Vor Kurzem bin ich auf den Spiegelartikel „Wir brauchen das Grundrecht auf eine analoge Existenz“ von Alexander Grau gestoßen [1], [2]. Dieser Artikel hat diesem Blog-Beitrag einen Teil des Titels gegeben.
Alexander Grau geht von folgender Grundannahme aus: „Digitalisierung ist längst keine Technologie mehr, sondern eine Ideologie…. Die Digitalisierung ist der Fetisch unserer Zeit… Allenfalls von ein paar Datenschützern oder Entwicklungspsychologen sind hin und wieder kritische Töne zu hören.“
Ist das so?
Andererseits gibt es AutorInnen wie Andrea Gadeib, die zwar eine optimistische Zukunft auf der Basis der Digitalen Transformation haben, gleichzeitig titelt ihr Buch „Die Zukunft ist menschlich: Manifest für einen intelligenten Umgang mit dem digitalen Wandel in unserer Gesellschaft.“ Der Titel manifestiert ihre statistische Erhebung, wonach im Jahre 2018 80% der deutschen Bevölkerung Angst vor der (unmenschlichen) Digitalisierung haben.
Das Recht auf eine analog Existenz – wie darf man dies verstehen? Heißt dies, dass das Recht auf eine analoge Existenz im Grundgesetz festgeschrieben wird und dass im Jahre 2050 jeder noch das Recht hat, mit Bargeld zu bezahlen, oder dass die Steuererklärung auch dann noch per Papier abgegeben werden darf, oder dass die Deutsche Bahn auch dann noch Schalter zur Verfügung stellen muss, an denen der Verkauf eines Papiertickets möglich ist, …oder, dass wir dann noch Autos oder Waschmaschinen haben werden bzw. haben müssen, die keine Chips enthalten, …oder…oder…oder…
Die Digitalisierung kann sicherlich Angst machen: Wenn sie einen überfordert oder wenn man glaubt, dass sie einem die Arbeit wegnimmt und man verarmt. Oder wenn man glaubt, dass Künstliche Intelligenzen uns beherrschen werden, oder dass Roboter die menschliche Interaktion ersetzen …oder…oder…, oder dass KI uns eines Tages auslöschen wird.
Alexander Grau zitiert den Politologe Patrick J. Deneen „Wir seien, so der Wissenschaftler, »autonom und frei, und doch genau den Technologien unterworfen, die uns das Gefühl von Unabhängigkeit vermitteln«.“.
Genau diese Aussage kann ich sehr gut nachvollziehen.- Sie ist vielleicht eine neue Erkenntnis, die Basis, auf der sie beruht, ist jedoch keineswegs so neu.
Wir ‚entscheiden uns ständig‘, Facebock, Twitter, LinkedIn und wie sie alle heißen zu nutzen, Influencern oder auch besonders rührigen Kollegen zu folgen und entsprechende Like‘s einzugeben. – Wir verlassen uns auf die Kaufempfehlungen von Amazon und Co., die wir selbst erzeugen. – Wir like‘n die ideologischen Empfehlungen verschiedener Politiker und trage damit zu deren Popularität bei….
Oder wir machen es mal ganz anders: Wir reagieren einfach mal mehrere Stunden oder Tage auf keine eMail oder Whats App Nachricht. Wir like‘n nicht jede Nachricht, die uns angeboten wird, und lesen mal ein Buch, das zwar mehr Fokus erfordert, statt den Kurzinfos diverser Kollegen oder Politiker zu folgen.
Diese letzte Form von Freiheit hat viel mit Bildung und Kompetenz, insbesondere Digitaler Bildung, und einer entsprechenden selbstreflektierenden Kompetenz zu tun. – Diese selbstreflektierende Kompetenz, die ich schon des Öfteren als Metakompetenz bezeichnet habe, wird umso wichtiger, je komplexer unser Leben wird. Digitale Kompetenz ist der Schlüssel, damit wir unsere Freiheit in der Digitalität (Digitalität = Digitale Realität) wahrnehmen können.
Mehrere Schritte zurück in die rein analoge Welt auf der Basis eines Grundrechtes nach einer analogen Existenz macht keinen Sinn. Diese Forderung ist naiv und mutet mich sogar dumm an. Es zeigt meines Erachtens auch ein Fehlen von Metakompetenz an. So schreibt Alexander Grau:
„Natürlich griffen schon Dampfmaschine, Elektrizität oder Verbrennungsmotor massiv in die Gesellschaft, unsere Arbeitswelt und unser Wertesystem ein. …Aber sie manipulierten nicht unser Denken. Anders die digitalen Technologien. Sie steuern unsere Gedanken und entwerfen unsere Träume. … Diese Entwicklung unterminiert die Basis liberaler Demokratien. … Nur der Mensch, der die Möglichkeit hat, ein analoges Leben zu führen, ist im eigentlichen Sinne frei. …Diese Freiheit zu schützen wäre die wichtigste und dringlichste Aufgabe des Staates. Doch der Staat schützt sie nicht. Stattdessen opfert er sie lieber wirtschaftlichen und technologischen Interessen, die als Notwendigkeiten deklariert werden. …“
Wer sich mit Auto-Enthusiasten unterhält, wird schnell feststellen, wie das Auto mit oder ohne Verbrennungsmotor und seine emotionale Aufladung als Freiheitssymbol über Jahrzehnte unser Denken manipuliert hat. Oder wie möge man erklären, dass über Jahrzehnte Landschaften auf dieser Basis gestaltet wurden und gerade heute die sogenannten nachhaltigen E-Autos immer dicker und umweltschädlicher werden. Unser individuelles und gesellschaftliches Denken ist massiv und großflächig von dieser Technologie manipuliert. – Es wird nicht so gesehen, weil es längst zum allgemeinen Gedankengut geworden ist.
Die Degrowth Bewegung [4] steht für eine Abkehr von jeglicher Technologie, da die ständige Weiterentwicklung der Technologie die Basis eines Wachstums ist, das uns mehr schädigt als es uns nützt.
Technologie ist per se nicht gut oder böse oder ideologisch, wir sind es. Was wir benötigen, ist ein Umgang mit der Technologie, der unser individuelles und gesellschaftliches Handeln in seinen örtlichen und zeitlichen Konsequenzen mit einpreist. Und genau das haben wir meines Wissens bei keiner Technologie bisher getan, beim Auto nicht und bei der Digitalisierung bisher auch nicht.
Man möge sich die Frage stellen, was gewesen wäre, wenn ehemals zu Gutenbergs Zeiten gefordert worden wäre ‚Jeder hat das Recht sich Schrift und Buch zu entziehen, das ist eine Technologie, die in unsere Freiheit eingreift, weil sie uns die Gedanken anderer, die uns manipulieren, dauerhaft zum Nach-Denken gibt.‘
Vor ein paar Wochen wurde mir das Buch ‚Walden‘ von Henry David Thoreau geschenkt [5], [6], [7]. Thoreau beschreibt in diesem Buch aus dem Jahre 1854 (!) seinen zweijährigen Aufenthalt in einer Waldhütte in Nordamerika. Ein Buch voller Metakompetenz. Mahatma Gandhi und Martin Luther King sollen von ihm beeinflusst worden sein, sowie die Naturbewegung und die Degrowth Bewegung. Ich möchte nur ein Zitat hier anführen, das viel mit unserer digitalen Like-Kultur zu tun hat: „Macht einer nach dem Essen ein halbstündiges Schläfchen. So reckt er, kaum ist er erwacht, den Hals und fragt: „Was gibt’s Neues?“ – als hätten die anderen unterdessen für ihn Posten gestanden. Manch einer lässt sich zu diesem Zweck alle dreißig Minuten wecken und erzählt einem dann zum Entgelt, wovon er geträumt hat. Am Morgen sind ihm die Nachrichten so unentbehrlich wie das Frühstück…Für den Philosophen sind alle sogenannten Nachrichten nur Klatsch, und wer dergleichen druckt oder liest, ist eine Klatschbase. Dabei sind nicht wenige auf diesen Klatsch versessen.“
Für mich liest sich dies wie eine Vorwegnahme unserer Like-Kultur, es zeigt aber auch, dass dazugehörige Muster schon sehr lange existieren!
Wer möchte schon in einer zukünftigen Welt leben, in der, mit Hilfe unseres eigenen unreflektierten Handelns, Bedeutungszuweisungen durch Like‘s zu gigantischen Bedeutungsattraktoren in sozialen Medien werden, denen sich dann nur noch wenige entziehen können. Und hier hat Alexander Grau sicherlich recht: Wir sind auf dem besten Weg, dass wir unsere Unfreiheit in einem Maße global und dynamisch selbst erschaffen, wie es in der Zeit vor der Jahrtausendwende nicht möglich gewesen ist. – Einige wenige analoge Enthusiasten werden dies jedoch keinesfalls aufhalten, selbst wenn die analoge Existenz im Grundrecht verbrieft sein sollte.
Es gibt derzeit (noch) keine ganzheitliche Ethik, die u.a. der Digitalisierung Zügel anlegt. – Die Zügel einer ganzheitlichen vorausschauenden Ethik hätten wir in der Vergangenheit schon des Öftern benötigt, ob es die extensive, noch anhaltende Nutzung des Autos ist, die rein betriebswirtschaftliche Ausrichtung von Landwirtschaft und Tierhaltung, die nicht-nachhaltige Ausrichtung der Energiewirtschaft …oder …oder …
In Kombination mit den damit verbundenen heraufdämmernden Katastrophen kann die unreflektierte Digitalisierung wie ein Brandbeschleuniger wirken. So könnten Millionen oder Milliarden armer Menschen ihre Digitalität dazu verwenden, um sich zusammen zu tun, um sich gegen die reichen Nationen des Nordens zu wenden. Populisten könnten die Digitalität dazu verwenden, um rechte oder linke Ideologien oder Verschwörungsideologien als Bedeutungsattraktoren einzuführen.
Deshalb ist es um so wichtiger, dass man die Digitale Realität in ihren grundlegenden Mustern versteht.
Felix Stalder definiert Digitalität als „jenes Set von Relationen, das heute auf der Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie in der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird“ [8].
Diese Relationen erzeugen zusätzliche Verbindungen in unserem Leben, die „drei Formen des Ordnens“ hervorrufen, „die dieser Kultur ihren spezifischen, einheitlichen Charakter verleihen: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität“ [9], [10], [11].
Referentialität bedeutet die Menge an Bedeutungszuweisungen, die wir mit unseren Klicks, Likes oder anderen Formen der Bedeutungszuweisungen Dingen, Meinungen, Nachrichten und Ähnlichem zuschreiben.
Gemeinschaftlichkeit bedeutet, dass diese Bedeutungszuweisungen in einer gemeinschaftlichen Formation erfolgt, d.h. in einer Gruppe, einem digitalen Mopp, einer wissenschaftlichen, politischen, modischen, oder anderen Interessensgruppe.
Algorithmizität bezeichnet jene Aspekte der kulturellen Prozesse, die von Maschinen (vor-) geordnet werden.
Aus meiner Sicht sind diese drei Dimensionen wichtig und vorhanden, sie treffen jedoch auch für eine Dorfgemeinschaft zu. – Man siehe die zitierte Aussage von Thoreau weiter oben. – Auch dort schreiben Menschen u.a. über Smalltalk Dingen, Meinungen und Nachrichten Bedeutung zu. Auch dort bildet sich über eine gemeinschaftliche Formation eine gemeinschaftliche Ordnung heraus. In der Sprache von Komplexität und Selbstorganisation sind dies Attraktoren, Bedeutungsattraktoren, die sich auf einem Bedeutungsmarkt ausbilden. Selbst die Algorithmizität gibt es meines Erachtens schon recht lange.- Es sind dann vielleicht keine Maschinen im eigentlichen Sinne, jedoch folgt man Kafka, dann übernehmen Bürokratien die Rolle intransparenter Algorithmen.
Meines Erachtens gibt es lediglich einen entscheidenden Unterschied, die Skalierung, die den Bedeutungsmärkten in der Digitalität eine neue Qualität verleiht:
Die Bedeutungszuweisungen werden von einzelnen Menschen in digitalen Plattformen vorgenommen. Diese Plattformen sind „beliebig“ skalierbar, d.h. „unendlich“ viele Menschen können hier ihre Bedeutungszuweisungen vornehmen. D.h. es können über individuelle Referenzialität auf sehr dynamische Weise gigantisch große gemeinschaftlich Bedeutungszuweisungen entstehen. Diese gemeinschaftlichen Bedeutungszuweisungen erzeugen ihre eigne Sogwirkung, sie werden zu Bedeutungsattraktoren, sie entziehen uns unsere Freiheit. – Leider haben wir sie selbst erzeugt. Digitale Algorithmen können die Ausbildung von Bedeutungsattraktoren dämpfen, verstärken oder beschleunigen.
Auf den skalierbaren Plattformen bilden sich unter Umständen viele Bedeutungsmärkte (Bedeutungsmarktplätze) aus: Diese Bedeutungsmärkte können sich auf materielle und immaterielle Objekte beziehen. Bedeutungsattraktoren können Moderichtungen sein, politische Meinungen, Ideologien, Verschwörungsideologien, Hasstiraden, aber (auch ideologisch verbrämte) wissenschaftliche Ansichten. Diese Bedeutungsmärkte überschneiden sich recht oft auch mit den wirtschaftlichen Märkten, nämlich dann, wenn zum Beispiel bei Amazon zu einem Produkt Bewertungen abgegeben werden und diese Bewertungen das Kaufverhalten beeinflussen.
Skalierbarkeit und Bedeutungsmärkte können enormen räumlichen und zeitlichen Dynamiken unterliegen: Die Zusammensetzung der Agenten (Personen, Algorithmen) kann sich dynamisch in Qualität und Quantität ändern, so dass in kurzer Zeit Bedeutungen auf oder abgebaut werden. Diese Formen des Ordnens können auch zu exponentiellem organisationalem Wachstumsformen führen. Amazon, google und Co. sind Ergebnisse dieser neuen Dynamiken.
Skalierbarkeit und Bedeutungsmärkte zeigen dann ihr ganzes negatives Potential, wenn die Agenten (Menschen oder Algorithmen) intransparent und ohne digitale Metakompetenz wirken.
Deshalb benötigen wir, wie im Blog-Beitrag vom August 2022 angesprochen, eine ganzheitliche Ethik und eine Veränderung des Bildungssystems, das eine ganzheitliche Kultur der Digitalisierung vermittelt.
[1] Grau A (2022) Alexander Grau, http://alexandergrau.de/index.html, zugegriffen am 17.09.2022
[2] Grau A (2022) Wir brauchen das Grundrecht auf eine analoge Existenz, https://www.spiegel.de/netzwelt/web/totaldigitalisierung-wir-brauchen-das-grundrecht-auf-eine-analoge-existenz-a-8db3e557-144d-490f-8570-5c3980392a0b?context=issue&sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph, zugegriffen am 17.09.2022
[3] Gadeib A (2019) Die Zukunft ist menschlich: Manifest für einen intelligenten Umgang mit dem digitalen Wandel in unserer Gesellschaft (Dein Business), GABAL Verlag GmbH, Kindle Ausgabe
[4] Wikipedia (2022) Degrowth, https://en.wikipedia.org/wiki/Degrowth
[5] Thoreau H D (1847) Walden, Reclam Taschenbuch, Deutsche Übersetzung aus dem Jahre 1972
[6] Wikipedia (2022), Henry David Thoreau, https://de.wikipedia.org/wiki/Henry_David_Thoreau, zugegriffen am 18.09.2022
[7] Wikipedia (2022), Transzendentialismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Transzendentalismus, zugegriffen am 18.09.2022
[8] Stalder F (2016) Kultur der Digitalität, edition suhrkamp, Kindle Ausgabe
[9] Stalder F (2022) Grundformen der Digitalität, https://agora42.de/grundformen-der-digitalitaet-felix-stalder/
[10] Wikipedia (2022), Digitalität, https://de.wikipedia.org/wiki/Digitalit%C3%A4t#:~:text=Digitalit%C3%A4t%20bezeichnet%20die%20auf%20digital%20codierten%20Medien%20und,Menschen%2C%20zwischen%20Menschen%20und%20Objekten%20und%20zwischen%20Objekten, zugegriffen am 17.09.2022
[11] Hauck-Thum U, Noller J (Herausgeber) Was ist Digitalität?: Philosophische und pädagogische Perspektiven, Verlag J.B. Metzler, Kindle Ausgabe