Bei meinen Recherchen zum Thema Change Management bin ich auf das Buch „Reconsidering Change Management: Applying Evidence-Based Insights in Change Management Practice“ [1] gestoßen. Dieses Buch steht im Kontext einer Initiative, die sich zum Ziel gesetzt hat, Management auf Evidenz abzustützen [2].
Wikipedia definiert Evidenzbasiertes Management wie folgt [3]:
„Evidenzbasiertes Management (engl. Evidence: Beweis, Beleg, Hinweis) ist eine aus Amerika kommende Denkrichtung, die in Anlehnung an die Evidenzbasierte Medizin fordert, dass insbesondere die Entscheidungen des Managements durch den expliziten Gebrauch bestmöglicher wissenschaftlicher, wenn möglich empirischer Methoden und Befunde getroffen werden.
Evidenzbasiertes Management ist am ehesten mit Beweisgestützter Unternehmensführung übersetzbar und tritt grundsätzlich dafür ein, Management-Praktiken in sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Befunden zu verankern und formale Rückblicke und Evaluationen auf Handlungen oder Ereignisse als zwingende Grundlage für weiteres Handeln anzusehen.“
Soweit, so gut: Viele Manager bzw. Führungskräfte werden sicherlich zustimmen, dass dies wünschenswert ist und einige (wenige) werden auch schließen, dass Alles getan werden sollte, damit Management einen wissenschaftlichen Kontext bekommt damit Management-Handlungen an nachprüfbarer Wirksamkeit orientiert werden.
Eine der Fragen, die sich stellt, ist: „Wann liegt ein „Beweis“ vor?“
In dem Eingangs genannten Buch zum Change Management wurden umfangreiche Literaturrecherchen vorgenommen:
Aus der Management-Literatur wurden 18 Aussagen zum Change Management extrahiert, die in einem Großteil der Management-Literatur als wahr angenommen werden.
Gemäß der Grundidee des Evidenzbasierten Managements wurden zusätzlich umfangreiche Recherchen in der wissenschaftlichen Literatur herangezogen, um für diese Aussagen einen „Beweis“ zu erbringen.
Die nachfolgenden Tabellen fassen die Ergebnisse zusammen. Hiernach ergibt sich für die Aussagen in sehr vielen Fällen keine Evidenz. Evidenz, also „Beweis“, bedeutet hiernach, dass die Bewertung aller derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Literatur, die getroffene Aussage wahrscheinlich stützt. Evidenz wird in der Tabelle unter „Wahrscheinlich wahr“ als „Ja“ gekennzeichnet.
Jetzt könnte man als Manager auf den Gedanken kommen: „Prima, jetzt habe ich ja mal zumindest für diese Aussagen, eine ziemlich klare wissenschaftliche Aussage, die mir weiterhilft.“
Schauen wir uns an, ob dies wirklich zutrifft.
Nehmen wir zum Beispiel die letzte Aussage: „Self-managing teams perform better in realizing change than traditionally managed teams.“ Ein Manager, der sogenannten „self-managing teams“ skeptisch gegenübersteht, hat jetzt den „Beweis“, dass das ganze Gerede von „self-managing teams“ wahrscheinlich wenig bringt, denn die wissenschaftliche Literatur liefert für diese Aussage keinen klaren „Beweis“.
Um die Aussage zu überprüfen wurde wissenschaftliche Literatur verwendet in der alternativ die Begriffe „self-managing teams, self-directing teams, self-regulating teams, self-organizing teams, self-leading teams, autonomous teams, autonomous task groups, autonomous work groups, and team leadership“ verwendet wurde.
So stellt die Untersuchung fest, dass aus dieser so ausgewählten wissenschaftlichen Literatur folgende Aussagen extrahiert werden können:
The direct relationship between self-managing teams and performance is not clear and is influenced by several contextual factors.
Self-managing teams show moderate positive effects on attitude and behavioral outcomes.
Self-managing teams that experience misalignment with their task environment are more likely to choose dysfunctionl process changes rather than functional structural changes.
Wirft man einen Blick auf die sehr unterschiedlichen Begriffe, die für die Auswahl der Literatur herangezogen wurden und die daraus abgeleiteten Aussagen, so sind die Aussagen noch erstaunlich „konsistent“.
Gleichzeitig offenbart die Vorgehensweise und die daraus gezogenen Schlüsse, meines Erachtens, einen eklatant unwissenschaftlichen Ansatz: Alle Begriffe werden in einen Topf geworfen und es gibt keine Definition, keine Theorie oder kein Modell, was man unter „self-managing teams“ verstehen soll. Man kann sich fragen, ist „self-managing teams“ wirklich das Gleiche wie „self-organizing teams“ oder das Gleiche wie „autonomous teams“.
In unserem Buch „Projektmanagement am Rande des Chaos“ [4], sagen wir: Nein, das ist keineswegs das gleiche. Die Unterschiede sind sogar enorm groß. Wir behaupten sogar, dass ein „self-managing team“ im Normalfall, wie hier auch gesagt, keinen Performancegewinn zeigt. Eventuell wird sich bei den Teammitgliedern das ein oder andere „positive“ Verhalten einstellen. In den meisten Fällen werden offene oder verdeckte mentale Blockaden weiter wirken oder sich sogar ausbilden (dysfunctional process changes) und diese werden, je nach Stärke, zu einer Performanceverringerung führen. Auf der Basis unserer Erfahrungen stützen wir also alle drei obigen Aussagen. – Wir verstehen unter einem „self-managing team“ ein Team, das sich eventuell selbst die Organisation (Regeln, Strukturen, Prozesse) gibt oder sogar eventuell in einem agilen Handlungsrahmen wie Scrum arbeitet. Jedoch, und das ist entscheidend: Ein „self-managing team“ ist kein „self-organizing team“. Und zwar dann, wenn ein „self-organizing team“ ein Team ist, das nach den Prinzipien sogenannter selbstorganisierter Systeme organisiert ist. Wir definieren „self-organizing teams“ als Teams, die sich gemäß der Theorie der Selbstorganisation (der Synergetik) organisieren. – Und diese Form der Selbstorganisation ist beliebig weit von einer Organisation entfernt, die man nach üblichem Verständnis als „self-managing“ oder „self-organizing“ bezeichnet. Hiernach liegt nur dann Selbstorganisation vor, wenn die drei Systemparametertypen (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) per Führung richtig eingestellt sind (man siehe hierzu auch den Blog-Eintrag „Karl Marx und die Theorie der Selbsorganisation“ oder [4]).
Die Überprüfung der Aussage „Self-managing teams perform better in realizing change than traditionally managed teams.“ spiegelt also auch meine Erfahrung von sogenannten „self-managing teams“ wider: Sie sind nämlich nur in Ausnahmefällen performanter als sogenannte „klassisch geführte Teams“. Nämlich dann, wenn sie per Zufall nach der Theorie der Selbstorganisation arbeiten, ohne es zu wissen. In der Praxis dürfte ein solcher Zufall jedoch sehr unwahrscheinlich sein.
Obwohl die Aussage „Self-managing teams perform better in realizing change than traditionally managed teams“ im allgemeinen nicht zutrifft, und dies auch die angeführte wissenschaftliche Literatur (weitgehend) bestätigt, ist die Vorgehensweise um einen „Beweis“ zu bringen, meines Erachtens unwissenschaftlich und in jedem Fall irreführend. Der große Mangel an der Untersuchung ist, dass dieser ein Referenzpunkt fehlt, eine Theorie. Statt dessen unterliegt man der mentalen Verzerrung, dass die Menge der wissenschaftlichen Literatur allein schon aufgrund ihrer Anzahl sich nicht irren kann.
Hätte man stattdessen zum Beispiel gesagt, dass man die aus der Theorie der Selbstorganisationen ableitbaren Hypothesen überprüfen will, hätte mean einen wohldefinierten Referenzpunkt gehabt. In diesem Fall hätte man die obige Aussage wie folgt abändern müssen: „Self-organizing teams perform better in realizing change than traditionally managed teams. And „self-organizing teams“ means here organized by the guidelines of the theory of self-organization (synergetics)“. Dann wäre sehr wahrscheinlich sehr viele oder sogar alle wissenschaftliche Literatur als „Beweis“ entfallen. Statt dessen hat man gegen etwas „gemessen“, dem kein gemeinsames Verständnis zugrunde liegt. Es besteht damit die Gefahr, dass dem Evidenzbasierten Management ein „Bärendienst“ erwiesen wird. – Denn die Vorgehensweise führt Praktiker in die Irre: Aus der obigen Überprüfung ergibt sich in der Praxis recht schnell die Schlussfolgerung „Selbsorganisation bringt keinen Performancegewinn“. – Und diese Aussage, ist, wenn man unser Verständnis von Selbstorganisation zugrunde legt, falsch!
Ich glaube, dass Evidenzbasiertes Managements nur dann vorliegt, wenn die obige Definition wie folgt abgewandelt wird.
Evidenzbasiertes Management ist eine Unternehmensführung, die sich auf ein Netzwerk von überprüften naturwissenschaftlichen, verhaltenswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Theorien stützt. Dieses Theorie-Netzwerk ist an den Kontext der Unternehmensführung anzupassen. Auf dieser Basis werden Management-Handlungen auf wissenschaftliche Befunde zur Unternehmensführung gegründet oder alternativ auf in der Praxis aus dem Theorien-Netzwerk gewonnene Hypothesen, die sich in der Erfahrung bewährt haben.
In [4] verwenden wir ein abgestimmtes Theorie-Netzwerk, u.a. aus der Theorie der Selbstorganisation (Synergetik), der Theorie der Grundbedürfnisse (Konsistenztheorie), einem Persönlichkeitsmodell (MBTI), einem Kulturmodell (Spiraldynamics)
Die nachfolgenden beiden Abbildungen aus [4], verdeutlichen insbesondere wie im situativen Handeln ein Plan-Do-Check-Act iterativ durchlaufen wird, um die Führung adaptiv auf der Basis von Theorie und Praxis (Erfahrung) in einem komplexen Umfeld anzupassen:
Die Grundidee ist, dass in einer Einheit von Theorie und Praxis, die Management-Handlungen iterativ dem erfahrenen Kontext angepasst werden. Es werden kontinuierlich Hypothesen gebildet, die sich in der Erfahrung bewähren müssen oder verworfen werden. Wichtig ist, dass diese Hypothesen nicht allein auf der Basis persönlicher Intuition gebildet werden, wie es vielleicht in dem Nicht-Evidenzbasierten Management erfolgt, sondern die Hypothesenbildung auf der Basis eines wissenschaftlich fundierten Theorie-Netzwerkes erfolgt.
Da im praktischen situativen Handeln es nicht angebracht ist, zuerst ein oder mehrere Bücher zum Theorie-Netzwerk zu Rate zu ziehen, ist es notwendig seine Intuition in der permanenten Anwendung der Theorien zu trainieren. Die so trainierte Intuition ist nach meiner Erfahrung wahrscheinlich das einzige wirksame Mittel, um mit Komplexität und damit verbundener Unsicherheit erfolgreich umzugehen.
[1] Ten Have S et al. (2016) Reconsidering Change Management: Applying Evidence-Based Insights in Change Management, Routledge Studies in Organizational Change &Development, kindle edition
[2] Center for Evidence-Based Management, www.cebma.org, 2311 EZ Leiden, Niederlande
[3] de.m.wikipedia.org/wiki/Evidenzbasiertes_Management, aufgerufen am 15.07.2018
[4] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer