, sich gegenseitig beeinflussenden Sphären in und zwischen Natur, Gesellschaft und Technik ausgebildet.
Das „Befallen von Gedanken“ wird begünstigt durch einen Mangel an Fakten, sowie durch Abgrenzung und Ausgrenzung: Die Selbstorganisation arbeitet sozusagen mit dem Wenigen was sie hat; mit dem Wenigen, das der Kontext bietet. Das Einleiten eines Integrationsprozesses und das Kennenlernen des Anderen öffnet der Selbstorganisation in der Gruppe oder in der Gesellschaft mehr Möglichkeiten sich auszubilden. Es werden die sogenannten soziale Kontrollparameter für mehr Vielfalt geöffnet. Dieses Öffnen auf sozialer Ebene hat natürlich kurz über lang einen Einfluss auf die individuellen Kontrollparameter unseres Gehirns. Meditation ist eine weitere Möglichkeit die Ausbildung der neuronalen Kontrollparameter besser in den Griff zu bekommen, indem Rationales und Emotionales besser mit einander vernetzt wird, d.h. die Vernetzung von Amygdala und präfrontalem Kortex unterstützt wird.
In der Sprache der Selbstorganisation entsteht Hass „Wenn die Fähigkeit zur Selbstselektion (d.h. die „selbstgeführte“ rationale Ausbildung von Kontrollparametern) nicht vorhanden ist oder unterentwickelt ist. Soziale Rahmenparameter (also der Kontext) befeuern die Fremdselektion zusätzlich durch Gruppendynamik. Die Gruppe bildet eine ausgrenzende Verbundenheit (Zugehörigkeit) aus, die zu einem gruppenspezifischen Sendungsbewusstsein führt. Es wird Sinn über eine eigene „verbildete“ Mission und Vision ausgebildet. Es entsteht ein neuer Ordnungsparameter, eine neue Ausrichtung (Ordnungsparameter sind spezielle Attraktoren). Daran kann man erkennen, dass Selbstorganisation nicht per se gut oder böse ist, sie geschieht einfach auf der Basis der gerade vorhandenen Parameterkonstellationen (u.a. des Kontextes). Die Ausbildung von Fremdenhass und nationalsozialistischen Tendenzen (u.a. auch das Auftauchen der AfD) sind Beispiele für Selbstorganisation: Auch wenn die prinzipiellen Muster der Selbstorganisation nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden, so ist es jedoch an uns, diese Muster so auszugestalten, dass nichts Böses entsteht.
Jetzt könnte man meinen o.g. Ursachen für Hass sind in der Politik typischen Populisten wie Trump, Erdogan, Höcke oder ähnlichen Personen vorbehalten. Dem ist leider nicht so; in anderen, weniger offensichtlichen Fällen ist er viel subtiler und damit vielleicht sogar viel gefährlicher. So schreibt die FAZ in einem Artikel zu einem Interview von Friedrich Merz in dem er die Aktivitäten von Greta Thunberg charakterisiert: „Auf der einen Seite sei sie „bewundernswert, aber auf der anderen Seite ist sie krank“, sagte Merz mit Blick auf Thunbergs Asperger-Syndrom“ „Ich hätte meine Tochter auch nicht dahin gelassen. (Anm.: Gemeint ist ein Auftritt bei den Vereinten Nationen).“ [7].
Das Stigma der „Krankheit“ ist ein in unserer deutschen Geschichte wohl geübtes Muster der Abgrenzung und Ausgrenzung. Ziel ist es hier, Wählerstimmen abzufischen, die das Bedürfnis nach Sicherheit vor das des Klimaschutzes stellen. Wahrscheinlich wohl wissend, dass damit rechte Wählerstimmen auf Kosten der Ab- und Ausgrenzung von anderen Wählerstimmen eingefangen werden sollen. Dass das Stigma der „Krankheit“ während des Nationalsozialismus grauenhafte Verhaltensweisen hervorgebracht hat, wird in Kauf genommen, wahrscheinlich auch wohlwissend, dass Menschen mit Asperger, wie Albert Einstein, unglaublich Wertvolles für die Menschheit geleistet haben.
Es erfordert eine hohe mentale Widerstandskraft, der manipulativen Verwendung und Ausbreitung solcher Meme, also von Gedankenschnipseln, Sätzen, Bildern oder Symbolen zu widerstehen. Hierzu ist es notwendig, die Meme zu erkennen und ggf. zu entlarven, um nicht einer Fremdbestimmung zu unterliegen, die dann zu einer neuronalen Selbstorganisation führt, die wir selbst nicht mehr führen können. In meinem Blog „Soziologie 4.0 – Vom Nutzen über den Tellerrand zu schauen“ vom Juli 2019 zitiere ich Dirk Baecker: „Genügt dem Individuum in der modernen Gesellschaft fachliche und soziale Kompetenzen sowie die Fähigkeit, zwischen Ihnen zu wechseln, so benötigt es jetzt (Anm.: im Zeitalter der Digitalen Transformation) zusätzlich die Kompetenz der Selbstselektion.“ Selbstselektion bedeutet, dass man in der Lage ist, seine mentale Selbstorganisation selbst zu führen und nicht durch innere Gegebenheiten (also z.B. durch eine geringe neuronale Vernetzung von Amygdala und präfrontalem Kortex) „von Gedanken wie einem Virus befallen zu werden“ oder durch äußere Gegebenheiten (also z.B. dem Kontext) fremd geführt zu werden, also einer Fremdselektion zu unterliegen.
Hass gibt es schon immer, jedoch…
…die zunehmende Komplexität der Kontexte, in denen wir uns bewegen, birgt die Gefahr, dass wir einer „fremden“ Selbstorganisation unterliegen: Intransparente Werte, Motive, Glaubenssätze, Grundannahmen und Ziele wirken auf uns ein. Wir benötigen in solchen Kontexten eine deutlich bessere Wahrnehmung, eine gesteigerte Fähigkeit zur Selbstführung, mehr Agilität, mehr Kreativität und mehr Entscheidungskompetenz. Diese Kompetenz zur Selbstorganisation ist eine Kompetenz, die in der Lage ist, mentale, soziale (und zukünftig auch technische) Selbstorganisation zu orchestrieren und natürliche Selbstorganisation zu verstehen, um achtsam mit ihr umzugehen.
Aus diesem Grunde haben meine Kollegin Sonja Armatowski und ich ein Trainings- und Coaching Programm für Einzelpersonen, Teams und Organisationen entwickelt, um deren Selbstorganisation zu stärken und die bestehenden Management 4.0 Trainings zu begleiten. Es trägt den Namen Metakompetenz Selbstorganisation 4.0 [8].
Im Management 4.0 (und natürlich in allen agilen Handlungsrahmen wie z.B. Scrum) spielen Rahmenparameter wie die Gestaltung von Raum und Zeit eine sehr große Rolle: Hierzu gehören zum Beispiel, die „Befreiung“ von Sitztischen als Kommunikationsbarrieren oder die Gestaltung der Zeit über Time Boxing, u.a. in der Form von Iterationen bzw. Sprints. Eine der eindrucksvollsten bewussten Gestaltung eines Rahmenparameters ist die Positionierung einer Säule in einem gewissen Abstand vor einem Notausgang. Experimente haben gezeigt, dass dadurch der Durchfluss an Menschen durch den Notausgang erheblich verbessert wird. Andere Beispiele sind die bewusste Gestaltung von Büroräumen, um unsere Kommunikation gezielt in Raum und sogar in Zeit „zu lenken“. Rahmenparameter sind immer da, ob wir wollen oder nicht: Man geht heute davon aus, dass z.B. die Evolution verschiedener Zivilisationen (zufällig) vor zehntausenden von Jahren erheblich durch entsprechende Rahmenparameter wie Klima, örtliche Lage oder dem Vorkommen von Tier- und Pflanzenwelt positiv wie negativ beeinflusst wurde (und natürlich auch noch wird) [1]. – Heute sind jedoch wahrscheinlich andere Rahmenparameter wichtiger, wie z.B. die Struktur unserer Städte [2].
Wir sprechen im Management 4.0 von Kompetenz, wenn man in
der Lage ist, die Rahmenparameter z.B. von Raum und Zeit aufgrund von gelernten
Mustern aus den agilen Handlungsrahmen in einem ähnlichen Kontext neu
anzuwenden: Z.B. wird das Time Boxing auch in Situationen wie einem
(fachlichen) Teammeeting angewendet und im Meeting spezifisch ausgestaltet.
Metakompetenz liegt damit noch nicht vor.
Wir sprechen von Metakompetenz, wenn jemand in der Lage ist, über so völlig unterschiedliche Kontexte wie oben geschildert, nämlich z.B. die Auswirkungen von Raum und Zeit im Agilen Management, der Raumgestaltung im öffentlichen und firmenspezifischen Raum oder in der Evolution wahrzunehmen und diese Wahrnehmungen einigen wenigen zugrundliegenden Prinzipien zuzuordnen. Mit Hilfe der Anwendungen dieser Prinzipien ist diese Person dann in der Lage aus der Situation heraus agil neue Modelle und Werkzeuge zu kreieren. Das Sammeln und Jagen nach scheinbar völlig unterschiedlichen immer wieder auf dem Markt der Tools angebotenen Werkzeugen kann damit entfallen. – In meinem Blog vom Juni 2019 – Vom Unterschied, der den Unterschied macht: „Principles rather than processes are what matter” – habe ich das Vier-Schritt-Zyklen Modell (PDCA-Modell) und die Ziel-Hierarchie als an Prinzipien orientierte grundlegende Modelle angeführt. – Diese Modelle tauchen an vielen Stellen immer wieder in abgewandelter Form auf und werden dort als „neue“ Modelle mit neuem Erkenntnisgewinn vermittelt.
In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Führung+Organisation ist der sehr schöne Beitrag „Nudging als Instrument der Wertevermittlung“ mit vielen Nudges-Beispielen erschienen. Nudge (engl. schwacher Stoß oder Schubs) oder Nudging ist eine Form der Kommunikation, die die „Veränderung der Entscheidungsumgebung, ohne dabei die Entscheidungsoptionen oder zugrundeliegenden Leistungsanreize zu verändern“ zum Ziel hat [3]. Dieser Beitrag vermittelt ohne Zweifel Kompetenz, jedoch keine Metakompetenz.
Als ein Beispiel für Nudging wurde angeführt, dass in einem Unternehmen, das sich ökologischer orientieren wollte, die Standardeinstellung am Firmendrucker von einseitigem Druck auf zweiseitigen Druck umgestellt wurde. Die Grundidee ist hierbei, dass diese kleine Änderung schon zu einer Änderung im Verhalten führt: Denn die aktive Änderung der Standardeinstellung ist mit Verhaltensenergie verbunden und sollte im Normalfall dazu führen, dass die Standardeinstellung (nahezu immer) beibehalten wird. Die Anzahl an möglichen Entscheidungsoptionen wird in diesem Beispiel also nicht verändert, jedoch führt die zusätzliche Energie, die notwendig ist, eine alternative Entscheidung umzusetzen, zu einem Verharren in der Standardeinstellung. Leider hat der gut ausgedachte nudge nicht wirklich funktioniert, da es eine recht große Anzahl an Mitarbeitern gegeben hat, die ihre Unterlagen doppelseitig und zusätzlich einseitig ausgedruckt haben. Es bestand nämlich die zusätzliche Regel, dass im Kontext von Besprechungen, die Unterlagen einseitig vorliegen müssen.
Hieraus wurden die folgenden „neuen“ Erkenntnisse für einen Kompetenzerwerb abgeleitet [3]:
Nudging muss die jeweiligen Kontexte einer
Organisation berücksichtigen.
Nudging muss die Werte und Glaubenssätze von
Menschen und organisationalen Systemen berücksichtigen, denn diese können die
Wirksamkeit der nudges erheblich beeinflussen. Da Menschen oder Organisationen
unterschiedliche Kontexte, Werte und Glaubenssätze haben, ist das Finden von
geeigneten nudges nicht einfach.
Nudging unterliegt einem Anpassungsprozess: Da
man nur Hypothesen über Kontexte, Werte und Glaubenssätze machen kann, sind
geeignete nudges iterativ zu ermitteln.
„Nudges sind überall und jederzeit.“ [3]
„Jeder ist ein choice architect, also jemand
der eine Entscheidungsumgebung entwirft oder beeinflusst.“ [3]
Mit einer relativ einfachen Erweiterung können diese
Erkenntnisse für den Metakompetenzerwerb nutzbar gemacht werden. Hierzu ist es lediglich
notwendig, nudges als spezielle Varianten von Rahmenparametern der Selbstorganisation
zu verstehen [4], [5]. Hierbei ist es zwar nicht für das Ergebnis, jedoch für
die grundlegenden systemischen Muster gleichgültig, ob diese Rahmenparameter
bewusst erzeugt werden oder einfach per Zufall so sind wie sie sind. In der Sprache
der Selbstorganisation ergeben sich folgende verallgemeinerte Erkenntnisse:
Neue Rahmenparameter müssen die jeweiligen Kontexte einer Organisation berücksichtigen. Denn die bestehenden Kontexte einer Organisation sind Rahmenparameter, die mit den neuen Rahmenparametern kollidieren können.
Rahmenparameter müssen die Werte und Glaubenssätze von Menschen und organisationalen Systemen berücksichtigen, denn diese können die Wirksamkeit der Rahmenparameter erheblich beeinflussen. Da Menschen oder Organisationen unterschiedliche Kontexte, Werte und Glaubenssätze haben, ist das Finden von geeigneten Rahmenparametern nicht einfach. Werte und Glaubenssätze bzw. die damit verbundene persönlichkeitsorientierte Kommunikation sind in der Selbstorganisation Kontrollparameter. Rahmenparameter und Kontrollparameter hängen sehr stark voneinander ab und müssen abgestimmt designed werden.
Das bewusste Designen von Rahmenparametern unterliegt einem Anpassungsprozess: Da man nur Hypothesen über Kontexte, Werte und Glaubenssätze machen kann, sind geeignete Rahmenparameter iterativ zu ermitteln. Es macht sich also bemerkbar, dass Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter kein einfaches, lineares System darstellen, sondern ein sehr dynamisches Geflecht von komplexen Abhängigkeiten, für das man Metakompetenz und nicht nur Kompetenz benötigt.
Rahmenparameter sind überall und jederzeit.- Hieraus ergibt sich die sehr weitreichende Feststellung „Der Begriff Selbstorganisation verspricht mehr als er hält.“ – Denn Rahmenparameter geben unserer Selbstorganisation einen nicht unerheblichen „Rahmen“.
Jeder ist ein ´selforganisation architect´, also jemand der eine Selbstorganisations-Umgebung entwirft oder beeinflusst. Vorausgesetzt…
er oder sie besitzt die entsprechenden Metakompetenz. Wir verstehen im Management 4.0 [5], Metakompetenz als eine Disposition zur Selbstselektion (man siehe auch den Blog Beitrag Soziologie 4.0) und der damit verbundenen Fähigkeit aus einem (eigenen) mentalen System und einem organisationalen System kognitiv und affektiv heraus zu treten. Im obigen Beispiel geht es darum, aus dem vermeintlich „neuen“ Gedankensystem des Nudging herauszutreten und dieses in einen umfassenderen Kontext zu stellen. Diese Metakompetenz wird als zentral angesehen, um in komplexen Kontexten kompetent handlungsfähig zu sein [6], [7].
[2] West G
(2017) Scale: The Universal Laws of Life and Death in Organisms, Cities and
Companies, Weidenfeld & Nicolson, kindle edition
[3] Böhm K L und Renz E (2019) Nudging als Instrument der
Wertevermittlung, in zfo Zeitschrift für Organisation 5/2019, Schäfer-Poeschel
[4] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2016) Projektmanagement
am Rande des Chaos, Springer, Heidelberg
[5] Oswald A, Müller (Hrsg.) (2019) Management 4.0 –
Handbook for Agile Practices, Release 3, BoD Verlag, Norderstedt
[6] Erpenbeck J et al. (2006) Metakompetenzen und Kompetenzentwicklung, QUEM-Report, Heft 95 Teil 1, Berlin
[7] Bergmann G et al. (2006) Metakompetenzen und
Kompetenzentwicklung, Metakompetenzen und Kompetenzentwicklung in systemisch-rationaler
Sicht, Selbstorganisationsmodelle und die Wirklichkeit von Organisationen, QUEM-Report,
Heft 95 Teil 2, Berlin
Als die GPM Fachgruppe Agile Management vor ungefähr 10
Jahren das erste Mal den Begriff Management 4.0 kreierte, hatten wir nicht
Industrie 4.0 oder die Digitale Transformation im Sinn. Industrie 4.0 bzw. die
Digitale Transformation waren als Begriffe in Google damals noch nicht sichtbar.
Uns geht es heute, wie damals, um das Verständnis von Komplexität und der damit sehr eng verbundenen Selbstorganisation. Es geht uns, um ein geeignetes Denken und Handeln im Angesicht von Komplexität: 4.0 steht also für das Denken und Handeln in komplexen Situationen und Umfeldern und hat zuerst einmal nichts mit Industrie 4.0 bzw. der Digitalen Transformation zu tun. – Jedoch, … die Digitale Transformation, als sozial-technisches Phänomen, ist einer der derzeit recht vielen globalen Komplexitätstreibern. Andere Komplexitätstreiber, die ihre Auswirkungen in Gesellschaft, Natur und Technik haben, sind der mögliche Klimakollaps oder die soziale Sicherheit und die Verfügbarkeit von Arbeit und Wohnen. Damit sehr eng verbundenen sind die gesellschaftlichen Auswirkungen der Bereiche Energie, Mobilität, Nahrung, Gesundheit sowie lokaler und globaler Umweltschutz.
Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt das Management
4.0 Prinzipien für das Handeln unter Komplexität auf. – Dieser Blogbeitrag
wendet einige dieser Prinzipien auf einige Aspekte des aktuellen
gesellschaftlichen Diskurses und der Politik an.
Der Schmetterlingseffekt – „Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien löst einen Tornado in New York aus“ – steht als realitätsnahe Metapher für die enorm unterschiedlichen Auswirkungen, die kleine Unterschiede in den Anfangsbedingungen eines komplexen Systems haben. Insbesondere mit unserem Klima stehen wir an einem möglichen Tipping Point (Kipppunkt). Das was wir heute entscheiden oder nicht entscheiden kann in der Zukunft enorme Auswirkungen haben, also einen Schmetterlingseffekt zeigen: Das was wir entscheiden kann den Fortbestand unserer Erde, so wie wir sie heute (noch) kennen, massiv gefährden oder ermöglichen. Es besteht auch die Möglichkeit, dass der Tipping Point längst erreicht ist, und sich selbstorganisiert Mechanismen in Gang setzen, die wir nicht (mehr) aufhalten können. Man spricht von selbstorganisierter Kritikalität.
Schmetterlingseffekt, Tipping Point und selbstorganisierte Kritikalität gibt es nicht nur in der Natur, sondern auch in sozialen Systemen, also in Gruppen, Organisationen oder in der gesamten Gesellschaft.
Forschungsergebnisse aus dem Jahre 2018 haben starke Hinweise, dass in sozialen Systemen ein Tipping Point bei 25% der Population liegt [1]: Sind also 25% einer Organisation oder Gesellschaft von etwas wirklich überzeugt, kippt die gesamte Gesellschaft in die entsprechende Richtung. Interessante, neugierig machende Lügen (Fake News) und die richtige Auswahl bzw. Platzierung der Promotoren des Kippens begünstigen den Übergang.
Wie der neueste Deutschlandtrend des ARD zeigt [2], geben inzwischen 63% der Bevölkerung dem Klimaschutz Vorrang vor dem wirtschaftlichen Wachstum.- Eine erfreuliche Entwicklung. – Die Ausweitung der Grünen Grundstimmung und vor allem auch die „Fridays for Future“ haben hierzu beigetragen. – 52% der Bevölkerung schätzen die Bedeutung von „Fridays for Future“ für diese Entwicklung hoch ein. Das (halbherzige) Umschwenken der Meinung des politischen Establishments (CDU/CSU und FDP) ist sicherlich ganz wesentlich auf die letzten Wahlergebnisse und die „Fridays for Future“ Bewegung zurückzuführen. – Es gab nicht wenige Politiker, die den jungen Menschen in den Anfängen öffentlich Kompetenz abgesprochen und Disziplinlosigkeit zugesprochen haben. – Inzwischen sind besagte Politiker wesentlich vorsichtiger geworden.- Sie könnten ja Wählerstimmen verlieren. Das Kippen der öffentlichen Meinung vollzieht sich gerade, jedoch die politische Führung bleibt in ihrer mentalen Blockade gefangen.- Die Maßnahmen des Klimakabinetts werden schon während ihrer Publikation als Fehlentwicklung und Augenwischerei bezeichnet (unter vielen sehr ähnlichen Aussagen, hier nur eine in [3]).
Die Bildung der AfD und auch der Brexit kann man als selbstorganisierte Kritikalität verstehen: Das „Eindringen der Flüchtlinge“ hat neue Komplexität mitgebracht, die vielen Menschen Angst macht bzw. gemacht hat. – Diese Angst ist ein enormer Brandbeschleuniger. Die mit dem drohenden Klimakollaps verbundenen Maßnahmen, können, wenn sie jetzt falsch „designed“ werden, weitere Ängste schüren und diese Ängste könnten dann noch viel schlimmere Auswirkungen haben: Sollten die Klimaziele zu Lasten der sozialen Sicherheit gehen, ist dies der „gefundene Kontrollparameter“ den die AfD sucht, um die Gesellschaft weiter zu spalten bzw. zu destabilisieren. – Es könnte sein, dass das politische Establishment genau hiervor Angst hat und dementsprechend das Klimapaket falsch schnürt. – Es ist aber auch zu vermuten, dass sie das Denken unter Komplexität nicht wirklich beherrschen und damit die Wirkung der angedachten Maßnahmen nicht wirklich einschätzen können: Die CO2-Bepreisung ist ein Kontrollparameter, damit er wirkt, muss man ihn erkennen und auch im Wert richtig einstellen, was offensichtlich bisher nicht getan wurde. – Der aktuelle Wert ist nur ein Fünftel des notwendigen Wertes.- Also als Kontrollparameter völlig wirkungslos. – Diesen Effekt des Festhaltens an alten Denkmustern kennen meine Kollegen und ich auch aus der Agilen Organisationsentwicklung: Dort gibt es u.a. den Kontrollparameter Work-in-Progress, der im Idealfall bei 1 liegen sollte, also eine Aufgabe pro Zeiteinheit pro Mitarbeiter… Die Führungskräfte und die Mitarbeiter der Organisation finden tausend Gründe warum die Organisation diesen Wert nicht einhalten kann, auch wenn man weiß, dass damit Agilität in weite Ferne rückt. Stattdessen werden viele kleine, wenig sinnvolle Maßnahmen eingeführt, in der Hoffnung, dass in der Summe der Effekt eintritt. Dies ist lineares Denken für nicht-lineare komplexe Prozesse. Damit verbunden ist die zentrale Erkenntnis, dass es keinen Sinn macht einen Kontrollparameter eines Bereiches (hier der Bereich Energie und Mobilität) niedriger als gefordert anzusetzen, weil man Angst vor den Konsequenzen in einem anderen Bereich (hier dem der sozialen Sicherheit oder Arbeit) hat: Das Klima weiss nichts von den Problemen im Bereich Arbeit; es wartet nicht, es geschieht einfach…
Selbstorganisation in komplexen Systemen findet immer statt.
Hierbei ist es gleichgültig, ob man die Systemparameter bewusst einstellt oder
sich diese durch den Kontext wie von alleine ergeben. – Auch eine Diktatur
führt zu einer Selbstorganisation, die jedoch sehr wenige Freiheitsgrade hat
und damit keine entsprechende innovative soziale Entwicklung ermöglicht.
Das Auffinden von Systemparametern (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparametern), die dem System Freiheiten für neue Strukturen geben, ist, wie man aus der Wissenschaft weiß, kein leichtes Unterfangen: Es gibt evtl. nicht nur viele Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Systemvariablen, die einen beim „Design“ der Systemparameter verwirren, sondern es sind nur wenige, ganz bestimmte Parameter, die es zu finden gilt: Zur Zeit tobt die Diskussion „CO2-Zertifikate versus CO2-Bepreisung“. Diese Diskussion wird noch vernebelt durch viele weitere Detail-Maßnahmen, wie z.B. die Vorgabe einer e-Auto Mindestanzahl für die Automobilindustrie, die Diskussion zum SUV, die Erhöhung der Pendlerpauschale, usw. Die Experten sind sich einig, dass die CO2-Bepreisung die effektivste Form für die Reduktion des CO2 Ausstoßes ist (siehe u.a. [3]). Auch nach meinen jetzigen Erkenntnissen ist die richtige CO2 Bepreisung der beste Kontrollparameter, vielleicht auch der einzige. – Die vielen weiteren Maßnahmen schaden vermutlich nicht, sie nutzen aber auch nicht (viel) für die Verhinderung des Klimakollapses.
Jedoch… sie lassen die Bevölkerung und die Politiker im
Glauben, dass ein Nutzen damit verbunden ist, und dies ist die wirklich
gefährliche mentale Verzerrung.
Anlässlich einer Diskussion in der Sendung „Anne Will“ [4] zwischen dem Verkehrsminister und einer Greenpeace Aktivistin kann man diese Verzerrung leicht nachvollziehen: Der Verkehrsminister fragte die Aktivistin, ob sie es denn nicht gut fände, dass Porsche ein e-Auto Werk baut, das 1500 Menschen Arbeit gibt. Die Aktivistin sagte hierauf lediglich, dass dies das falsche Signal sei, ohne zu erklären, was sie damit meint.
Stattdessen hätte sie sagen können, dass mit dem Lob „Porsche, super gemacht“ durch die Politik, die gesellschaftlichen Werte unterstützt werden, die ganz wesentlich zum Klimakollaps beitragen (man sie hierzu meinen Blog vom August 2019: Selbstorganisation Straßenverkehr – Der Straßenverkehr ein Spiegelbild unserer Gesellschaft?!). Vielmehr wäre es wichtig, dass die Politik neue Werte in den Diskurs einführt, damit sich diese mit der Zeit als soziale Kontrollparameter etablieren können. – Dies heißt auch, dass die Maßnahme von Porsche nicht verteufelt wird, aber in ihrer Bedeutung stark relativiert wird. Wie oben schon gesagt, ist es notwendig, den Wandel so zu gestalten, dass den Rechtspopulisten kein Kontrollparameter „fehlende soziale Sicherheit“ in die Hand gegeben wird.
Abbildung 1 zeigt einen möglichen, sehr groben Vorschlag für die Ausgestaltung der Deutschland-Systemparameter. Dem obersten Ordnungsparameter (Leben im Einklang mit und im Respekt für die Natur, Würdevolles Leben für Jeden) kommt hierbei die zentrale Rolle für den Wandel in der Gesellschaft zu. Dieser ist in einem „Kasten“, der andeuten soll, dass dieser Ordnungsparameter „immer“ als „Großes Bild“ visualisiert wird, um ihn für die gesamte Bevölkerung sichtbar zu machen. Die Kontrollparameter in Form von Werten (und weniger Regeln oder Verboten) helfen im täglichen Handeln bei der Umsetzung des „Großen Bildes“. Und natürlich dienen diese übergeordneten Systemparameter als „Rahmenparameter“ für die Ausgestaltung der Systemparameter in den jeweiligen Bereichen Nahrung, Arbeit, Gesundheit, Energie, Mobilität, lokaler und globaler Umweltschutz, Migration und Digitalisierung. – Es entsteht also eine Hierarchie an vertikal wie horizontal abgestimmten Systemparametern. Die CO2-Bepreisung haben wir ja schon als Kontrollparameter kennengelernt; sie dient für die Bereich Mobilität und Energie als Kontrollparameter. Natürlich, wie oben geschildert, kann diese nur dann ihre Wirkung entfalten, wenn ein geeigneter Wert eingestellt wird und ggf. immer wieder adjustiert wird. Die Ausgestaltung der bereichsspezifischen Ordnungsparameter erfolgt auf der Basis des obersten Ordnungsparameters als Leitplanke: Für den Bereich Nahrung könnte dies zum Beispiel heißen: „Qualität vor Quantität: Die Nahrungsmittelproduktion unterliegt nicht dem Diktat des Marktes. Es gilt der Respekt vor uns Menschen, den Tieren und den Pflanzen. Der Respekt vor Tieren und Pflanzen sichert über die Nahrungskette auch ganz wesentlich unsere Gesundheit.“ Dies hat dann nahezu automatisch zur Konsequenz, dass es keine prophylaktische flächendeckende Behandlung der Tiere mittels Antibiotika mehr gibt, dass die Tiere nicht wie Ware behandelt werden, die es tod- oder lebendig zu exportieren gilt, usw… Für den Bereich Lokaler und Globaler Umweltschutz könnte dies heißen: „Das, was wir an Müll erzeugen beseitigen/recyclen wir im eigenen Land. Wir erzeugen weder direkt noch indirekt in anderen Ländern Müll.“
Abbildung 1: Politik 4.0: Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter auf Deutschland-Ebene
Politik 4.0 weiß also einerseits um die komplexen Zusammenhänge der verschiedenen sozialen-natürlichen-technischen Bereich, orientiert sich – wie oben geschildert- an einer Systemparameterhierarchie, stimmt diese vertikal wie horizontal ab, und berücksichtigt hierbei, dass Steuerungsmechanismen (Kontrollparameter) nicht politischen Interessen geopfert werden dürfen, denn sie sind, wie am Beispiel Klima (Mobilität und Energie) skizziert, nicht verhandelbar.
Politik 4.0 strebt nach einer hohen öffentlichen Transparenz der Systemparameter. – Hierzu sind wahrscheinlich neue Mechanismen der integrierten Kommunikation notwendig. – Den öffentlich-rechtlichen Medien kommt hier sicherlich eine besondere weitere Bedeutung zu.
Politik 4.0 etabliert transparente PDCA-Zyklen (Plan-Do-Check-Adapt-Zyklen): Denn öffentliches Erfolgsmonitoring ist von enormer Bedeutung für die Transformation der Gesellschaft.
[1] Oswald A, Müller (Hrsg.) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3, BoD Verlag, Noderstedt
Am 13.08.2019 brachte das WDR Fernsehen in der Reihe „Quarks“ den Beitrag: Wem gehört die Straße? Aggressionen im Verkehr [1].
Hiernach hat
sich die Anzahl der PKW’s in der BRD seit den 50er Jahren mehr als
verfünfzigfacht. Seit den 1970er Jahren verdreifacht. Reiht man alle Autos
aneinander, so ergibt sich heute eine Parklänge die ca. 7mal die Erde umrundet.
Wir haben ca. 2000 Staus/Tag, 400 Unfälle/Tag durch aggressives Fahren,
insgesamt 7223 Unfälle/Tag sowie 9 Tote/Tag [2]. 70% der Autobahnkilometer sind
ohne Tempolimit.- Wir sind das einzige europäische Land ohne Tempolimit. – Die
bisher unberücksichtigten Folgekosten des Verkehrs betragen ca. 150
Milliarden/Jahr [3]
In den Innenstädten
hat sich der für den Verkehr zur Verfügung stehende Raum nicht wesentlich
geändert. – Es konkurrieren immer mehr Autos mit Fußgängern, Radfahrern und
neuerdings auch E-Scootern. D.H. auch, dass wir einen erheblichen
Ressourenkonflikt haben. Außerhalb der Innenstädte wird nach wie vor immer mehr
Fläche u.a. von unserem Straßenverkehr „gefressen“.
Berücksichtigen wir, dass neben dem Flächenfrass [4], die Luftverschmutzung und die Verschmutzung durch Lärm über die letzten Jahrzehnte erheblich zugenommen haben, so wird offensichtlich, dass der Straßenverkehr eines der großen Probleme unserer Zeit darstellt. – Das Problem grundsätzlich anzugehen, hat die Politik bisher versäumt. – Ich fühle mich unwillkürlich an das amerikanische Beharrungsvermögen bezüglich der amerikanischen Waffengesetze erinnert.
Gleichzeitig nimmt der Zeitdruck durch Privatleben und Beruf immer mehr zu und entlädt sich durch die bestehenden Rahmenparameter unseres Straßenverkehrs (geringer werdender Verkehrsraum in den Städten, Erlaubnis zu hoher Geschwindigkeit,…) in einer höheren Aggressivität. Selbst das Design der Autos ist über die Jahre aggressiver und dominanter geworden. Im WDR Beitrag wird als Beispiel die Veränderung des VW Golf Designs angeführt. Betrachtet man die Ausmaße und das Design der beliebten großmotorigen SUV’s von Mercedes, BMW und Audi, so könnte man vermuten, dass es geradezu eine Explosion von Dominanz, „Sportlichkeit“ und Aggressivität im Autodesign gibt. – Von einer Explosion des ökologischen Fußabdruckes ganz zu schweigen.
Begonnen hat Alles in den Zeiten des Deutschen Wirtschaftswunders. – Die Straßen wurden damals so angelegt, dass die damals noch wenigen Autos ungehindert fahren konnten und sich ein „ungestörter“ Verkehrsfluss einstellen konnte. Das Wirtschaftswunder hatte als oberstes Ziel – also als einen der obersten gesellschaftlichen Ordnungsparameter der Selbstorganisation [siehe Anmerkung unten] – ökonomisches Wachstum ausgebildet. – Dieses oberste Ziel wurde durch die zunehmende Ausbildung der Werte Erfolg, Status, Spaß, Freiheit und Autonomiemöglich gemacht. Im Straßenverkehr wurde der gesellschaftliche Ordnungsparameter durch Ordnungsparameter wie „Freie Fahrt dem Tüchtigen!“ oder „Freie Fahrt dem freien Bürger!“ umgesetzt. Dies mündete in eine entsprechende Ausgestaltung des Flächenfrasses, die Geschwindigkeitseuphorie, die Vernachlässigung des Schienenverkehrs, die Markt-Dominanz der Autoindustrie, usw.. Slogans wie „Das Beste oder nichts!“, „Freude am Fahren!“ oder „Vorsprung durch Technik“ sind von der Autoindustrie entsprechend adaptierte Ordnungsparameter der gesellschaftlichen und verkehrspolitischen Ordnungsparameter. – Mit den Jahren hat sich eine heute sehr stabile Ordnungsparameter-Hierarchie ausgebildet, untermauert von den sie stützenden Wertvorstellungen (Erfolg, Status, Spass, Freiheit und Autonomie).
Heute können wir jeden Tag erfahren, dass unser Straßenverkehr jeden Tag viele Kollapse hat und dass die Autos einen verschwenderischen ökologischen Fußabdruck von der Herstellung bis zur Verschrottung erzeugen. – Trotzdem ergeht sich die Politik in törichten Maßnahmen. – Ich glaube zwar, dass wir alle unseren Beitrag jeden Tag leisten sollten. – Jedoch ist es die Aufgabe der Politiker, ihrer gesellschaftlichen Führungsaufgabe gerecht zu werden. Dietrich Dörner, der sich seit Jahrzehnten als Wissenschaftler mit dem Denken in komplexen Situationen und Kontexten beschäftigt, schreibt kürzlich hierzu [5]:
„Welcher Berufsstand gefährdet Gesundheit und Leben der Menschen am meisten? Ist der Soldat am gefährlichsten? Nein, nicht der Soldat, auch nicht der Mafiosi (wenn man denn die Mafia als einen Berufsstand akzeptieren möchte). Auch nicht der Arzt, wie manche Leute meinen. – Wer dann? Nun, die größte Gefahr für Leib und Leben seiner Mitmenschen geht vom Politiker aus. …. …Fehler, die in der Politik gemacht werden, (sind) nicht einfach Fehler, sondern törichte Fehler.“
Auch Politiker sind „Kinder ihrer Zeit“! Falls sie keine Metakompetenz entwickelt haben – was man nach den in den Medien berichteten Gedanken und Aktion wohl überwiegend annehmen darf – dann machen sie einen törichten Fehler nach dem anderen [5]. Törichte Fehler (der Politiker) sind gekennzeichnet durch:
Die Politiker nehmen nicht wahr, dass sich unser Kontext seit den 70er Jahren dramatisch verändert hat (Wahrnehmungsabwehr und -verzerrung).
Ihr persönlicher politischer Ordnungsparameter „An der Macht bleiben“ hindert sie daran, in komplexen Zusammenhängen zu denken und zu handeln (Vereinfachungen bringen Wählerstimmen, das Phänomen des Populismus ist keine neues Phänomen, das man nur der AfD zuschreiben kann, Wahrnehmungsverzerrung, Realitätsleugnung und Vereinfachung gehören zum „Handwerkszeug“ jedes Politikers). – Zur Diskussion persönlicher Ordnungsparameter, siehe den Artikel „Interaction Patterns for the Digital Transformation in [6].
Sie zeigen Aktionismus, denn wer agiert ist präsent (siehe die „beScheuert“ wirkenden Gedanken und Aktionen unseres Verkehrsministers).
Und sie wenden sehr oft immer die gleichen einfachen, in der Vergangenheit erworbenen Methoden und Regeln an (Methodismus) (u.a. z.B. Arbeitsplätze haben Vorrang, das Auto ist des deutschen liebstes Kind, also nicht angreifen, …)
Was könnte man
tun? Dietrich Dörner sieht eine entscheidende Maßnahme: Ausbildung der
Politiker in komplexem Denken. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn
wer sollte so etwas in die Wege leiten, wenn nicht die Politiker selbst. …Ich
ergänze dies um die aktive politische Auseinandersetzung mit den Parametern der
Selbstorganisation:
Transparente und bewusste Diskussion zu unseren Kontrollparametern: Dies bedeutet insbesondere eine Diskussion zu den Werten Erfolg, Status, Spaß, Freiheit und Autonomie und den daraus abgeleiteten Konsequenzen: Ist es sinnvoll, neben Autos weitere Verkehrsteilnehmer mit evtl. noch mehr Energieverbrauch einzuführen. Oder ist es notwendig Autos nicht mehr in erster Linie mit Erfolg, Spaß, Autonomie und Status zu verbinden, sondern eher mit Umweltverschmutzung und unbezahlten Rechnungen auf die Zukunft. Ist es evtl. sinnvoll, den Kontrollparameter „Anzahl an Autos“ zu limitieren, ähnlich wie den WIP im Agilen Management.
Transparente und bewusste Diskussion zu unseren Ordnungsparametern: Ist es sinnvoll, uns an einem quantitativen Wachstum auszurichten, sei es in der Landwirtschaft, der Nahrungsmittelindustrie, der Pharmaindustrie, der Autoindustrie, usw. Oder ist es notwendig und sinnvoll z.B. die Landwirtschaft und Nahrungsherstellung nicht dem Diktat des globalen Wachstums und Handelns zu unterwerfen? Ist es also notwendig und sinnvoll, neue Ordnungsparameter zu kreieren, die qualitatives Wachstum hervorheben?
Wir haben es mit komplexen Zusammenhängen zu tun haben. – Und für die Gestaltung dieser komplexen Zusammenhänge benötigen wir die Fähigkeit zu komplexem Denken, das auf systemischem Verständnis beruht und agiles politisches Handeln ermöglich. – Also möglichst wenige törichte Fehler macht! – Dies kommt einer radikalen Trendwende im Kompetenzprofil der Politik aber auch auch der Gesellschaft gleich!
[Anmerkung]: Der Straßenverkehr wird oft als Beispiel für Selbstorganisation herangezogen: Gemeint ist die Selbstorganisation, die sich auf dem Straßennetz über die Autos einstellt: Der ungehinderte Verkehrsfluss entspricht dem sich selbst einstellenden Ordnungsparameter. Leider bildet sich dieser heute nur noch sehr selten aus. Es entstehen Staus, auch eine Form von „negativer“ Ordnung. Man könnte auch sagen, „das Ganze ist weniger als die Summe seiner Teile“. Ein Kontrollparameter wäre die bewusste Regulierung/Reduzierung von Verkehrsteilnehmern entsprechend der Verkehrssituation. – Dies geschieht in der Praxis nur sehr selten. – Anlässlich der Ölkrise in den 70er Jahren hat man so etwas zum letzten Mal flächendeckend gemacht. Rahmenparameter haben wir sehr viele: Die vielen Verkehrsregeln und ihre Umsetzung durch Verkehrszeichen, das Verkehrsnetz, die vielen Baustellen sowie der zunehmend geringere Verkehrsraum pro Verkehrsteilnehmer in den Innenstädten. In diesem Blog Beitrag diskutiere ich diese „nachgelagerte“ Selbstorganisation nicht, sondern eine Facette der gesellschaftlichen Selbstorganisation, die dieser Selbstorganisation „vorausgeht“. – Der Straßenverkehr ist also ein selbstorganisiertes Teilsystem einer Hierarchie von selbstorganisierten (Teil-) Systemen.
Unlängst hat der Soziologe Dirk Baecker ein Buch herausgebracht, das den Titel trägt „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“ [1].
4.0 – Grund genug, eventuelle Gemeinsamkeiten und
Verbindungen zwischen Soziologie 4.0 und Management 4.0 [3] aufzuspüren. Ich betrachte
hierzu neben [1] eine ältere Veröffentlichung [2], die wichtige Ergänzungen zum
soziologischen Verständnis des Begriffes „System“ enthält.
Die Sprache in [1] und [2] ist keineswegs einfach, aus meiner Sicht nicht selten kryptisch (d.h. u.a., dass Begriffe nicht klar definiert sind oder deren Verwendungen (mir) nicht nachvollziehbar erscheinen oder, dass Sätze Negationen von Negationen von …enthalten). Ich nehme in beiden Werken drei Sprachebenen wahr: Die Sprache, die den Bezug zur Alltagswelt herstellt, die Sprache eines Soziologen Luhmann’scher Prägung und eine Sprache, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse wiedergibt oder verarbeitet. Bemerkenswert ist, dass immer wieder ein Thema in allen drei Ebenen ausgedrückt wird und die Suche nach der „Einheit“ von Natur, Technik und Gesellschaft überall durchschimmert.
In [1] analysiert Baecker die Entwicklungsstufen (1.0 bis 4.0) der Gesellschaft von der tribalen Gesellschaft (1.0 „Erfindung“ der Sprache), der antiken Gesellschaft (2.0 „Erfindung“ der Schrift), der modernen Gesellschaft (3.0 „Erfindung“ des Buchdrucks) zur nächsten (post-modernen) Gesellschaft (4.0 „Erfindung“ der elektronischen Medien). Um diese Gesellschaftsformen zu beschreiben, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten verwendet er 26 Themen (dies sind u.a. Überschusssinn, Strukturform, Kulturform, …., Witz). – Ich gehe nicht auf diese 26 Themen ein, sondern vielmehr auf dahinterliegende Grundaussagen. – Die „Übersetzung“ dieser Themen in eine operationalsierbare und damit in der Praxis testbare Theorie sprengt bei weitem den Rahmen eines Blogbeitrages.
Die zeitliche und inhaltliche Zuordnung der Nummerierung 1.0
bis 4.0 entspricht nicht derjenigen der im Management 4.0 verwendeten [6]. – Mit
der Kennzeichnung 4.0, beziehen sich jedoch beide auf die nächste, sich gerade
entwickelnde Gesellschaftsform. Management 4.0 und Soziologie 4.0 enthalten sehr
viele gemeinsame Aussagen und stimmen in ihren Prinzipien (meines Erachtens)
überein.
Um dies zu zeigen, habe ich im Folgenden eine Reihe von Aussagen aus [1] und [2] herausgegriffen und damit eine Perspektive eingenommen, die sicherlich nicht vollständig ist, jedoch vielleicht einige wesentliche Aspekte der Soziologie 4.0 einfängt und die Verbindung zum Management 4.0 aufzeigt.- Meine Kommentare zu den Soziologie 4.0 Aussagen füge ich in kursiv hinzu:
„4.0 steht für die Gesellschaft elektronischer Medien und
nicht nur für die elektronischen Medien.“ [1, S. 30]
Hier taucht schon eine Sicht auf, die
Medien/Digitalisierung und Gesellschaft als „Einheit“ betrachtet und nicht als
etwas „Getrenntes“. Eine grundlegende Aussage, um die nächste, jetzt anstehende
Gesellschaft (ich verwende der Einfachheit wegen im Folgenden den Begriff post-moderne
Gesellschaft) zu verstehen.
„Eine Soziologie 4.0 ist eine Soziologie, die Trajektorien
im Netzwerk folgt und ein intensives Interesse daran entwickelt, wie Elemente
heterogener Art, vermittelt über Schnittstellen digitaler und analoger Art,
unwahrscheinliche Muster, Geschichten und Modelle bildet, an denen sich
Operationen orientieren, die im nächsten Moment zu Operanden werden.“ [1,
S.58].
Trajektorie heißt ein gesellschaftlicher, historischer,
wirtschaftlicher, ökologischer oder technologischer Entwicklungsverlauf [4],
und ist ein Begriff der in Natur-, Technik- und Sozialwissenschaften sehr
ähnlich verwendet wird. Er beschreibt den Entwicklungspfad von Systemen. Das
System der post-modernen Gesellschaft wird als heterogenes Netzwerk verstanden,
das Komplexität ausprägt (Muster, Geschichten und Modelle). Prozesse
(Operationen) wirken in diesem komplexen Netzwerk und werden in „höheren“
Prozessen weiterverarbeitet. – Dies deutet auf eine selbstreferentielle Entwicklung
zu „höheren“ Stufen hin. Der Begriff „emergente Phänomene“ taucht hier zwar
nicht auf, im Management 4.0 verbinden wir jedoch diese selbstreferentielle
Entwicklung mit Emergenz.
„Die sogenannte digitale Transformation (der Gesellschaft)
ist rekursiv und nicht-trivial. Sie verändert die Voraussetzungen, unter denen
sie stattfindet, und damit auch die Ziele, die sie verfolgt.“ [1, S. 61]
Dieser Satz führt die vorherige Aussage fort: Prozesse,
Regeln oder Strukturen der Transformation erbringen ein Transformationsprodukt,
das wieder Prozessen, Regeln und Strukturen ausgesetzt wird. Hierbei können
sich die Prozesse, Regeln und Strukturen, die das Produkt hervorrufen, schon
wieder verändert haben. In diesem Sinne liegt keine „ideale“ Rekursion vor. Im
Management 4.0 verwenden wir deshalb den Begriff der Selbstreferenzialität
(auch wenn wir wissen, dass das Selbst sich durch den Selbstbezug ändern wird).
Komplexität und Selbstreferenzialität sind im Management 4.0 die Basis von
Selbstorganisation und damit von emergenten Strukturen.
„Der gemeinsame Nenner von Wissenschaft, Natur und
Gesellschaft ist die Eigenschaft der rekursiven Komplexität.“ [1, S.137] „Rekursivität
ist die Voraussetzung jeder kontextuellen Berechnung, die die eigenen Ansätze
überprüft, indem sie sie im Material überprüft.“ [1, S. 138]
Hier wird mit dem Begriff der rekursiven Komplexität, der Natur, der Technik und der Gesellschaft ein gemeinsamer Nenner gegeben. – Mir ist allerdings nicht bekannt, dass es Komplexität ohne Rekursion gibt. – Der Begriff ist aus meiner Sicht ein Pleonasmus (weißer Schimmel): Komplexität beruht immer auf Feedback, also u.a. auf Rekursion. Im Management 4.0 gehen wir von der Grundannahme aus, dass die grundlegenden Prinzipien in Natur, Technik und Gesellschaft gleich sind. Die kontextuelle Berechnung unter Einbeziehung von Selbstreferenzialität („rekursiver“ Komplexität) führt im Kontext von Personen oder sozialen Systeme zur Selbstreflexion. Sie ist eine zentrale Basis des Agilen Managements.
„Als Einmalerfindungen liegt die Gesellschaft auf derselben
Ebene wie das Leben, das Gehirn, das Bewusstsein, vielleicht auch die Welt. Es
gibt sie, man kann sie beobachten und beschreiben, aber man kann sie nicht
erklären. Sie verdanken sich Symmetriebrüchen, wie man in der Physik
formuliert.“ [1 S. 143]
Hier wird Emergenz in seiner höchsten Form beschrieben. Diese
wird im Zusammenhang mit Symmetriebrüchen genannt. Nicht „Alles“ auf der
jeweiligen Stufe bleibt „symmetrisch“ vorhanden, sondern es wird eine Selektion
vorgenommen, also die Symmetrie im „Alles“ wird gebrochen. Dies führt zur
nächsten Entwicklungsstufe. Ein Symmetriebruch ist eine zentrale Voraussetzung
für die Ausbildung von Selbstorganisation (Prinzip 7) [5]
„Die soziologische Systemtheorie im Stile Luhmanns ist der
theoretische und nicht entschiedene Versuch, die Teleologie und die Teleonomie
miteinander zu verbinden, das heißt gesellschaftliche Institutionen als Einrichtungen
zu untersuchen, die sich teleonomisch ihr Gesetz selbst geben, um teleologisch
eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen.“ [1 S. 144] (Teleologisch ist
Phänomenen ein bestimmter Logos verordnet, teleonomisch geben sie sich ihre
Gesetze selbst. [1 S. 144])
Die soziologische Systemtheorie kann den „Unterschied“ zwischen teleonomisch und teleologisch nicht auflösen, da diese Form der Systemtheorie nur die Makroebene und nicht die Mikroebene kennt [5]. Über die Verbindung dieser beiden Ebenen lässt sich dieser Widerspruch (meines Erachtens) auflösen. In der sozialwissenschaftlichen Veröffentlichung vonStadelbacher und Böhle [6] wird die teleonomische Ausrichtung im Kontext der Selbstorganisation als autonome Selbstorganisation bezeichnet, eine von der Organisation selbstgeleistete, selbstbestimmte absichtliche Selbstorganisation. Die telelogische Ausrichtung wird als autogene Selbstorganisation, eine von der Organisation, in der Organisation nicht absichtlich herbeigeführte Selbstorganisation bezeichnet. Die Theorie der Selbstorganisation (u.a. die Synergetik) löst den „Widerspruch Teleologie-Teleonomie“ auf. Die Theorie der Selbstorganisation macht keinen Unterschied, ob die Systemparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) absichtlich oder unabsichtlich gerade so sind, dass emergente Makrostrukturen entstehen. – Ich betrachte diesen „Widerspruch“ als Anzeichen der Reife einer wissenschaftlichen Disziplin: Die Thermodynamik war über viele Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, eine phänomenologische Theorie der Makrostruktur von (makroskopischen) Objekten. Ludwig Boltzmann war im 19ten Jahrhundert derjenige, der auch die Mikroebenen-Sicht vertrat und diese mit der Makroebene zusammenbrachte. Er wurde Zeit seines Lebens hierfür angefeindet, so dass er sich wahrscheinlich deshalb das Leben nahm. Erst Einstein und die Quantenmechanik trug zur Auflösung dieser vermeintlichen „Widersprüche“ bei.
„Genügt dem Individuum in der modernen Gesellschaft
fachliche und soziale Kompetenzen sowie die Fähigkeit, zwischen Ihnen zu
wechseln, so benötigt es jetzt zusätzlich die Kompetenz der Selbstselektion.“
[1 S. 158]
Die Kompetenz der Selbstselektion bezeichnet im
Management 4.0 die Metakompetenz: Dies ist die Fähigkeit, sein Verhalten über
die höheren Ebenen der sogenannten Dilts-Pyramide (Vision, Mission,
Zugehörigkeit, Identität, Werte und Grundannahmen) dem Kontext entsprechend
selbst zu selektieren und entsprechend zu handeln [5], [3]. Diese
Selbstselektion ist die zentrale Fähigkeit, um in komplexen Umfeldern
Komplexität zu regulieren und Unsicherheit zu meistern.
„Man liebt sich, weil man ist, wer man ist, und keine Rolle
spielt, wer man ist. Liebe ist die andere Seite aller Verbreitungsmedien, die
eingeschlossene ausgeschlossene Wahrnehmung im Kontext des Ausschlusses der
eingeschlossenen Kommunikation.“ [1 S. 167]
Der erste Satz stellt wohl ein Beispiel für einen
allgemein verständlichen Satz dar, der im zweiten Satz abstrahiert wird. – Man
kann dies mit etwas Mühe nachvollziehen, jedoch erschließt sich (mir) der
Mehrwert der Abstraktion nicht wirklich.
Werte wie Liebe werden in der Soziologie 4.0 als Verbreitungsmedien angesehen.
– Werte sind also Medien, in denen sich Kommunikation verbreitet. Mit dem
Agilen Manifest wurde explizit der Übergang zu einer wertorientierten
Kommunikation eingeleitet. Die Gestaltung der Kommunikation über eine bewusste
und transparente Persönlichkeitsorientierung ist eine Basis des Management 4.0.
– Die Persönlichkeitsorientierung schließt nicht nur die Werteorientierung,
sondern alle eine Persönlichkeit ausmachenden Charakteristika mit ein. – Die
Quellen der Werte einer Gesellschaft sind also Menschen. Wir modellieren eine
Persönlichkeit mit der sogenannten Dilts Pyramide [3], [5]. Deshalb werden die
logischen Ebenen der Dilts Pyramide (Zugehörigkeit, Identität, Werte und
Grundannahmen) mit der Theorie der Grundbedürfnisse (Grawe Neuropsychiatrie), dem
Kultur- und Bewusstseinsmodell Spiral Dynamics, dem Modell des Schnellen und
Langsamen Denkens nach Kahneman und Tversky, dem Reiss Motive Profil sowie dem
MBTI Temperamentprofil ausgestaltet. Man kann das resultierende Feld der
Interaktion der Persönlichkeiten als ein Verbereitungsmedium oder ggf. als
mehrere Verbreitungsmedien mit unterschiedlichen Charakteristika ansehen.
„Die nächste Organisation ist entweder Plattform oder agil.
Sie ist entweder, wie oben bereits zitiert, Schnittstelle und Nutzer, System
und Programm, Bühne und Regelwerk, Standard und Abweichung, Zentrum und
Peripherie zugleich, oder Projekt in jenem Sinne der Philosophie eines agilen
Managements, die zugleich auf einen hohen Grad der Vertaktung von Organisation
und der Schaffung von Spiel- und Freiräumen setzt.“ [1, S. 173]
Dies entspricht vollständig dem Management 4.0 Ansatz. Für
die umfangreiche Ausgestaltung dieses Satzes im Sinne des Management 4.0
verweise ich auf Release 3 des Management 4.0 Handbuches [6].
„Im agilen Management ist das Projekt eine Art
internalisierte und strikt temporalisierte Plattform.“ [1 S. 176]
Dies entspricht vollständig dem Management 4.0 Ansatz. Die
Gestaltung von Raum und Zeit als Ausgestaltung des Rahmenparameters (Abschottung,
time boxing und PDCA-Zyklus) spielt für die Regulation von Komplexität u.a.
durch Selbstorganisation eine sehr große Rolle [6].
„Technische Objekte sind mitten unter uns. Und mehr Objekte
sind technisch, als es sich die Moderne mit ihrer Unterscheidung von Technik,
Natur und Gesellschaft träumen ließ. Im Grunde ist jedes Objekt, vom Faustkeil
über das Fell, den Stuhl und das Fahrrad bis zum Phasenprüfer und Smartphone
ein technisches Objekt der Herstellung von Einfachheit an der Schnittstelle von
Black Boxes, hinreichend komplexen Einheiten.“ [1 S. 185]
Dies entspricht einem der wichtigsten Glaubenssätze des Management 4.0: Hiernach löst sich der Glaubenssatz der willkürlichen Unterscheidungen von Natur, Technik und Gesellschaft in der post-modernen Gesellschaft auf, er wird obsolet und schließlich abgeschafft. Die post-moderne Gesellschaft ist für das Management 4.0 eine Gesellschaft in der gemäß der Spiral Dynamics Codierung die value meme gelb (vernetzt) und türkis (holistisch) ihre Wirkung entfalten.
„Die Abstraktion ist eine Vorstellung, die sich von der
Anschauung unabhängig macht, um in sie zurückzukehren. Sie ist nicht der
Sündenfall eines Verrats an der Lebenswelt, sondern ein Medium der Erkundung
dieser Lebenswelt.“ [1, S. 239]
Dies entspricht einem der wichtigsten Glaubenssätze des
Management 4.0: Ohne die Abstraktion ist keine Metakompetenz und damit keine
Selbstselektion möglich. Ein selbstbestimmtes Leben in einer komplexen Welt der
Netzwerke wäre damit verwehrt. Ich verweise auch auf meinen Blog-Beitrag „Vom
Unterschied, der den Unterschied macht: „Principles rather than processes are
what matter.”“ vom Juni 2019.
„Architektur und Kleidung, Praktiken und Routinen, kognitive
Schemata und institutionalisierte Selbstverständlichkeit. Sobald sie als das
Produkt eines Designs auftreten, absorbieren sie Ungewissheit, weil sie sich
verdächtigen und somit testen lassen.“ [1, S. 258]
Dies entspricht einem der wichtigsten Glaubenssätze des
Management 4.0: „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.“ Eine gute
Theorie liefert die Grundlage für ein bewusstes Design und reguliert damit
Komplexität, um Ungewissheit zu absorbieren. In [5] haben wir einen
verallgemeinerten PDCA Prozess eingeführt, um Hypothesen auszutesten und das
Design iterativ und bewusst zu gestalten.
Zusammenfassend stelle ich bisher fest, dass die Soziologie 4.0 und das Management 4.0 sehr viele Gemeinsamkeiten und Verbindungen besitzen und die Kennzeichnung über die 4.0 dies auch zum Ausdruck bringt.
Die Veröffentlichung zum Systembegriff [2] ist aus dem Jahre
2010. Sie enthält einige der Grundlagen, die in der Soziologie 4.0 zum Tragen
kommen. Ich verwende die gleiche Vorgehensweise wie oben, um [2] in seinen
Aussagen zu skizzieren:
…nach dem Tod der beiden größten Mathematiker, die sich mit
der Kybernetik beschäftigt haben, John von Neumann und Norbert Wiener, [waren] drei
Probleme der Kybernetik ungelöst liegen geblieben: das Problem unzureichender
statistischer Datenreihen, um neben technischen auch soziale Probleme mit den
Mitteln der Kybernetik lösen zu können; das Problem der Kopplung nichtlinearer
Oszillatoren; und das Problem kontinuierlich nichtlinearer Vorhersage.
Die o.g. drei Probleme wird man heute wohl nicht mehr
allein der Kybernetik, sondern eher der breiter aufgestellten Komplexitätsforschung
(inkl. Theorie der Selbstorganisation, Chaostheorie, Synchronisationstheorie) zuordnen.
Das Problem unzureichender statistischer Datenreihen, um soziale Probleme
quantitativ anzugehen, ist sicherlich immer noch vorhanden, jedoch befindet es
sich mit dem Thema von Big Data (und KI) in der Auflösung.- Hierzu gibt es
zahlreiche Beispiele, man siehe u.a. [7], [8]. Die Kopplung nichtlinearer
Oszillatoren ist ein aktuelles Forschungsgebiet, das u.a. über die durch
Synchronisation induzierte Selbstorganisation von gekoppelten Systemen und
komplexen Netzwerken enorme Fortschritte gemacht hat [9]. Der verwendete
Begriff „kontinuierlich nichtlineare Vorhersage“ entzieht sich so meinem
Verständnis. Ich interpretieren ihn so, dass damit die zukünftige Vorhersage in
nichtlinearen Systemen auf der Basis eines beliebigen Ausgangszustandes gemeint
ist. Auch hier wurden erhebliche Fortschritte gemacht [9], wenngleich jedes
komplexe oder chaotische Systeme Unvorhersehbarkeit in sich trägt und damit dieses
Problem wahrscheinlich nie ganz gelöst wird.
Dabei interessierte ihn [John von Neumann] in Diskussionen
mit Heinz von Foerster laut McCulloch insbesondere die Frage eines
Verständnisses der Selbstorganisation von Sternen, Kristallen und Organismen
auf der Grundlage eines Systembegriffs, der von informationaler Geschlossenheit
(bei energetischer Offenheit, das versteht sich von selbst) ausgeht.
Ich kenne kein System, das energetische Offenheit und
informationale Geschlossenheit hat. Energetische oder materielle Offenheit
führt auch immer informationale Offenheit mit sich. – Energie/Materie
transportiert Information. Die Aufnahme oder Abgabe von Information ist
wesentlich, damit sich Systeme an die Umgebung anpassen können.- Natürlich darf
die Offenheit nur so groß sein, dass sich das System selbst erhalten kann.
Aus der Frage, welche statistischen Zeitreihen komplexe
Phänomene beschreiben, wird die Frage, wie Systeme zählen und rechnen. Die
Frage nach der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren wird übersetzt in die Frage
der symmetrischen Tauschfähigkeit unter den Werten, die die Zustände eines
Systems beschreiben. Und aus der Frage nach der kontinuierlich nichtlinearen
Vorhersage wird die Frage nach einer funktionalen Beobachtung, die in der Lage
ist, die Zustände eines Systems asymmetrisch zu ordnen und diese Ordnung nach
Bedarf auch wieder aufzulösen. Tausch und Ordnung laufen über eine Befähigung
des Systems zur Negation, die möglicherweise an dieselbe Erfahrung der
Inkommensurabilität und unreduzierbaren Komplexität der Komponenten des Systems
rückgekoppelt ist, die auch das Zählen ermöglicht, wenn nicht sogar erzwingt.
Die nachfolgende Tabelle listet diese zentralen Fragen, ordnet
diesen dann die abgeleiteten Fragen der sozialen Systemtheorie zu und skizziert
entsprechende Fragen des Management 4.0:
Zentrale
Fragen der Kybernetik
Abgeleitete
Fragen der sozialen Systemtheorie
Fragen im
Management 4.0
Unzureichende
statistische Zeitreihen oder das Beschreiben statistischer Zeitreihen
Wie zählen
und rechnen Systeme? Die Wahl der Verben „zählen und rechnen“
erschließt sich mir nur bedingt. Es geht um Wechselwirkung und damit
verbundene charakteristische Größen. In der Mathematik werden
Wechselwirkungen durch Operationen abgebildet. Zählen und Rechnen sind
sicherlich eine Form von Operationen.
Was sind
die zentralen Größen und deren Wechselwirkung? Und ist es auf der Basis
dieser zentralen Größen möglich, Zeitreihen für die zentralen Größen zu
definieren. Z.B. ist die Persönlichkeit eine zentrale Größe? Und durch welche
Variablen lässt sich diese beschreiben und welche Zusammenhänge gibt es
zwischen diesen Variablen -und wie ergibt sich aus den Persönlichkeiten und
evtl. anderen Größen (und welche sind die wichtigsten?) eine soziale
Makrostruktur?Zu charakteristischen Zeitreihen siehe man für Gruppen [10] oder für
social media Groß-Gruppen [7].People Analytics ist ein neues
Anwendungsgebiet, das auf Big Data und KI aufsetzt.- Man siehe hierzu auch
meinen Blog“#PAFOWLondon – People Analytics & Future of Work –
Deutschland, wo bist Du?“ vom April 2019
Kopplung
nichtlinearer Oszillatoren
Symmetrische
Tauschfähigkeit unter den Werten. Auch hier erschließt sich mir die
Wahl der Zuordnung nur bedingt: Gehe ich mal davon aus, dass es sich nicht
(allein) um materielle Werte (Gold, Aktien, usw.) handelt, sondern um
Kulturwerte, so geht es nicht nur um Tausch, sondern um Wechselwirkungen und
diese müssen auch keinesfalls vollständig symmetrisch sein.
Wie führt
die Kopplung nichtlinearer Agenten, u.a. deren Persönlichkeiten (u.a. die
Werte, aber nicht nur diese, s.o.) zu nichtlinearen Wechselwirkungen, die
wiederum nichtlineare soziale Felder ausbilden. In der Theorie der
Selbstorganisation ist die Kopplung nichtlinearer Oszillatoren/Agenten sehr
stark mit der Variation der sogenannten Kontrollparameter verbunden [5]. Man
siehe auch [9], [10].
Kontinuierliche
nichtlineare Vorhersage
funktionale
Beobachtung, die in der Lage ist, die Zustände eines Systems asymmetrisch zu
ordnen und diese Ordnung nach Bedarf auch wieder aufzulösen
Handlungen
auf der Basis des verallgemeinerten PDCA Zyklus ausgehend von
falsifizierbaren Hypothesen [5]. Ausgestaltung von Systemen mittels der acht Prinzipien der
Selbstorganisation [5] und Anwendung des verallgemeinerten PDCA Zyklus. Iterative, selbstkonsistente Ausbildung eines symmetriegebrochenen
Makrozustandes
Das, was sich in einem System zu einem System zusammenstellt
(griech. syn-histamein), greift aus dem System heraus, um innerhalb des Systems
eine Ordnung aufrechtzuerhalten oder herzustellen.
Dies entspricht in der Theorie der Selbstorganisation der Ausbildung von Ordnungsparametern und der damit verbundenen Emergenz von Makrostrukturen [5], [10], [9].
Mit der Kybernetik und ihrer Rezeption der mathematischen
Kommunikationstheorie Claude E. Shannons wird jedoch eine Mathematik verfügbar,
die für diese Ergänzungsbedürftigkeit einen eigenen Begriff hat, denjenigen der
Nichtlinearität, und die in der Lage ist, diesen Begriff auf die Beschreibung
von Gesamtsystemeigenschaften zurückzubeziehen, die mit Hilfe der Thermodynamik
nicht mehr mechanisch verstanden werden müssen, sondern als Zustände gemischter
Ordnung und Unordnung verstanden werden können. Der entscheidende Punkt hierbei
ist die Verwendung eines probabilistischen Ordnungsbegriffs, der sowohl den
Zufall als auch die Entscheidung zu inkorporieren erlaubt, und so erstmals den
Systembegriff auf die Spitze der Differenz eines Ereignisses stellt, bei dem
alles darauf ankommt, den Unterschied zwischen System und Umwelt zu verstehen
und zu verarbeiten. »Zufall « heißt einerseits Unsicherheit und andererseits
Material für abweichende Elemente und Operationen.
Damit ist klar, daß die Operationen eines Systems zwischen
das Rauschen und den Zufall einerseits und die Entscheidung und die
Beschreibung eines dafür passenden Möglichkeitsraums andererseits eingespannt
sind.
Die Theorie von Komplexität und Chaos ist eine deterministische Theorie. – Z.B. ist die rekursive (!) Gleichung, auf der die Mandelbrot Bäumchen basieren, eine deterministische Gleichung. Jedoch ist die numerische Sensitivität dieser Gleichung so enorm hoch, dass sich wohldefinierte chaotische Strukturen ergeben: Hiermit wird oft die Metapher verbunden, dass ein Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Hurrikan in New York auslösen kann. Ereignisse werden als „Zufall“ sichtbar, da sie andere (dominante) Ereignisse aufgrund einer gerade vorliegenden Systemkonstellationen mitauslösen: Der Flügelschlag des Schmetterlings (Zufallsereignis) löst aufgrund der aktuellen Wetterverhältnisse (Systemkonstellation) einen Hurrikan (neues Ereignis) aus. Natürlich können Systeme verschiedene „Mischungen“ von Ordnung oder Unordnung enthalten (was immer man auch als Ordnung oder Unordnung ansieht): Eine Gruppe von Personen votiert für A und eine andere Gruppe von Personen votiert für nicht-A. Aufgrund eines Ereignisses und der aktuellen Systemkonstellation kann das soziale Systeme in eine bestimmte dominante Struktur (Ordnung) wechseln: Alle votieren für A. Und natürlich ist es möglich und sinnvoll solche „Mischungen“ und deren Änderungen mit Wahrscheinlichkeiten zu belegen. Rauschen und Zufall können je nach Kopplungsstärke in Systemen, Systeme stabilisieren (u.a. zur selbstorganisierten Synchronisation führen) oder destabilisieren [9]. – Fehlende Informationen (auf Mikroebene) werden durch Aussagen zu Wahrscheinlichkeiten oder zu Wahrscheinlichkeitsverteilungen „kompensiert“.
Die Systemtheorie, so dann auch Niklas Luhmann, hat es mit
Prozessen einer »Konstitution von oben« zu tun, nicht einer »Emergenz von
unten«.
Die Systemtheorie hält sich damit an das Vorbild der
Thermodynamik.
Wie weiter oben schon skizziert, enthält die
Systemtheorie nach Luhmann meines Erachtens eine große Einseitigkeit in der Betrachtungsweise.
Die Thermodynamik hatte, wie schon erwähnt, sehr lange Zeit, aus der
„wissenschaftlichen Not heraus“ – d.h. das Wissen war noch nicht so weit –
ebenfalls diese einseitige Betrachtungsweise. Mit der statistischen Mechanik
oder Quantenmechanik hat sich ihre Betrachtungsweise seit Ludwig Boltzmann
erheblich erweitert.
Das muß nicht darauf hinauslaufen, das System als etwas zu
verstehen, was mehr ist als die Summe seiner Teile, wie eine allzu oft zitierte
aristotelische Formel holistischen Denkens lautet. Die Systemtheorie rechnet
auch mit der Möglichkeit, daß das Ganze, verstanden als System, weniger ist als
die Summe seiner Teile, und dies deswegen, weil die Teile eine höhere reflexive
Kraft haben als das Ganze. Sie profitieren davon, wenn man so sagen darf, daß
sie im Verhältnis zueinander mehr Probleme zu bewältigen haben als das Ganze.
In [5] skizzieren wir diese Aussage mit folgender Abbildung 1, sie ist eine Basis des Komplexitätsverständnisse im Management 4.0:
Abbildung 1: Komplexität und Entropie
Entscheidend ist das Verständnis des Systems als
intervenierender Variable.
Eine der griffigsten Möglichkeiten, diesen Sachverhalt der
nichtlinearen Reproduktion auf den Punkt zu bringen, besteht im Graph der
perturbierten Rekursion, wie ihn Peter Bøgh Andersen gezeichnet hat.
Abbildung 2: System-Rekursion: Auf der Basis von [2].
Die Bezeichnung jener Black box, die für die Verschaltung
von Rekursion und Perturbation verantwortlich ist, als »Prozeß« ist hier wie so
oft ein Verlegenheitsbegriff, der die Stelle besetzt, an der von
»Selbstorganisation« als dem entscheidenden Vermögen komplexer Phänomene die
Rede sein müßte. Immerhin jedoch können wir aus dem Graph die basale
Ungleichung der Systemtheorie ableiten, die das System, S, als Funktion seiner
selbst, S, und seiner Umwelt, U, beschreibt:
Diese Paradoxie, die mit jedem auf eine Umweltstörung reagierenden Schritt der Systemreproduktion S als S identifiziert und differiert zugleich, muß aufgelöst werden, wenn das System sich reproduzieren können soll, wobei man sich eine Entparadoxierung nicht nur in der Zeitdimension des Sinns, abhängig vom Zeitpunkt t, St≠ St‘, sondern auch in der Sachdimension, abhängig vom Beobachter b, Sb ≠ Sb’, und in der Sozialdimension, abhängig von der Differenz zwischen ego und alter oder zwischen Ich und Du, Sich ≠ Sdu, vorstellen kann.
Abbildung 2 skizziert schematisch eine
Selbstkonsistenzbedingung für ein (komplexes oder selbstorganisiertes) System.
Der Begriff Selbstkonsistenz ist hier enorm wichtig. Systeme zeigen, so lange
sie existieren, nie das Verhalten S ≠ S, denn dann höheren sie auf zu existieren. Die geforderte
Bedingung Selbstkonsistenz würde sich dann wie folgt ausdrücken S =! S, d.h.
das System muss sich konsistent selbst erzeugen. Natürliche, technische und
soziale Systeme kennen in der „Realität“ keine Paradoxie, Paradoxien entstehen
in unserem Verständnis (unseren Theorien und Modellen) der Systeme – nicht in
der „Realität“. Das Einführen von Variablen (Zeit, Beobachter, …) ermöglicht die
Einführung einer Änderung des Systems nach diesen Variablen. Zum Beispiel für
die Variable Zeit ergibt sich statt St ≠ St‘: dS/dt = S (S, U, t). Die Lösungen der
Differentialgleichung (wenn sie denn existieren) sind selbstkonsistente
Systemzustände.
Will man die Ergebnisse der Auseinandersetzung der Systemtheorie mit den ungelösten Fragen der Kybernetik zusammenfassen, so kann man festhalten, daß das System seine eigene Statistik aus einem Zählen gewinnt, zu dem es sich durch Negationen im Medium der eigenen inkommensurablen Komplexität befähigt. Das Problem der Kopplung nichtlinearer Oszillatoren wird von Sinnfiguren gelöst, die aus oszillierenden Unterscheidungen bestehen, deren Termini in je nach Bedarf und Findigkeit überraschenden und zwingenden Beziehungen zueinander stehen. Und das Problem der kontinuierlich nichtlinearen Vorhersage wird von funktionalen Bewertungen gelöst, die im Kontext der Beobachtung funktionaler Äquivalente stehen, die jede für sich die Frage einer unbekannten Zukunft sowohl aufwerfen als auch zu bearbeiten erlauben.
In Teilen wurde diese Zusammenfassung schon weiter oben
betrachtet. Hier kommentiere ich lediglich die Aussage „Kopplung nichtlinearer
Oszillatoren wird von Sinnfiguren gelöst“: Im Management 4.0 sagen wir, dass
die Wechselwirkung der Menschen über Kontrollparameter (Werte, Grundannahmen,
Temperament, Work-in-Progress) so einzustellen ist, dass sich ein
Ordnungsparameter (eine Ziel-Hierarchie: u.a. Vision, Mission, Zugehörigkeit)
einstellt, der Sinn vermittelt und daraus eine soziale Makrostruktur entsteht,
die wir als Collective Mind bezeichnen.
Man darf gespannt sein, ob die Mathematik Anschluß an diese
Rezeption mathematischer Ideen in der Systemtheorie finden wird.65
Deutlich ist bislang nur, daß der Rahmen der zweiwertigen Logik für diesen
Anschluß der Mathematik unzureichend ist. Doch offen ist, inwieweit eine
mehrwertige Logik semantischer Felder jene operative und kategoriale
Bestimmtheit erreichen kann, die es erlauben würde, den statistischen
Feldbegriff der Thermodynamik an den konstruktivistischen Systembegriff der
kognitionswissenschaftlichen Forschung aufschließen zu lassen. Entschieden ist
jedenfalls nichts.
65Es ist vermutlich kein Zufall, daß aktuelle
Formulierungen der Systemtheorie als Theorie komplexer Systeme (Santa Fe) nur
unter der Bedingung der Vermeidung einer Bearbeitung des Selbstreferenzproblems
mit einer mathematischen Modellierung kompatibel sind.
Mir erschließt sich diese Aussage nicht wirklich:
Operationalisierbare Theorien haben einerseits den Anspruch ein Modell zu
liefern, das möglichst nahe an der Realität ist und andererseits für die
Modelle auch (mathematische oder durch Simulation erhaltene) Lösungen
anzubieten. Falls die Modelle (bisher) keine Lösungen liefern, werden die
Modelle oft so einfach gemacht, dass Lösungen möglich sind. Die zitierte
Literatur greift aus diesem Grunde der Einfachheit wegen auch auf binäre
Modelle mit zwei Zuständen 1 und 0 zurück. – Dies entsprach auch schon vor 25
Jahren nicht mehr dem Stand der Erkenntnis und der mathematischen Technik. Die
mathematische Abbildung von Selbstreferenz wird in seiner einfachsten Form mit
S*S (x*x =x2) abgebildet und führt zur geforderten (rekursiven)
Komplexität (man siehe auch Abbildung 2).
Abbildung 3 zeigt eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Temperamentdimension Extraversion-Introversion im Persönlichkeitsmodell MBTI oder Big Five. Mit der Einführung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen löst sich die binäre Logik auf.- Selbstverständlich wird damit eine mögliche mathematische Theorie wesentlich anspruchsvoller (u.a. sehr viele Freiheitsgrade) und derzeit ist mir keine Theorie bekannt, die auf der Basis von Persönlichkeitspräferenzen über Wahrscheinlichkeitsverteilungen eine emergente soziale Makrostruktur ableiten könnte. – Gleichwohl wird unter einer mathematischen Beschreibung die Klarheit im Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen deutlich erhöht.
Abbildung 3: Wahrscheinlichkeitsverteilung für die
Temperamentausprägung Extrovertiert (E) und Introvertiert (I) mit vereinfachter
„zweiwertiger“ Wahrscheinlichkeitslogik (0,8 und 0,2)
Zusammenfassend sehe ich folgenden Nutzen für mein beispielhaftes
Schauen über den Tellerrand:
Das eigene Verständnis wird im Betrachten eines Sachverhalts
durch eine andere Brille wesentlich geschärft.
Fortschritt entsteht auch wesentlich aus
Transdisziplinarität: Andere Sichtweisen helfen eigene Blockaden zu erkennen
und damit zur Emergenz neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse beizutragen.
Dies setzt jedoch voraus, dass sich unterschiedliche
(wissenschaftliche) Disziplinen einer gemeinsamen Sprache oder zumindest einer
gemeinsamen sprachlichen Basis bedienen. – Wie in den obigen Ausführungen zu
sehen ist, ist die fehlende gemeinsame Sprache eine große Quelle für potentielle
Missverständnisse.
Dieser Blogbeitrag soll auch dazu beitragen in unserem Dialogforum „Projekte neu gedacht“, in dem verschiedenen Disziplinen um ein post-modernes Verständnis zu Projekten ringen, disziplinübergreifende Brücken zu bauen.
[1] Baecker Dirk (2018) 4.0 oder die Lücke die der Rechner
lässt. Merve Verlag, Leipzig
[2] Baecker Dirk (2010) System, erstveröffentlicht in:
Christian Bermes und Ulrich Dierse (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie
des 20. Jahrhunderts, Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 6, Felix Meiner
Verlag, Hamburg, 2010, S. 389-405 – ISBN 978-3-7873-1916-9, online:
www.vordenker.de Neuss 2018, J. Paul (Ed.), ISSN 1619-9324, URL: <
http://www.vordenker.de/dbaecker/dbaecker_system.pdf >
[3] Oswald A, Müller W (2019) Management 4.0 – Handbook for
Agile Practices, BoD Verlag, Norderstedt
[5] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2016) Projektmanagement
am Rande des Chaos, Springer, Heidelberg
[6] Stadelbacher S und Böhle F (2016) Selbstorganisation als
sozialer Mechanismus der reflexiv-modernen Herstellung sozialer Ordnung in
Böhle F und Schneider W, Subjekt-Handeln-Institution – Vergesellschaftung und
Subjekt in der reflexiven Moderne, Velbrück Wissenschaft, Weilerwist
[7] Centola D (2018) How
Behavior Spreads: The Science of Complex Contagions (Princeton Analytical
Sociology, Band 3), Princeton Univers. Press
[8] West G
(2017) Scale: The Universal Laws of Growth, Innovation, Sustainability, and the
Pace of Life in Organisms, Cities, Economies, and Companies, Penguin Press,
Kindle Edition
[9]
Boccalletti S, Pisarchik A N, Del Genio C I, Amann A (2018) Synchronization –
From Coupled Systems to Complex Networks, Cambridge University Press, Cambridge
UK
[10] Haken H and Schiepek G (2010) Synergetik in der
Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten, Hogrefe, 2010
Unlängst habe ich von meiner Kollegin Sonja Armatowski, die als systemischer Coach in Projekten arbeitet, das Buch „Liebesaffären zwischen Problem und Lösung, Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten“ von Gunther Schmidt [1] aus dem Jahre 2004 geschenkt bekommen. Dies ist ein Buch, das trotz seines Alters nichts an Aktualität verloren hat, und gerade für Führung und Management viele wertvolle Erkenntnisse bereit hält. Mit diesem Blog Beitrag möchte ich dies verdeutlichen.
Gunther Schmidt [2] ist innerhalb des deutschsprachigen Raumes
sicherlich der bekannteste Experte für (systemische) Hypnotherapie. Seine
Arbeiten beruhen auf den Hypnosetechniken von Milton Erickson. – Milton
Erickson gehört neben Gregory Bateson, Virginia Satir und Fritz Perls zu den
genialen Modelgebern des NLP [3]. Schmidt’s Buch enthält deshalb sehr viele
implizite und explizite Verbindungen zum NLP.
Schmidt schreibt zum Titel seines Buches: „<der Titel> eben darauf hinweisen soll, wie „Problemmuster“ und „Lösungsmuster“, erfreuliche über ihr ursprüngliches Wesen hinausgehende Entwicklungen (im schönsten Fall „Liebesbeziehungen mit Folgen“) anregen können.“ Dem aufmerksamen Leser dürfte nicht entgangen sein, dass er im Titel von „Liebesaffären“ und im Text von „Liebesbeziehungen“ spricht. Beide Begriffe bezeichnen wohl unterschiedliche Kontextstereotype. – Schmidt wäre wohl kein Experte für Hypnosearbeit, wenn er den Titel nicht mit Bedacht ausgewählt hätte. – Der Titel erzeugt nämlich eine enorme Aufmerksamkeit und fokussiert über die damit verbundenen „romantisierenden“ [1] Gefühle. – Und genau um Aufmerksamkeit und Fokus geht es; sie sind die Schlüsselbegriffe in der Hypnosetherapie. Die Abbildung eines Clowns im Buch Cover trägt zur (weiteren) Irritation und letztendlich zur Fesselung bei. – Eine wichtige Interventionstechnik in der systemischen Hypnotherapie.
Und damit sind wir beim Kern, warum ich das Buch und einige seiner Inhalte für diesen Block ausgewählt habe. Das Buch enthält neben Kapiteln zur Anwendung in der systemischen Psychotherapie auch Kapitel zur Anwendung in Teams und Organisationen. – Schmidt verweist direkt am Anfang seines Buches auf Zusammenhänge zur Theorie der Selbstorganisation, insbesondere auch zur Synergetik, die einer der vier Basisbausteine des Management 4.0 [4] darstellt.- Die anderen drei sind Mindset-Entwicklung, Skalierung und Neuroleadership. Die Fachsprache von Schmidt verwendet nicht selten Begriffe der Synergetik. So schreibt er zum Beispiel im Kontext der Hauptaufgaben von therapeutischen Interventionen „Es soll erreicht werden, dass Klienten und Therapeuten ihre Aufmerksamkeit so intensiv als irgend möglich … auf die kontext-angemessenen Zielpotentiale fokussieren können. So soll eine Art Attraktorkraftfeld für das Lösungserleben geschaffen werden (wie bei der Synergetik), das immer stärker („Schneeballeffekt“) Feedbackschleifen unterstützt, die wieder das Kraftfeld des Lösungserlebens weiter verstärken.“ – Attraktor ist ein Begriff aus der Komplexitätstheorie. Er steht für einen dynamischen Zustand, auf den ein System sich hinbewegt oder hier hinbewegen soll. Die Fokussierung auf kontext-angemessene Zielpotentiale stellt den sogenannten Ordnungsparameter [5] dar, der zum Attraktor führt. – Damit ergibt sich noch eine Verbindung zum Titel des Buches bzw. zur Liebe: Liebe ist ein solcher Ordnungsparameter, der auf die Geliebte (den Geliebten) hinführt.- Entsprechende Neurotransmitter sorgen dafür, dass die Aufmerksamkeit extrem gebündelt wird. Nicht umsonst sagt man „Liebe macht blind“. – Liebe ist also eine Form von Trance bzw. Hypnose. – Schmidt hat genau diese Wirkung des Wortfeldes Liebe-Liebesbeziehung-Liebesaffäre im Titel sprachlich genutzt, um eine Fokussierung auf sein Buch zu erreichen.
Die Verwendung der Gedanken aus der Theorie der Selbstorganisation ist schon recht erstaunlich, zumal Haken und Schiepek die Theorie der Selbstorganisation für psychische und soziale Systeme erst im Jahre 2006/2011 in einem umfangreichen Buch [6] einem breiteren Publikum zugänglich gemacht haben.
Schmidt führt an verschiedenen Stellen aus, dass „Unter
Hypnose …generell der interaktionelle Prozess der systematischen Fokussierung
von Aufmerksamkeit verstanden <wird>, welcher auf willkürlicher,
besonders aber auf unwillkürlicher Ebene das Erleben gestaltet.“ Oder anders ausgedrückt, Hypnose versucht
mittels Interventionstechniken die Aufmerksamkeit so stark zu bündeln (siehe
auch obiges Zitat), dass ein neuer Ordnungsparameter entsteht, der neue
Lösungsräume eröffnet. Die Interventionstechniken helfen als Rahmen- und vor
allem Kontrollparameter von derzeitigen Problem-Ordnungsparametern zu neuen Lösungs-Ordnungsparametern
zu wechseln. Das Buch von Schmidt erläutert zum einen diesen Zusammenhang und zum
anderen vor allem die vielen möglichen vom Kontext abhängigen
Interventionstechniken, um Aufmerksamkeit und Fokus zu erzeugen.
Der Zusammenhang zum Agile Management 4.0 [4] ist jetzt
vielleicht schon fast greifbar. Ich wende das obige Zitat zum „Attraktokraftfeld“
auf den agilen Handlungsrahmen Scrum an, in dem ich einige Wortersetzungen
mache:
„Es soll erreicht werden, dass Development Team und Produkt
Owner mit Hilfe des Scrum Masters ihre Aufmerksamkeit so intensiv als irgend
möglich … auf die kontext-angemessene Produktvision fokussieren können. So soll
eine Art Attraktorkraftfeld für das Lösungserleben (für alle Stakeholder)
geschaffen werden, das immer stärker („Schneeballeffekt“) Feedbackschleifen
unterstützt, die wieder das Kraftfeld des Lösungserlebens (für alle
Stakeholder) weiter verstärken.“
Ich glaube, dass damit der Zusammenhang von systemischer Hypnotherapie
und Agile Management 4.0 greifbar wird. Tatsächlich findet man in Schmidt’s
Buch unzählige Beispiele, die im Management 4.0 ihre Entsprechung haben. – Er
selbst wendet seine Erfahrungen und Erkenntnisse auf Teams und Organisationen
an; sehr ähnlich zu den im Management 4.0 praktizierten.
Auf dieser Basis wird auch sehr schnell verständlich, warum viele agile Handlungsrahmen in Theorie und Praxis nur wenig mit Selbstorganisation, die Hochleistung ermöglicht, zu tun haben: Den agilen Führungskräften wie z.B. Product Owner und Scrum Master fehlt meistens die Kompetenz, für Aufmerksamkeit und Fokus zu sorgen; also ihre Interventionen so zu gestalten, dass sich eine Produktvision, also der Ordnungsparameter, aus dem Team für alle Stakeholder selbstorganisiert entwickelt. – Management 4.0 und damit Agilität, haben also viel mehr mit hypnosystemischer Arbeit zu tun, als mit dem vorgegebenen „korrekten“ Ausführen von Agilen Handlungsrahmen. – Aus diesem Grunde sind die agilen Techniken der unwichtigste Faktor unter den wichtigen Faktoren: Das Verständnis für die Wirkzusammenhänge der Selbstorganisation ist hundertmal wichtiger, das Mindset ist sogar tausendmal wichtiger!
[1] Schmidt G (2017) Liebesaffären zwischen Problem und
Lösung, Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten, Hypnotherapie, systemische
Therapie, Beratung, 7. Auflage (1. Auflage von 2004), Carl-Auer-Systeme Verlag,
Heidelberg
[3] Mohl A (2010) Der große Zauberlehrling. Das
NLP-Arbeitsbuch für Lernende und Anwender. Teil 1 und Teil 2. Junfermann Verlag
[4] Oswald A, Müller W (Hrsg.)
(2019)
Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3.0“, BoD, Norderstedt
[5] Oswald A, Köhler J,
Schmitt R. (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer,
Heidelberg, auch in Englisch verfügbar: Project Management at the Edge of Chaos
(2018), Springer, Heidelberg
[6] Haken H, Schiepek G (2010) Synergetik in der
Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten. Hogrefe-Verlag,
Göttingen
Seit ein paar Monaten bin ich zusammen mit einigen Kollegen
in dem Dialogforum „Projekte neu gedacht“ aktiv.
Bei unserem letzten Treffen hatten wir als Hauptthema „Projekte
als (Selbst-) Organisation“. Hierbei beleuchteten wir den möglichen
Zusammenhang von Komplexität, Selbstorganisation, Evolution und Projekten. Im
Nachgang hierzu sind wir auch auf den aktuellen Spiegel Online Beitrag zur Ich-
und Gesellschafts-Entwicklung gestoßen [1]. Die Aussagen im Beitrag beruhen ganz
wesentlich auf dem Artikel von Cook-Greuter [2].
Ich fasse die wesentlichen Aussagen des Spiegel Online
Beitrags zusammen:
Jeder Mensch befindet sich auf einer Entwicklungsstufe.
Diese Entwicklungsstufen sind weltweit gültig und können durch eine Reihe von
Charakteristika „eindeutig“ beschrieben werden.
Hieraus ergibt sich, dass Gesellschaften, z.B. wie die
Deutschlands, durch eine %-Verteilung über alle Entwicklungsstufen hinweg
beschrieben werden können.
Die individuelle Entwicklungsstufe eines Menschen kann sich
im Laufe seines Lebens zu „höheren“ Entwicklungsstufen hin verschieben.
Die %-Verteilung der Entwicklungsstufen innerhalb einer
Gesellschaft verschiebt sich im Laufe der Zeit hin zu „höheren“
Entwicklungsstufen.
Die %-Verteilung der Entwicklungsstufen hat (wahrscheinlich)
einen enormen Einfluss auf die Ausgestaltung der Gesellschaft. Hier ein Zitat
als Beispiel:
„In den derzeitigen westlichen
Gesellschaften ist das E6 (Anm.: die derzeit besonders erstrebenswerte Stufe).
Menschen dieser Stufe streben danach, ihre Lebensziele zu verwirklichen. Die
US-Psychologin Susanne Cook-Greuter beschreibt E6
als Macher, die „mit voller Kraft in die Zukunft marschieren“ und die
aufgrund ihrer Zielstrebigkeit „oft über Zeitnot klagen“.
E6 sind die Prototypen
der Leistungsgesellschaft. Ihre Ideale finden sich etwa oft in der Werbung
wieder. Sprüche wie „Mach dein Ding“ (Hagebaumarkt), „Just do
it“ (Nike) oder „You can“ (Canon) glorifizieren den Erfolgs- und
Leistungsmenschen. Sie verdeutlichen: Es ist die eigenbestimmte Stufe, nach der
wir streben sollen. Bislang zumindest.“
Ich ergänze diese Aussagen:
In dem sogenannten Kultur- und Bewusstseinsmodellen von
Clare W. Graves, das von Beck und Cowan zum Spiral Dynamics Modell [3]
weiterentwickelt wurde oder in der sogenannten Integralen Theorie von Ken
Wilber [4] spielen Entwicklungen eine große Rolle. Heute werden beide Modelle
oft zusammen verwendet und als integral bezeichnet. Integral bedeutet, dass die
verschiedenen Perspektiven unterschiedlicher value-Meme (v-Meme) integriert
werden und hieraus sich eine neue vernetzte Qualität des Denkens und Handelns ergibt.
V-Meme sind „Gedankenschnipsel“ (so wie Gene DNA-Schnipsel sind), die aus Werten,
Grundannahmen, Glaubenssätze und Prinzipien bestehen.
Die oben erwähnte Entwicklungsstufe E6 entspricht in Spiral Dynamics einer Entwicklungsstufe, bei der das sogenannte orangene v-Mem das vorherrschende ist. Gleichwohl geht Spiral Dynamics davon aus, dass in einem Menschen immer verschiedene v-Meme enthalten sind, auch wenn eines vorherrschen kann. Den Entwicklungsstufen aus [2] liegen die integralen Modelle zugrunde. Die Entwicklungsstufen basieren, wie bei E6, auf einem v-Mem oder auf einer Mischung von mehreren v-Memen. Meines Erachtens ist die in [2] getroffene Wahl an Entwicklungsstufen nicht zwingend, jedoch hilfreich. Für eine eingehendere Beschreibung des Zusammenhanges von Entwicklungsstufen und v-Memen verweise ich auf das lesenswerte Buch zur Integralen Organisationsentwicklung [5] meines Kollegen Heiko Veit. Später komme ich auf den Zusammenhang von v-Memen und Entwicklungsstufen wieder zurück…
Die Entwicklung der v-Meme in der Gesellschaft und die technologische Entwicklung sind meines Erachtens sich gegenseitig bedingende Entwicklungen. Ich nenne dies deshalb auch eine emergente Co-Evolution. – Die v-Meme und insbesondere deren Verteilung und Wechselwirkung in einer Gesellschaft wirken als Kontrollparameter der gesellschaftlichen Selbstorganisation (zur Selbstorganisation verweise ich auf meine früheren Blog-Beiträge oder unsere Bücher [7] und [10].)
Die Verwendung des Begriffes „Entwicklungsstufe“ legt nahe, dass jemand „mehr“ entwickelt ist und dies könnte die Herabstufung von anderen Entwicklungsstufen in sich tragen. Diese Gefahr besteht bei der Benutzung der v-Mem Terminologie auch, hier steht jedoch die pluralistische Sicht der v-Meme stärker im Vordergrund. – Dies ist auch dann der Fall, wenn festgestellt wird, dass ein Mensch einige v-Meme überhaupt nicht besitzt oder nicht alle v-Meme beim ihm ausgeprägt sind.
Nun zum Zusammenhang mit Projekten und Komplexität:
Die GPM Studie „Vermessung der Projekttätigkeit“ [6] sagt:
„Der Anteil der Projekttätigkeit in Deutschland über alle Wirtschaftsbereiche
hinweg kann heute auf 34,7 % beziffert werden. Er ist seit 2008 um etwa 20 %
angestiegen und wird bis 2019 voraussichtlich auf über 40 % weiterwachsen.“
Gleichzeitig treffe ich die Annahme, dass die Komplexität
in unserem Umfeld, in unserer Gesellschaft steigt. In [7] verwenden wir die Komplexitäts-Beschreibung
des Santa Fe Instituts [8].
Wir sprechen von einem komplexen System (einem
technischen, natürlichen oder gesellschaftlichem System), wenn
eine hohe Vernetzung zwischen den
Systemelementen vorliegt,
kleine Änderungen große Auswirkungen haben,
sowie sprunghaftes, oft nicht nachvollziehbares
Verhalten auftritt.
Auch das Santa Fe Institut, als die weltweite
Autorität zum Thema Komplexität, kann keine über diese Beschreibung
hinausgehende eindeutige Definition angeben. – Gleichwohl sind die von Wolfram
definierten Komplexitätsklassen in der wissenschaftlichen Welt akzeptiert [7]. Seit
Ashby gibt es auch ein Maß für Komplexität, die Variety, wobei dieses Maß schwer
zu operationalisieren ist [7]. Hausmann und Hidalgo von der Harvard University
bzw. vom MIT setzen hier mit ihrem Atlas für ökonomische Komplexität sicherlich
neue Maßstäbe [9].
In Anlehnung an Ashby’s Law [7] ist die steigende Komplexität von Organisationen eine Antwort auf die steigende Komplexität unserer Gesellschaft. Hierbei sollte man die Komplexität in der Gesellschaft nicht als Ursache für eine steigende Komplexität in einer Organisation ansehen, sondern diese beiden Komplexitäten ergeben sich emergent über eine ständige Rückkopplung. – Organisationen versuchen also mit der Gesellschaft „anschlussfähig“ zu werden und zu bleiben. – Nicht anschlussfähige Organisation sterben ab.
Als Innovationsmotoren sind Projekte Ausdruck dieser steigenden Komplexität. Die Zunahme von Projekten in Organisationen und in der Gesellschaft ist Ausdruck einer Komplexitätsbewältigung, also einer Anschlussfähigkeit, die die Organisationen versuchen über Projekte zu erlangen.
Abbildung 1: Komplexität, Projekte und v-Meme
Abbildung 1 zeigt einen möglichen Zusammenhang zwischen Komplexität des Umfeldes, also des Marktes und der Gesellschaft, sowie der Komplexität einer Organisation. Ich gehe davon aus, dass die Komplexität der Gesellschaft im Laufe der Zeit steigt. Deshalb habe ich in Abbildung 1 zusätzlich eine Zeitachse eingetragen. Da ich weiterhin annehme, dass die Komplexität einer (beliebigen) Organisation immer geringer ist als die der Gesellschaft, sollte die Komplexität der Organisation immer unterhalb der y=x Geraden verlaufen. Wie der Zusammenhang ist, ist meines Wissens nach, völlig unbekannt. Die eingezeichnete Kurve dient lediglich der Orientierung. – Die unbekannte reale Kurve könnte auch nicht stetig sein und Sprünge enthalten.
Die großen Kreise in der Abbildung 1 mögen eine Organisation bestehend aus Linienaktivitäten und Projekten repräsentieren.- Die kleinen Kreise innerhalb der Organisation bezeichnen Projekte. Wie zu sehen ist, nimmt die Anzahl der Projekte mit wachsender Komplexität von Umfeld und Organisation zu. Dies ist das erste Anzeichen der „Anschlussfähigkeit“ der Organisation an das Umfeld. Das zweite Anzeichen der „Anschlussfähigkeit“ ist die Entwicklung der vorherrschenden v-Meme in den Projekten. Entsprechend dem vorherrschenden v-Mem in der Projekt-Kultur sind die Projekte eingefärbt. Oder in der Sprache der Entwicklungsstufen: Der orange Kreis kennzeichnet das orange v-Mem oder die Entwicklungsstufe E6. Ich stelle fest, dass sich aktuell das grüne v-Mem mittels agiler Arbeitsmodelle ausbreitet. Sehr oft verwenden Projekte heute (in Teilen) agile Handlungsrahmen wie Scrum, gleichwohl leben sie die Werteorientierung nicht oder nur unzureichend und unter der Oberfläche der agilen Handlungsrahmen lebt das orange oder gar das blaue und rote v-Mem weiter. – Deshalb kann die zugeordnete Zeitskala und die Entwicklung hin zu einer integralen oder gar holistischen Projektorganisation viel zu optimistisch sein. Im Management 4.0 [10] haben wir Kommunikationsmuster, die mit unterschiedlichen Mindsets, also auch unterschiedlichen v-Memen (Entwicklungsstufen), verbunden sind im Kontext der Digitalen Transformation untersucht.
Das Anwachsen der Komplexität, insbesondere im „hot spot“
von natürlicher, technischer und sozialer Komplexität, „erzwingt“ eine
Entwicklung zu höheren v-Memen. „Erzwingt“ bedeutet, dass sich diese emergent
aus der Wechselwirkung dieser drei Komplexitätsdomänen ergibt. In Abbildung 1
ist dies durch das Auftauchen und die anschließende Zunahme von Projekten mit
integraler Perspektive dargestellt. In meinem Blog-Beitrag „Bits to Atoms – Die
dritte Digitale Revolution“ korrespondiert dies mit der notwendigen
Co-Evolution von Physical und Social Technologies.
Abbildung 2: Dilts-Pyramide, Lernstufen nach Bateson und value-Meme
Abbildung 2 zeigt die in [7] sowie im Management 4.0 [10] verwendete Dilts Pyramide aus dem NLP mit den von Dilts zugeordneten Lernstufen von Bateson. In [7] haben wir Beispiele aus der Projektarbeit für die Lernstufen angegeben. Wichtig hier ist, dass die zwei Ebenen „Identität“ und „Werte und Grundannahmen“ der Dilts-Pyramide ganz entscheidend die Lern-Qualität eines Menschen und einer Organisation bestimmen. Die v-Meme sind genau hier angesiedelt und bestimmen über diese Pivot-Stellung die mögliche (erreichbare) Entwicklungsstufe. Auf den Lernstufen I und II wird vorwiegend nach dem „Wie“ gefragt: Z.B. „Darf ich bei Scrum zwei Product-Owner einsetzen und wie füllen sie das Product-Backlog?“ Bei der Fragestellung verbleibt der Fragesteller (im Wesentlichen) innerhalb eines Systems, Handlungsrahmens oder eines Werkzeuges. Die Prinzipien der bestehende Ordnung und Struktur des Systems werden nicht verstanden oder nicht in Frage gestellt. – Hierzu gehören die Entwicklungsstufen E4 und E5. Ab der Lernstufe III wird nach dem „Was“, „Warum“ oder „Wozu“ gefragt: Z.B. „Welche Grundannahmen und Werte liegen dem Handlungsrahmen Scrum zugrunde?“ Und „Ist es sinnvoll diese Grundannahmen und Werte in dem vorliegenden Kontext anzuwenden?“. Diese Fragen werden in ersten Ansätzen in der Entwicklungsstufe E6 oder dem vorherrschenden orangene v-Mem gestellt, jedoch bildet sich diese Lernstufe erst mit dem grünen v-Mem oder der Entwicklungsstufe E7 aus. Die Frage „Welche Grundannahmen und Werte können in diesem Kontext angewendet werden?“ ordne ich der Entwicklungsstufe E7 oder dem grüne v-Mem zu. „Warum?“ und „Macht es Sinn für uns und die Welt? “ gehört in ersten Ansätzen zur Entwicklungsstufe E7 und vor allem zum gelben v-Mem und höher. Je nach Beantwortung dieser letzten Fragen kann es sein, dass der Fragesteller eine völlig neue Agile Organisation oder ggf. überhaupt keine Agile Organisation, sondern eine völlig neuartige Organisationsform kreiert.
Dieses kleine Beispiel verdeutlicht, dass die Entwicklungsstufen
aus [2] direkt mit den hier geschilderten Lernstufen und den v-Memen zusammenhängen.
Aus diesen Darlegungen kann man schließen, dass v-Meme bzw. die Entwicklungsstufen sehr viel mit dem Thema Agilität zu tun haben. Agilität basiert nämlich auf der Meta-Kompetenz aus einem System herauszutreten und nicht nur in diesem System zu lernen, sondern das System vollständig in Frage zu stellen und falls notwendig ein neues System ist erschaffen. – Agilität beginnt im Kopf und scheitert nicht selten an den vorherrschenden v-Memen eines Menschen oder einer Organisation, also an deren Kultur.
Damit gehört die Entwicklung unserer v-Meme bzw. die gesellschaftliche Ausbildung und Verbreitung „höherer“ Entwicklungsstufen zur Co-Evolution technischer Transformationen wie der Digitalen Transformation. Es ist an uns, ob wir diese Co-Evolution bewusst mitgestalten oder nur geschehen lassen, um eventuell später die Entwicklung zu bedauern.
In den letzten Jahren sind auf der Weltbühne Ereignissen geschehen, die den ein oder anderen innehalten lassen. Sie oder er, fragt sich, was läuft schief – hätte man es ändern können und wenn ja, wie: Sei es das Flüchtlingsthema und deren Behandlung in Europa, das Auftauchen der AfD, der Austritt Großbritanniens aus der EU, das Auftauchen des Narzissten Trump oder das des Sultans Erdogan, der Abgas-Skandal und die Skandale bei Großprojekten wie dem BER.
Es wäre vermessen, anzunehmen, dass ich auf all diese Ereignisse und deren eventuelle Verhinderung eine passende und vor allem vollständige Antwort habe. Jedoch glaube ich, dass es unter diesen Ereignissen, wie z.B. dem Austritt Großbritanniens aus der EU, Ereignisse gibt, die man bei entsprechender rechtzeitiger „Führung“ mit recht großer Wahrscheinlichkeit hätte verhindern können.
Dieser Blog-Beitrag versucht zu erläutern, warum ich diesen Glaubenssatz habe. Der Blog Beitrag steht in unmittelbarem Bezug zu meinem Blog Beitrag „Karl Marx und die Theorie der Selbstorganisation“. Ich verweise auch auf den Blog Beitrag zum Großprojekt BER „Made in Germany – Management am Scheideweg“. Der erste Beitrag betrachtet die Marx’sche Theorie im Lichte der Theorie der Selbstorganisation und der zweite Beitrag schildert wie das Mindset der BER Führungskräfte die Projekt-Governance des Großprojektes BER verunstaltet hat.
Ich verallgemeinere die dort beschriebenen Erkenntnisse zur Selbstorganisation und stelle folgenden Glaubenssatz auf: Selbstorganisation findet immer und überall statt. Die Systeme (Gesellschaft, Unternehmen, Projekte) bilden selbstorganisiert kollektive Muster aus. Die Ausbildung dieser Muster hängt von den zur jeweiligen Zeit wirkenden Rahmenbedingungen ab. Diese Rahmenbedingungen schränken die möglichen Freiheitsgrade des Systems ein, was wiederum die Muster der Selbstorganisation einschränkt. Rahmenbedingungen sind Gesetze, Strukturen und Prozesse sowie Visionen, Werte und Glaubenssätze aber auch das individuelle Handeln von „herausragenden“ Personen oder Kollektiven.
Individuelles und kollektives Handeln unmittelbar zu beeinflussen ist sehr schwierig, ggf. unmöglich, in jedem Fall äußert ineffizient. Diese Form von Führung über unmittelbare Einflussnahme, nenne ich „Führung im System“. Effizienter und auch effektiver ist die „Führung am System“. Verfassungen von Staaten sind z.B. Ausdruck dieser Führung am System. Sie geben einen Rahmen vor, in dem sich das System, also der Staat und die Gesellschaft bewegen können. Nachgelagerte Gesetze haben im Prinzip die gleiche Funktion. Die Verfassung ist sozusagen das Big Picture, die Vision, und die nachgelagerten Gesetze die untergeordneten „Zielkorridore“, in denen sich die Gesellschaft bewegen darf. Leider schießt die Gesetzgebung nicht selten über das Ziel hinaus, und reguliert in einem falsch verstandenen Führen das individuelle und kollektive Handeln im Detail. Wenn dies passiert, hat man eine Diktatur der Gesetze: Die Freiheitsgarde werden massiv beschnitten, und das System, insbesondere auch das soziale System, sucht sich neue Wege, Freiheitsgrade auszubilden. Die öffentlichen Diskussionen der letzten Wochen zum Thema Abschiebung, sind auch Ausdruck dieser Problematik: Jeder kennt wahrscheinlich einen Abschiebe-Fall, in dem intergrierte Mitbürger abgeschoben werden, weil das Gesetz es so vorsieht. Es stellt sich dann die Frage: Befördern die Gesetz Demokratie, Gerechtigkeit und Menschlichkeit oder behindern sie diese, weil sie nicht (mehr) zum gesellschaftlichen Kontext passen?
Mein Kollege Reinhard Wagner erläutert Governance und Management in seinem GPM Blog Beitrag „Project Governance – Eine Aufgabe des Topmanagements“ [1] wie folgt: „Governance und Management sind zwei sehr unterschiedliche Konzepte. Management plant und steuert die operative Ausführung von Aktivitäten (meine Anm.: Führen im System), wohingegen die Governance sich übergeordnet, d.h. strategisch und langfristig, um die Gestaltung der Rahmenbedingungen für das Management kümmert (meine Anm.: Führen am System). So geht es bei Governance vor allem darum, strategische Grundsätze, Prinzipien, Regeln bzw. Leitlinien für das Management einer Organisation zu definieren. Diese sollen dem Management Orientierung geben, aber auch Leitplanken für dessen Aktivitäten setzen.“
Governance entspricht also dem „Führen am System“ und Management entspricht dem „Führen im System“. Diese bedeutet jedoch keineswegs, dass eine Governance einmal gesetzt wird und dann nie mehr auf Effizienz und Effektivität überprüft wird: Governance dient dazu einerseits Freiheit zu geben und andererseits Stabilität anzustreben. Dementsprechend hat Governance auch immer einen Kontext in dem diese gültig ist bzw. zu dem sie passt.
Werden die Systeme selbst und deren Wechselwirkung immer komplexer, versagt irgendwann das „Führen im System“, also das Management. – Denn das „Führen im System“ erfordert sehr viel kleinteiliges Management (Micro-Management) mit dem großen Nachteil, dass die Führungskraft (Manager, Politiker) diese „Kleinteiligkeit“ sehr genau kennen muss. – Wenn die Führungskraft (Manager, Politiker) nicht über dieses „kleinteilige“ Wissen verfügt – was im Projekt, im Unternehmen oder gar im Staat, ja oft der Fall ist – ergeben sich Entwicklungen, die für die Führungskraft überraschend sind.
Und damit sind wir wieder bei unserem Ausgangspunkt angekommen: Hätte man z.B. den Brexit verhindern können. Ich glaube ja, wenn man die EU über Governance, nach den Prinzipien der Selbstorganisation, führen würde. D.h. es müssten Rahmenparameter, Kontrollparameter und Ordnungsparameter entwickelt werden, die Selbstorganisation ermöglichen (man siehe für die Erläuterung dieser Systemparameter meinen Blog-Beitrag „Karl-Marx und die Theorie der Selbstorganisation“)… Wir müssen ja nicht klüger sein als die Natur: Denn soweit wir dies wissen, führt uns die Natur über eine Governance, die nach den Prinzipien der Selbstorganisation wirkt.
Die EU hat seit 2005 eine Verfassung, die, so war es gedacht, auf dem Subsidiaritätsprinzip beruht. Das Subsidiaritätsprinzip bringt das Prinzip der Selbstorganisation der einzelnen Länder zum Ausdruck, wenn auch nicht in Form der o.g. Systemparameter: Die EU greift nur dort und dann in die Führung der einzelnen Mitgliedsstaaten ein, wenn dies (aus übergeordneter Sicht) erforderlich ist. Dieses Prinzip der Subsidiarität wird nur leider nicht wirklich gut von der EU gelebt.
Die EU- Verfassung verletzt schon rein äußerlich den Grundgedanken der Governance. – Governance zeichnet sich durch die Abwesenheit von Kompliziertheit aus. D.h. nicht, dass der Weg zu einer guten Governance einfach ist. – Das Ergebnis einer guten Governance, die sich an den Prinzipien der Selbstorganisation orientiert, ist zwar einfach, in dem nur relativ wenige System – oder Führungsparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) einzustellen sind. Gleichzeitig erfordert der Weg zu einer guten Governance ein Führen, das in einem hohen Maß von Muster-Wahrnehmung, von einem sehr guten Komplexitätsverständnis sowie von mutiger Intuition getragen wird.
Mit 475 Seiten ist die EU Verfassung ein mächtiges Stück „Kleinteiligkeit“, insbesondere wenn man sich vergegenwärtigt, dass die ursprüngliche Verfassung der USA nur wenige A4-Seiten umfasst. So titelt die Zeit Online denn auch kürzlich erst: „Die EU braucht eine neue Verfassung“ [2]. Meine englischen Kollegen von der Association of Project Management (APM) haben den Zusammenhang von guter Governance und effizienter wie effektiver Führung wohl schon 2004 verstanden. Denn damals ist erstmals das Büchlein „Directing Change – A Guide to Governance of Project Management“ rausgekommen. Der wirklich wichtige Inhalt mit den Projekt-Governance Prinzipien findet auf 7 Seiten in der aktuellen Ausgabe seinen Platz! [3]
Wir konnten in den letzten Jahren aber auch beobachten wie nur wenige Worte die Bedeutung eines Ordnungsparameters bekommen haben (Ordnungsparameter sind die Parameter einer guten Governance, die einem System eine Ausrichtung geben). Obama hat mit seinem „Yes, we can!“ die Werte des Aktiven, Gestaltenden und des Gemeinschaftlichen angesprochen. In der Sprache des Bewusstsein- und Kulturmodells Spiral Dynamics [4] spricht man von Ausprägungen der Werte-Meme „orange“ (aktiv, gestaltend) und „grün“ (gemeinschaftlich, wir-orientiert). Trump hat sich einen anderen Ordungsparameter gegeben: „America first!“: Macht, Rücksichtslosigkeit, Arroganz gepaart mit meinem Ansatz von Mystik indem er „alternative Fakten“ einführt und Amerika als Heilsversprechen stilisiert und damit eine selbstverständliche Ordnung wieder herstellen will. In der Sprache von Spiral Dynamics spricht man von den Werte-Memen „purpur“ (mystisch) und „rot“ (macht-orientiert) sowie „blau“ (Ordnung). Auch unsere Bundeskanzlerin hat sich im Rahmen der Flüchtlingsthematik eines Ordnungsparameters bedient: „Wir schaffen dies schon!“ Sie adressiert damit in erster Linie unseren Gemeinschaftssinn. In der Sprache von Spiral Dynamics entspricht dies dem „grünen“ Werte-Mem (gemeinschaftlich, empathisch).
Diese Meme sind für ein Individuum Ausdruck seines Bewusstseins und für ein Kollektiv Ausdruck seiner Kultur. Die verschiedenen Meme gehören mehr oder weniger stark zu unserer Persönlichkeit. Obama spricht mit seinem Ordnungsparameter andere Personen an als Trump. Personen, die z.B. vorwiegend durch die Meme purpur (mystisch), rot (Macht) und blau (Ordnung) in ihrem Handeln „geführt“ werden, lassen sich gut durch (politische) Führungskräfte mit entsprechenden Werte-Memen führen.
Wenn Werte-Meme fehlen, so hat dies auch Konsequenzen: Im Fall der Flüchtlingsthematik fehlte in der Anfangsphase das orangene und das blaue Mem. – Mit den entsprechenden uns allen bekannten Konsequenzen. Manchmal hat das Fehlen von Werte-Meme oder das selektive gezielte Einsetzen von Werte-Memen eine erstaunliche Wirkung: Im Falle der Auseinandersetzung von Trump mit dem koreanischen Diktator Kim hat Trump diesen mit seinen eigenen Waffen geschlagen, denn die Werte-Meme beider Personen zeigen sehr ähnliche Ausprägungen. Hingegen konnte Obama mit seinen Werte-Memen bei Kim keine Wirkung hervorrufen. Man kann sich auch Fragen, ob die Werte-Meme mit denen die EU zur Zeit mit Trump versucht wirksam zu kommunizieren, geeignet sind beim ihm Wirkung hervorzurufen.
Der EU fehlt ein geeigneter, die EU einigender Ordnungsparameter, der im Idealfall alle Werte-Meme enthält, denn es sollen sich alle Nationen und deren unterschiedliche Gruppierungen in diesem Ordnungsparameter wiederfinden. – Damit kann man vielleicht nachvollziehen, dass der Ordnungsparameter eine gewisse Einfachheit haben muss, aber sehr schwer zu finden ist. Gleichwohl wäre es die oberste Aufgabe der EU diesen Ordnungsparameter und natürlich auch die beiden anderen Parametertypen, Kontroll- und Rahmenparameter, zu finden. Bei der Gestaltung der Flüchtlingsthematik spielen alle Parameter eine große Rolle, insbesondere auch die Gestaltung des oder der Rahmenparameter, also die Behandlung der Grenzen und des damit verbundenen Umfeldes.
Werte-Meme können wie in den obigen Beispielen geschildert als Ordnungsparameter wirken, in vielen Fällen wirken sie auch als Kontrollparameter: Gesellschaften, Gesellschaftsbereiche oder gesellschaftliche Gruppen lassen sich recht gut in ihrem Handeln durch ihre Werte-Meme verstehen. Die Werte-Meme z.B. der Wähler der Grünen sind mit Sicherheit andere als diejenigen der AfD-Wähler: Hier wirken eventuell die Werte-Meme „grün“ mit (etwas) „orange“ dort die Werte-Meme „blau“ mit (etwas) „rot“. Es wäre fatal beide Werte-Konstellationen gegeneinander auszuspielen oder zu sagen, dass die eine Werte-Konstellation „mehr Wert“ ist als die andere. Vielmehr ist es die Führungsaufgabe der Politik nach Maßnahmen zu suchen, die das Bedürfnis beider Werte-Konstellation berücksichtigt. Diese Maßnahmen sind jedoch keine „kleinteiligen“ Micro-Management Aktivitäten, sondern erfordern Führen mittels Governance.
Falls die Politiker dieser Führungsaufgabe nicht gerecht werden, dann suchen sich die sozialen Gruppen über Selbstorganisation ihren eigenen Weg. – Selbstorganisation ist nicht per se gut, sie kann ins Desaster führen. Dies erfahren wir fast täglich in den medialen Berichten. Entscheidend ist, dass die Politiker wahrnehmen, dass sie mit ihrem Verhalten zu solchen Entwicklungen nicht unwesentlich beitragen. Und zwar dann, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen – objektiv oder gefühlt -, die vorherrschenden Werte-Meme (die Kontrollparameter) einer gesellschaftlichen Gruppierung verletzen. Aus meiner Sicht haben der Brexit und das Auftauchen der AfD sowie die jüngsten Gewaltausschreitungen bei uns gleiche fundamentale Ursachen: Es gibt in England wie bei uns einen nicht geringen Anteil an Menschen für die Sicherheit und Ordnung (Werte-Mem „blau“) eine große Bedeutung hat, ggf. gepaart mit einem gewissen Anteil an „rot“ (Macht) und „purpur“ (Mystik). Es fehlen weitgehend „orange“ (gestalten, unternehmen) und „grün“ (Gemeinschaft, Empathie). Entscheidend ist, dass Werte-Mem Konstellationen, denen eine oder mehrere Farben fehlen, Instabilität in sich tragen. In der Sprache von Spiral Dynamics fehlt das „Integrale“. Das „integrale“ Ausbilden aller Werte hat viel mit dem sozialen Kontext, der Bildung, und nicht zu unterschätzen, auch mit den materiellen Gegebenheiten (Einkommen, Vermögen) zu tun. (Wie man am Beispiel Trump sehen kann, kann, man reich sein, und doch über kein integrales Werte-System verfügen.) – Menschen, die um „ihre Existenz“ kämpfen müssen, denen rührt jede Form von Unsicherheit an „ihrer Existenz“. So gesehen erzeugt die Ineffizienz und Ineffektivität der EU und das Auftauchen der Flüchtlinge Unsicherheit. – Und dies führt zum Einsetzen von „unkontrollierter“ Selbstorganisation. Also einer Selbstorganisation, die nicht mittels Governance geführt wird. – Man spricht auch von kritischer Selbstorganisation: Ab einem bestimmten Punkt tritt die kritische Selbstorganisation ein und sie ist dann nur noch schwer zu stoppen.
Mein Appell an die Politiker ist deshalb: Reduzieren Sie das „kleinteilige“ Management zu Gunsten eines integralen Denkens in großen Bildern und gestalten Sie eine wirksame Governance auf EU wie auf Landes-Ebene. Mit diesem Appell verbunden ist auch die Erkenntnis, dass einer Transformation unserer Gesellschaft, eine Transformation der Politik vorausgehen muss, denn die Politik bzw. die Politiker sollen ja führen. Es stellt sich also als erste Frage nicht, wie wir die Gesellschaft transformieren, sondern wie die Politik zu transformieren ist.
Bei meinen Recherchen zum Thema Change Management bin ich auf das Buch „Reconsidering Change Management: Applying Evidence-Based Insights in Change Management Practice“ [1] gestoßen. Dieses Buch steht im Kontext einer Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, Management auf Evidenz abzustützen [2].
Wikipedia definiert Evidenzbasiertes Management wie folgt [3]:
„Evidenzbasiertes Management (engl. Evidence: Beweis, Beleg, Hinweis) ist eine aus Amerika kommende Denkrichtung, die in Anlehnung an die Evidenzbasierte Medizin fordert, dass insbesondere die Entscheidungen des Managements durch den expliziten Gebrauch bestmöglicher wissenschaftlicher, wenn möglich empirischer Methoden und Befunde getroffen werden.
Evidenzbasiertes Management ist am ehesten mit Beweisgestützter Unternehmensführung übersetzbar und tritt grundsätzlich dafür ein, Management-Praktiken in sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Befunden zu verankern und formale Rückblicke und Evaluationen auf Handlungen oder Ereignisse als zwingende Grundlage für weiteres Handeln anzusehen.“
Soweit, so gut: Viele Manager bzw. Führungskräfte werden sicherlich zustimmen, dass dies wünschenswert ist und einige (wenige) werden auch schließen, dass Alles getan werden sollte, damit Management einen wissenschaftlichen Kontext bekommt damit Management-Handlungen an nachprüfbarer Wirksamkeit orientiert werden.
Eine der Fragen, die sich stellt, ist: „Wann liegt ein „Beweis“ vor?“
In dem Eingangs genannten Buch zum Change Management wurden umfangreiche Literaturrecherchen vorgenommen:
Aus der Management-Literatur wurden 18 Aussagen zum Change Management extrahiert, die in einem Großteil der Management-Literatur als wahr angenommen werden.
Gemäß der Grundidee des Evidenzbasierten Managements wurden zusätzlich umfangreiche Recherchen in der wissenschaftlichen Literatur herangezogen, um für diese Aussagen einen „Beweis“ zu erbringen.
Die nachfolgenden Tabellen fassen die Ergebnisse zusammen. Hiernach ergibt sich für die Aussagen in sehr vielen Fällen keine Evidenz. Evidenz, also „Beweis“, bedeutet hiernach, dass die Bewertung aller derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Literatur, die getroffene Aussage wahrscheinlich stützt. Evidenz wird in der Tabelle unter „Wahrscheinlich wahr“ als „Ja“ gekennzeichnet.
18 vielzitierte Change Management Aussagen
Jetzt könnte man als Manager auf den Gedanken kommen: „Prima, jetzt habe ich ja mal zumindest für diese Aussagen, eine ziemlich klare wissenschaftliche Aussage, die mir weiterhilft.“
Schauen wir uns an, ob dies wirklich zutrifft.
Nehmen wir zum Beispiel die letzte Aussage: „Self-managing teams perform better in realizing change than traditionally managed teams.“ Ein Manager, der sogenannten „self-managing teams“ skeptisch gegenübersteht, hat jetzt den „Beweis“, dass das ganze Gerede von „self-managing teams“ wahrscheinlich wenig bringt, denn die wissenschaftliche Literatur liefert für diese Aussage keinen klaren „Beweis“.
Um die Aussage zu überprüfen wurde wissenschaftliche Literatur verwendet in der alternativ die Begriffe „self-managing teams, self-directing teams, self-regulating teams, self-organizing teams, self-leading teams, autonomous teams, autonomous task groups, autonomous work groups, and team leadership“ verwendet wurde.
So stellt die Untersuchung fest, dass aus dieser so ausgewählten wissenschaftlichen Literatur folgende Aussagen extrahiert werden können:
The direct relationship between self-managing teams and performance is not clear and is influenced by several contextual factors.
Self-managing teams show moderate positive effects on attitude and behavioral outcomes.
Self-managing teams that experience misalignment with their task environment are more likely to choose dysfunctionl process changes rather than functional structural changes.
Wirft man einen Blick auf die sehr unterschiedlichen Begriffe, die für die Auswahl der Literatur herangezogen wurden und die daraus abgeleiteten Aussagen, so sind die Aussagen noch erstaunlich „konsistent“.
Gleichzeitig offenbart die Vorgehensweise und die daraus gezogenen Schlüsse, meines Erachtens, einen eklatant unwissenschaftlichen Ansatz: Alle Begriffe werden in einen Topf geworfen und es gibt keine Definition, keine Theorie oder kein Modell, was man unter „self-managing teams“ verstehen soll. Man kann sich fragen, ist „self-managing teams“ wirklich das Gleiche wie „self-organizing teams“ oder das Gleiche wie „autonomous teams“.
In unserem Buch „Projektmanagement am Rande des Chaos“ [4], sagen wir: Nein, das ist keineswegs das gleiche. Die Unterschiede sind sogar enorm groß. Wir behaupten sogar, dass ein „self-managing team“ im Normalfall, wie hier auch gesagt, keinen Performancegewinn zeigt. Eventuell wird sich bei den Teammitgliedern das ein oder andere „positive“ Verhalten einstellen. In den meisten Fällen werden offene oder verdeckte mentale Blockaden weiter wirken oder sich sogar ausbilden (dysfunctional process changes) und diese werden, je nach Stärke, zu einer Performanceverringerung führen. Auf der Basis unserer Erfahrungen stützen wir also alle drei obigen Aussagen. – Wir verstehen unter einem „self-managing team“ ein Team, das sich eventuell selbst die Organisation (Regeln, Strukturen, Prozesse) gibt oder sogar eventuell in einem agilen Handlungsrahmen wie Scrum arbeitet. Jedoch, und das ist entscheidend: Ein „self-managing team“ ist kein „self-organizing team“. Und zwar dann, wenn ein „self-organizing team“ ein Team ist, das nach den Prinzipien sogenannter selbstorganisierter Systeme organisiert ist. Wir definieren „self-organizing teams“ als Teams, die sich gemäß der Theorie der Selbstorganisation (der Synergetik) organisieren. – Und diese Form der Selbstorganisation ist beliebig weit von einer Organisation entfernt, die man nach üblichem Verständnis als „self-managing“ oder „self-organizing“ bezeichnet. Hiernach liegt nur dann Selbstorganisation vor, wenn die drei Systemparametertypen (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) per Führung richtig eingestellt sind (man siehe hierzu auch den Blog-Eintrag „Karl Marx und die Theorie der Selbsorganisation“ oder [4]).
Die Überprüfung der Aussage „Self-managing teams perform better in realizing change than traditionally managed teams.“ spiegelt also auch meine Erfahrung von sogenannten „self-managing teams“ wider: Sie sind nämlich nur in Ausnahmefällen performanter als sogenannte „klassisch geführte Teams“. Nämlich dann, wenn sie per Zufall nach der Theorie der Selbstorganisation arbeiten, ohne es zu wissen. In der Praxis dürfte ein solcher Zufall jedoch sehr unwahrscheinlich sein.
Obwohl die Aussage „Self-managing teams perform better in realizing change than traditionally managed teams“ im allgemeinen nicht zutrifft, und dies auch die angeführte wissenschaftliche Literatur (weitgehend) bestätigt, ist die Vorgehensweise um einen „Beweis“ zu bringen, meines Erachtens unwissenschaftlich und in jedem Fall irreführend. Der große Mangel an der Untersuchung ist, dass dieser ein Referenzpunkt fehlt, eine Theorie. Statt dessen unterliegt man der mentalen Verzerrung, dass die Menge der wissenschaftlichen Literatur allein schon aufgrund ihrer Anzahl sich nicht irren kann.
Hätte man stattdessen zum Beispiel gesagt, dass man die aus der Theorie der Selbstorganisationen ableitbaren Hypothesen überprüfen will, hätte mean einen wohldefinierten Referenzpunkt gehabt. In diesem Fall hätte man die obige Aussage wie folgt abändern müssen: „Self-organizing teams perform better in realizing change than traditionally managed teams. And „self-organizing teams“ means here organized by the guidelines of the theory of self-organization (synergetics)“. Dann wäre sehr wahrscheinlich sehr viele oder sogar alle wissenschaftliche Literatur als „Beweis“ entfallen. Statt dessen hat man gegen etwas „gemessen“, dem kein gemeinsames Verständnis zugrunde liegt. Es besteht damit die Gefahr, dass dem Evidenzbasierten Management ein „Bärendienst“ erwiesen wird. – Denn die Vorgehensweise führt Praktiker in die Irre: Aus der obigen Überprüfung ergibt sich in der Praxis recht schnell die Schlussfolgerung „Selbsorganisation bringt keinen Performancegewinn“. – Und diese Aussage, ist, wenn man unser Verständnis von Selbstorganisation zugrunde legt, falsch!
Ich glaube, dass Evidenzbasiertes Managements nur dann vorliegt, wenn die obige Definition wie folgt abgewandelt wird.
Evidenzbasiertes Management ist eine Unternehmensführung, die sich auf ein Netzwerk von überprüften naturwissenschaftlichen, verhaltenswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Theorien stützt. Dieses Theorie-Netzwerk ist an den Kontext der Unternehmensführung anzupassen. Auf dieser Basis werden Management-Handlungen auf wissenschaftliche Befunde zur Unternehmensführung gegründet oder alternativ auf in der Praxis aus dem Theorien-Netzwerk gewonnene Hypothesen, die sich in der Erfahrung bewährt haben.
In [4] verwenden wir ein abgestimmtes Theorie-Netzwerk, u.a. aus der Theorie der Selbstorganisation (Synergetik), der Theorie der Grundbedürfnisse (Konsistenztheorie), einem Persönlichkeitsmodell (MBTI), einem Kulturmodell (Spiraldynamics)
Die nachfolgenden beiden Abbildungen aus [4], verdeutlichen insbesondere wie im situativen Handeln ein Plan-Do-Check-Act iterativ durchlaufen wird, um die Führung adaptiv auf der Basis von Theorie und Praxis (Erfahrung) in einem komplexen Umfeld anzupassen:
Evidenzbasiertes Management
Die Grundidee ist, dass in einer Einheit von Theorie und Praxis, die Management-Handlungen iterativ dem erfahrenen Kontext angepasst werden. Es werden kontinuierlich Hypothesen gebildet, die sich in der Erfahrung bewähren müssen oder verworfen werden. Wichtig ist, dass diese Hypothesen nicht allein auf der Basis persönlicher Intuition gebildet werden, wie es vielleicht in dem Nicht-Evidenzbasierten Management erfolgt, sondern die Hypothesenbildung auf der Basis eines wissenschaftlich fundierten Theorie-Netzwerkes erfolgt.
Da im praktischen situativen Handeln es nicht angebracht ist, zuerst ein oder mehrere Bücher zum Theorie-Netzwerk zu Rate zu ziehen, ist es notwendig seine Intuition in der permanenten Anwendung der Theorien zu trainieren. Die so trainierte Intuition ist nach meiner Erfahrung wahrscheinlich das einzige wirksame Mittel, um mit Komplexität und damit verbundener Unsicherheit erfolgreich umzugehen.
[1] Ten Have S et al. (2016) Reconsidering Change Management: Applying Evidence-Based Insights in Change Management, Routledge Studies in Organizational Change &Development, kindle edition
[2] Center for Evidence-Based Management, www.cebma.org, 2311 EZ Leiden, Niederlande
[3] de.m.wikipedia.org/wiki/Evidenzbasiertes_Management, aufgerufen am 15.07.2018
[4] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer
Anlässlich seines 200-Jährigen Geburtstages am 05.05.2018 habe ich mich daran erinnert, dass ich vor langer Zeit ein großer Fan von Marx und seinem Kapital [1] war. Nicht weil mich der Marxismus und Kommunismus damals wie heute besonders angesprochen hat, sondern weil mich die Scharfsinnigkeit seiner Gedanken faszinierte sowie die erfrischende Verbindung von Theorie und Praxis.
Einige Jahre später faszinierte mich, auf vielleicht noch größere Weise, die Theorie der Selbstorganisation. Die Selbstorganisation ist, soweit wir dies heute wissen, ein universelles Prinzip und beschreibt sogenannte emergente Phänomene, die auf dem kollektiven komplexen Verhalten von vielen Objekten bestehen. – So versucht die Theorie der sozialen Selbstorganisation die Ausbildung von gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen (Makro-Ebene) auf der Basis des Verhaltens von Menschen (Mikro-Ebene) zu beschreiben. Die Theorie der Selbstorganisation, insbesondere die Synergetik [2], ist heute ein wesentlicher Bestandteile meiner Arbeit und ein wesentlicher Teil der Collective Mind – und Management 4.0 – Theorie und Praxis [3], [4], [5].
Ich verweise auch auf die sehr gelungene Zusammenstellung der verschiedenen Theorieschulen der Ökonomie, die alle sehr unterschiedlich mit der Gestaltung von Makro- und Mikro-Ebene umgehen: https://www.exploring-economics.org/de/orientieren/#discover. Exploring Economics plädiert für eine Vielfalt in den Betrachtungsweisen, der ich mich sehr gerne anschließe. Ich glaube zusätzlich, dass das Denken in „Schulen“ überwunden werden müsste, hin zu einer integrativen Betrachtungsweise, in der sich die verschiedenen Perspektiven als Grenzfälle ergeben, je nachdem worauf der Fokus gelegt wird: Derzeit ist es allerdings so, dass es z.B. zwischen der Schule „Evolutionsökonomie“, der Schule „Komplexitätsökonomie“ und der Schule „Marxistische Politische Ökonomie“ wenig Integratives gibt. – Falls die Prinzipien der Selbstorganisation tatsächlich universell sind, so müssten sie in der Lage sein, diese Integration zu leisten.
In den Trainings zu Management 4.0 skizziere ich immer mal wieder den Zusammenhang zwischen Selbstorganisation und gesellschaftlichen Entwicklungen (Flüchtlingsthema, Brexit, AfD, Trump, die Ausbildung exponentieller Organisationen wie Facebook und Google sowie die soziale Selbstorganisation mittels digitaler Netzwerke) – Man siehe hierzu auch die Ausführungen von Ebeling und Feistel in der Zeitschrift der Leibniz-Sozietät [6].
Dies Alles brachte mich auf die Idee, mir die Theorie von Marx unter dem Blickwinkel der Selbstorganisation anzusehen. – Zumal ich vor kurzem das überaus beeindruckende Buch von Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ [7] gelesen habe und beim Lesen sich der Gedanke aufdrängte, dass Piketty mit „big data“ den Wirkmechanismen der ökonomischen und damit der gesellschaftlichen Selbstorganisation der letzten 300 Jahre auf den Grund gegangen ist.
Piketti schreibt am Ende seines Buches [7]:
„Die allgemeine Lehre, die sich aus den untersuchten Daten ziehen lässt, ist die, dass die Dynamik einer auf Privateigentum beruhenden Marktwirtschaft, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, machtvolle Konvergenzkräfte freisetzt, die namentlich in der Verbreitung von Kenntnissen und Fähigkeiten liegen, aber auch machtvolle Divergenzkräfte, die unsere demokratischen Gesellschaften und jene soziale Gerechtigkeit bedrohen, die zu ihren Legitimationsgrundlagen zählt. Die mächtigste destabilisierende Kraft liegt in der Tatsache, dass die private Kapitalrendite r dauerhaft sehr viel höher sein kann als die Wachstumsrate des Einkommens und der Produktion g. Die Ungleichung r > g sorgt dafür, dass Vermögen, die aus der Vergangenheit stammen, sich schneller rekapitalisieren, als Produktion und Löhne wachsen. In dieser Ungleichheit spricht sich ein fundamentaler Widerspruch aus. Je stärker sie ausfällt, umso mehr droht der Unternehmer sich in einen Rentier zu verwandeln und Macht über diejenigen zu gewinnen, die nichts als ihre Arbeit besitzen. Wenn es einmal da ist, reproduziert Kapital sich von selbst – und zwar schneller, als die Produktion wächst. Die Vergangenheit frisst die Zukunft.“
Dies hätte Marx, so oder so ähnlich, auch sagen können!
Das Bild ist aus [7] entnommen. – Ich gehe auch davon aus, dass die Kapitalrendite durch die Digitalisierung, in der Roboter noch mehr die Bearbeitung von (standardisierten) Prozessen übernehmen werden, weiter steigen wird, da Roboter vor allem Kapitalinvestitionen darstellen.
Eine Recherche im Internet ergibt die für mich doch überraschende Erkenntnis, dass mein Gedanke, die Theorie von Marx in die Nähe der Theorie der Selbstorganisation zu rücken keineswegs neu ist. Ja, dass vielmehr Marx als Ur-Vater der ökonomischen und gesellschaftlichen Theorie der Selbstorganisation angesehen wird. Deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn man Marx – abgesehen von dem Missbrauch seiner Ideen durch Andere in Marxismus und Kommunismus – vor allem heute, als eines der großen Genies neben Darwin und Einstein ansieht [8].
Marx hat von sich selbst behauptet, dass er kein Marxist sei.- Gleichwohl hat er in Kenntnis der unsäglichen Arbeitsbedingungen des 19ten Jahrhunderts als Kommunist gewirkt, der eine Revolution herbeiführen wollte, um dem Menschen seine Würde und Freiheit wieder zu geben. In der Umsetzung seiner Theorie sind der russische Kommunismus und der frühe chinesische Marxismus jedoch gescheitert. Meines Erachtens weil die grundlegenden Prinzipien der Selbstorganisation verletzt wurden.
Dies ist umso erstaunlicher, als schon Marx selbst den Zusammenhang zwischen seiner Theorie und Darwin’s Evolutionstheorie hergestellt hat. – Heute geht man davon aus, dass die (ökonomischen) Evolution durch Selbstorganisation angetrieben wird.
Weise [9] schreibt hierzu:
„Seine Sichtweise (Anm.: Marx‘ Sichtweise) der Evolution von Gesellschaftssystemen findet sich klar ausformuliert in „Zur Kritik der Politischen Ökonomie: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt … Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ “
In der naturwissenschaftlich geprägten Theorie der Selbstorganisation (Synergetik) wird Selbstorganisation durch drei Parametertypen und die sich daraus emergent ausbildende Makrostruktur beschrieben [4]:
Alle in der obigen Tabelle exemplarisch genannten Parameter sind Variable, die unterschiedlichen Zeitskalen unterliegen: Die Rahmenparameter bleiben typischer Weise auf einer sehr langen Zeitskala stabil, wohingegen die Kontrollparameter, wie der Name schon sagt, Parameter sind, mit denen man ein System auf einer kürzeren Zeitskala per Intervention in seinem Verhalten beeinflusst bzw. beeinflussen kann. Die Ordnungsparameter sind Parameter, die sich abhängig vom System und den vorliegenden Rahmenparametern und Kontrollparametern „von selbst“ (also emergent) ausbilden und damit zur Ausbildung einer Makrostruktur führen. – Für Makrostruktur hat Marx den Begriff (gesellschaftlicher) Überbau (d.h. oberhalb der Ebene der Individuen, der Mikro-Ebene) verwendet.
Was Rahmenparameter, Kontrollparameter und Ordnungsparameter sind, kann man nicht immer zweifelsfrei sagen, oft sind die Grenzen, insbesondere zwischen Rahmenparametern und Kontrollparametern sowie Kontrollparametern und Ordnungsparametern fließend. – Meines Erachtens konnte z. B. Piketty mit seinen umfangreichen Datenanalysen zeigen, dass die Differenz r-g (siehe obiges Zitat) die Funktion eines Ordnungsparameters hat. – Vermutlich hätte Marx dem Kapital selbst die Funktion eines Ordnungsparameters zugeschrieben.
Ein System, das mit Hilfe dieser drei Parametertypen modelliert wird, ist ein dynamisches System. Das System verharrt für eine bestimmte Zeit in einem metastabilen Zustand (metastabil bedeutet, dass kleinste Störungen, das System verändern können); es kann aber jeder Zeit aus diesem Zustand in einen anderen metastabilen Zustand wechseln kann, wenn die Parameter sich ändern. Jeder so erreichte Zustand wird durch den Verlauf der vorherigen Zustände wesentlich mitbestimmt. Damit spielt die Historie eines Systems eine prominente Rolle für den aktuell eingenommen Zustand: Die Historie eines Systems wirkt wie ein Rahmenparameter, sie lässt sich ja nicht mehr verändern!
Die nachfolgende Abbildung zeigt die Systemparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) in Anlehnung an Marx und Piketty für das ökonomische Teilsystem einer Gesellschaft. Ich erhebe nicht den Anspruch, das ökonomische Teilsystem auch nur ansatzweise vollständig beschrieben zu haben. Ein System wie Deutschland besteht wahrscheinlich aus sehr vielen Teilsystemen, die alle über entsprechende Systemparameter zu beschreiben sind und deren Systemparameter auf komplexe Weise (also über Rückkopplungen auf Mikro-Ebene wie Makro-Ebene) mit einander wechselwirken. – Vergleicht man die Einträge zu der Zeile „Gesellschaft“ in der obigen Tabelle, so stellt man fest, dass diese Parameter nicht mit denjenigen des ökonomischen Teilsystems übereinstimmen: Ich gehe davon aus, dass die in der Tabelle beschriebenen Parameter (heute eher) das Gesamtsystem beschreiben und dass die ökonomischen Systemparameter das Teilsystem Ökonomie skizzieren. (In der Marx’schen Theorie ist hingegen das ökonomische System, das System das (eher) das Gesamtsystem beschreibt. Es ist nicht auszuschließen, dass die „Hierarchie“ der Teilsysteme von der Entwicklung einer Gesellschaft abhängt. In jedem Fall ist die Frage nach der „Hierarchie“ eine sehr wichtige Frage, die hier nicht abschließend beantwortet werden kann.)
Natürlich findet zwischen den Teilsystemen eine Wechselwirkung statt: Wächst die Ungleichheit, so ist dies eine Ursache für den Verlust von Identifikation und emotionaler Sicherheit. Letztendlich werden auf dieser Basis die (bestehenden) Werte und verbindenden Glaubenssätze in Frage gestellt, was zu einem Verlust der (bisherigen) gesellschaftlichen Ordnung führt bzw. führen kann.
Auf der Basis der Analysen von Marx und Piketty habe ich die Produktionskräfte, aber auch die Historie und das Umfeld den Rahmenparametern zugeordnet. Ich glaube, dass es z.Zt. im Kontext der Digitalisierung enorm wichtig ist, ob man die Technologie als Rahmenparameter versteht oder als Kontrollparameter. Falls man die Digitalisierung als Rahmenparameter versteht, dann heißt dies auch, dass die damit verbundene gesellschaftliche Entwicklung im ökonomischen Teilsystem einfach hingenommen wird. Falls die Technologie als zu gestaltender Kontrollparameter verstanden wird, wäre zu überlegen, wie man diesen gestalten muss, damit sich dieser günstig auf den oder die Ordnungsparameter auswirkt. Denn es wäre ja sicherlich wünschenswert, dass die sich ausbildende Makrostruktur die Ungleichheit nicht weiter verstärkt.
Wie Piketty zeigt, ist z.B. das Steuersystem ein sehr wichtiger Kontrollparameter, um den Ordnungsparameter zu beeinflussen. Als Ordnungsparameter habe ich in Anlehnung an Piketty die zentrale Größe r-g (Kapitalrendite – Wachstum von Produktion und Einkommen) gewählt, da Piketty gezeigt hat, dass diese Größe unmittelbar die Ausbildung der Ungleichheits-Makrostruktur hervorruft. Piketty charakterisiert die Ungleichheit über den Anteil des Vermögens und des Einkommens: Z.B. besitzen in Europa im Jahre 2010 0,1% der Bevölkerung ca. 23 % des Vermögens, 10% der Bevölkerung ca. 63% des Vermögens. Bei Marx wird die Ungleichheits-Makrostruktur durch das Verhältnis des Eigentums von Bourgeoisie und Arbeiterschaft beschrieben: Die einen haben das Kapital, das ständig wächst, und die anderen sind zu dem Schicksal verdammt, das sich aus diesem Verhältnis ergibt. Die Ungleichheit wächst nach Marx aber nicht beliebig, es wird einen Punkt geben, an dem sich die Ungleichheit (per kritischer Selbstorganisation, wie wir heute sagen würden) entlädt. Marx hat diesen Punkt als systemspezifischen Punkt erkannt und den Start für die Revolution an diesem Punkt festgemacht.
Aus diesen Darstellungen kann man auch unmittelbar ableiten, dass soziale Systeme, die durch Ungleichheit gekennzeichnet sind, anfälliger für unkontrollierte Veränderungen sind, wenn von außen Komplexität zugeführt wird. Neue Technologien, wie die Digitalisierung, aber auch die Aufnahme von Flüchtlingen wirken als Komplexitätstreiber (Kontrollparameter), die die Komplexität unkontrolliert antreiben. Wenn diese Komplexitätstreiber die Ungleichheit objektiv vergrößern oder auch nur wahrgenommen vergrößern, kann dies in den Bereich der kritischen Selbstorganisation führen. Meines Erachtens ist das Auftauchen der AfD und Pegida ein Vorbote hierfür.
Also ist es für unsere nachhaltige Entwicklung von enormer Bedeutung, Phänomene der sozialen, technischen und natürlichen Selbstorganisation und deren Wechselwirkungen zu verstehen.
Bedenkt man, dass in der deutschen wie internationalen sozialen Komplexitäts- und Selbstorganisationsforschung ein großes Wissen über diese Zusammenhänge vorliegt, so ist es bedauerlich, dass unsere verantwortlichen Politiker diese Kompetenz nicht für ihr Handeln berücksichtigen. Ihr Handeln spiegelt leider das derzeit für sie verfügbare aber unzureichende Bewusstseins- und Wertesystem wider.
[1] Marx K (2014) Das Kapital, Vollständige Gesamtausgabe in 3 Bänden. e-artnow, kindle Version
[2] Haken H, Schiepek G (2010) Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten. Hogrefe-Verlag, Göttingen
[3] Köhler J, Oswald A (2009) Collective Mind Methode. Springer, Heidelberg
[4] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos. 2. Auflage, Springer, Heidelberg
[5] Oswald A, Müller A (2018) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices. BoD, Norderstedt
[6] Ebeling W, Feistel R (2017) Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft und Strategien zur Gestaltung der Zukunft. Leibniz Online, Nr. 28. Zeitschrift der Leibniz-Sozietät e.V.
[7] Piketty T (2016) Das Kapital im 21. Jahrhundert (German Edition). C.H.Beck. Kindle-Version
[8] Neffe J (2017) Marx. Der Unvollendete. C. Bertelsmann Verlag. Kindle-Version
[9] Weise P (1998 ) Evolution und Selbstorganisation bei Karl Marx in Warnke C, Huber G (Hrsg.) Die ökonomische Theorie von Marx – was bleibt?. Metropolis-Verlag, Marburg