Vom Methodenanwender zum Systemiker
Der folgende Blog-Beitrag wurde als Artikel von mir und meinem Co-Autor Jens Köhler in ähnlicher Form in der Zeitschrift IM + io [0] veröffentlicht.
Man glaubt, das Projektziel schon in Reichweite zu sehen und plötzlich taucht etwas am Horizont auf, das die ganze Planung über den Haufen wirft und häufig einen unglaublichen Aktionismus und weitere Unwägbarkeiten nach sich zieht. Das ist Projektgeschäft, so heißt es. Es stellt sich die Frage, ob dies wirklich unausweichlich ist. Um diese Frage zu beantworten, gehen wir von einer belegten Erfahrung aus: Hektik und Stress auf der letzten Meile sind auffallend oft mit einem mehr oder weniger schlechten Start auf den ersten Meilen verbunden. Deshalb formulieren wir die Hypothese, dass in einer Welt, die zunehmend durch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität gekennzeichnet wird, die ersten Meilen eines Projektes wesentlich über das Ausmaß von Hektik und Stress auf den letzten Meilen entscheiden. Im Folgenden einige Beispiele aus einer solchen VUCA-Welt (VUCA steht für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity [1]):
- [V] Um den volatilen Anforderungen des Projektumfelds gerecht zu werden, soll in einer Organisation agiles Projektmanagement eingeführt werden. In einem ersten Projekt gibt man sich alle Mühe mehr agile Techniken zu verwenden – am Ende eines umfangreichen Kick-off Meetings landet man jedoch in einem klassischen Projektplan. Das klassische Denken überwiegt, so dass man an langfristiger Planung und starren Prozessstrukturen festhält.
- [U] Im Rahmen eines Digitalisierungsprojekts liegt der Fokus auf Hardware und auf den Algorithmen zur Prognose. Die zwingend notwendige Bereinigung des Datenbestandes wird aber nicht hinreichend gewürdigt. Die Prognosen enthalten immer wieder Fehler. Der Nutzen des Digitalisierungsprojektes wird aufgrund der resultierenden Unsicherheit von den Stakeholdern in Frage gestellt.
- [C] Im Rahmen eines dringend benötigten Versionswechsels eines globalen Informationssystems in der Forschung wird im Rahmen des umfangreichen Abnahmetests das Fehlen einer wichtigen Business-Funktion festgestellt. Nach dem Test findet eine Eskalation in der Organisation statt, die Stakeholder zeigen eine hohe Unzufriedenheit – die soziale Komplexität steigt. Die nachträgliche Integration der Business-Funktion führt zusätzlich zu erheblichen Verwerfungen in der IT-Architektur des Systems, was wiederum auch zu Lasten der Stakeholder Zufriedenheit geht.
- [A] Am Ende eines Projektes zur Entwicklung von Werkstoffen betont der Auftraggeber aus der Produktion, dass er als Projektergebnis ein produktionsreifes Herstellverfahren erwartet. Das Entwicklungsteam ist völlig konsterniert und hat ein anderes Verständnis vom Projektziel, denn es hat sich im geglaubten Einverständnis mit dem Auftraggeber, auf die wissenschaftliche Basisarbeit konzentriert. Der Auftraggeber ist plötzlich „rein“ operativ unterwegs. Das Entwicklungsteam nimmt den Auftraggeber als „Bäumchen wechsel dich“ wahr.
Die VUCA-Welt verstärkt Hektik und Stress
Das Akronym VUCA wurde wohl erstmals vom US-Militär zur Beschreibung der Erfahrung von zunehmender Unüberschaubarkeit und Unvorhersehbarkeit eingeführt. Leider hilft dieses Akronym nur wenig beim Verstehen und Meistern der VUCA-Welt. Daher beschreiten wir einen anderen Weg der ebenfalls vom US-Pentagon stammt und einen besseren Einblick vermittelt. Es handelt sich um die vier Begriffspaare: known knowns, unknown knowns, known unknowns, unknown unknowns. Diese vier Begriffspaare ordnen die Objekte unserer Welt nach dem Grad von hervorgerufener Unsicherheit und erlauben uns, Strategien für unser Handeln in der VUCA-Welt zu entwickeln. In der nachfolgenden Abbildung 1 werden den vier Begriffspaaren unterschiedliche Grade an Unsicherheit zugeordnet: Sicherheit, Risiko, Ungewissheit und (höchste) Unsicherheit [2]. („Uncertainty“ in VUCA nimmt eine unzulässige Vermischung von Unsicherheit und Ungewissheit vor.)
Abbildung 1: Von der Sicherheit zur Unsicherheit
Die Zuordnung in diese Kategorien kann man sich an folgendem einfachen Beispiel verdeutlichen: Bei einem Vortrag hält der Redner die linke Hand hinter seinem Rücken. Sie haben nicht die geringste Idee, was ihn dazu bewegt. Sie stellen vielleicht Vermutungen an, dass er noch nie eine Schulung zu Vorträgen erhalten hat oder dass ihm vielleicht die Hand weh tut. Kurzum sie wissen nicht, was sie nicht wissen. Es ist der Bereich höchster Unsicherheit (unknown unknowns). Falls der Redner seine Hand nach vorne bewegt und sie öffnet, sehen Sie, dass eine Münze enthalten ist. Sie kennen jetzt zwar das Objekt (eine Münze), jedoch wissen Sie nicht, welche Münze (z.B. 1€) und warum er diese Münze in der Hand hält und was er damit vorhat. Sie sind im Bereich der unknown knowns oder dem der Ungewissheit. Man weiß zwar um die Existenz eines Objektes, jedoch seine Eigenschaften kennt man nicht. Wenn der Redner die Münze hochwirft, wissen Sie schon einiges zu den „Eigenschaften“ des Objektes „Münze“ und bevor sie auf den Boden fällt, können Sie während des Falls die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der die Münze Kopf oder Zahl ausweisen wird. In dem Moment, in dem die Münze auf dem Boden zu liegen kommt, haben Sie abrupt Sicherheit über die Münze und ihre Eigenschaft, „Kopf oben“ oder „Zahl oben“, gewonnen. Nur in dem Bereich, zwischen unknown knowns und dem Bereich known knowns sind Sie im Bereich des Risikos: Dies ist der Bereich des Risikomanagements, in dem Sie alle potentiellen Eigenschaften eines bekannten Objektes kennen und Aussagen treffen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine dieser Eigenschaften eintritt. Der Bereich der „known unknowns“ ist der derjenige der genialen, einfachen Ideen: Objekte werden auf eine einfache Art verwendet oder mit anderen Objekten verbunden. Paradebeispiel sind die „Post-it‘s“. Die Anfänge von Facebook und Amazon kann man ebenfalls hier einordnen.
In [2] haben wir dargelegt, dass Komplexität durch die Vernetzung und Wechselwirkung von Systemelementen entsteht: Objekte zeigen durch die Wechselwirkungen mit ihrer Umgebung Eigenschaften, die sie in einer anderen Umgebung eventuell nicht zeigen. Die „Heimat“ der Komplexität ist der Bereich der unknown knowns: Wir kennen die Objekte (knowns), jedoch nicht ihre Eigenschaften (unknowns). Unsere vier obigen Beispiele zur VUCA-Welt entstammen alle dem Bereich der unknown knowns. Ambiguität (Doppel- oder Mehrdeutigkeit) entsteht, wenn sich die Eigenschaften der Objekte durch die Wechselwirkung ändern und wir uns dieses Wechsels im Kontext nicht bewusst sind. Weiter unten werden wir dies an einem Beispiel verdeutlichen. Treten Innovationen, also unknown unknowns oder known unknowns zusätzlich auf, so wirken diese als „Komplexitätstreiber“, sie erzeugen oft in der Welt der unknown knowns weitere Wechselwirkungen und die Dynamik (Volatilität in Ort und Zeit) steigt.
Wichtig zu betonen ist, dass Komplexität und die damit verbundene Dynamik Eigenschaften der Welt sind. Unsicherheit und Ambiguität sind Auswirkungen dieser Komplexität der Welt auf unsere innere Welt, die Psyche; und natürlich wirkt deren Komplexität auf die Komplexität der Welt und deren Dynamik zurück. Also machen wir die folgende Unterscheidung: V (Volatility) und C (Complexity) sind Eigenschaften unserer Welt, wohingegen U (Uncertainty) und A (Ambiguity) aus der Wahrnehmung des Menschen resultieren.
VUCA erfordert einen Paradigmenwechsel: Von der Methode zur Systemik
Wir gehen davon aus, dass Hektik und Stress, wesentlich aus unserer Unfähigkeit resultiert, mit Komplexität adäquat umzugehen. Denn das vorherrschende „klassische“ Mindset beruht auf linearen Ursachen-Wirkungszusammenhängen. Komplexität auf der ersten Meile (und natürlich später auch) wird so lange vereinfacht (linearisiert), bis die ungeeigneten, aber verfügbaren Werkzeugen, des „klassischen“ Mindsets diese bearbeiten können: Abbildung 2 verdeutlicht diesen Zusammenhang. Was also tun? Wir brauchen Werkzeuge, die für die VUCA-Welt angemessen sind und wir benötigen die Kompetenz, sie entsprechend einsetzen zu können. Wir glauben, dass damit ein Paradigmenwechsel verbunden ist: Das einfache Anwenden und Kopieren von Methoden und Best Practices erfasst weder die Komplexität eines Systems (Projekt, Organisation) noch dessen komplexen Kontext und stellt auch keine angemessenen Werkzeuge bereit. Genau dies sind aber die Voraussetzungen für den Aufbau einer entsprechenden Kompetenz ([2], man siehe auch [3]).
Abbildung 2: Komplexität wird linearisiert
Mit Kompetenz 4.0 der Ambiguität begegnen
Greifen wir zur Verdeutlichung ein einfache Beispiels zum VUCA Aspekt „Ambiguität“ heraus und betrachten Abbildung 3: Herr Kraushaar nimmt das Verhalten von Herrn Faßbier in zwei unterschiedlichen Situationen (Kontexten) wahr: Herr Faßbier zeigt sich einmal introvertiert und einmal extrovertiert. Herr Kraushaar, der den Kontext außer Acht lässt und nur ein vages Verständnis von Persönlichkeitspräferenzen hat (unzulässige Linearisierung!), bezeichnet Herrn Faßbier daher als doppeldeutig und als eine Person, die im Projektumfeld unzuverlässig wirkt, da sie sich „nicht immer voll für die Sache einsetzt.“ Hätte Herr Kraushaar ein gutes Verständnis zu etablierten Persönlichkeitsmodellen wie MBTI oder Big Five sowie den Kontext der Projektsituation hinzugenommen, hätte er das Handeln von Herrn Faßbier richtig einordnen können. Er hätte ihn als „eine Person“ wahrgenommen, die sich sehr wohl „immer“ für das Projekt einsetzt, je nach der Wechselwirkung von Kontext und Persönlichkeitspräferenz, mal energischer und mal zurückhaltender. So jedoch besteht die Gefahr, dass Herr Kraushaar Herrn Faßbier nicht wertschätzend ins Projekt einbindet und so selbst zur Erhöhung der sozialen Komplexität beiträgt. Auf der letzten Meile wundert er sich, warum er massiven Gegenwind von Herrn Faßbier erhält.
Abbildung 3: Ambiguität verursacht durch fehlende Kompetenz
Ambiguität entspringt also der unbewussten, situativen Bildung von „Schubladen“ in einer Situation und der weiter unbewussten Anwendung von „Schubladen-Denken“ auf diese Personen oder Objekte in einer anderen Situation. Das Werkzeug der Kompetenz 4.0, das Herr Kraushaar hätte haben müssen, ist das der sozialen Mustererkennung: Also die Veränderungen von Persönlichkeitspräferenzen entsprechend dem sozialen Kontext zu erkennen. Und natürlich müsste er auch in der Lage sein, dieses Werkzeug intuitiv, also ohne großen kognitiven Aufwand, situativ anzuwenden.
Erst wenn sich der Projektmanager Herr Kraushaar, über Selbstreflexion der Gefahr der eigenen Kategorienbildung (Schubladenbildung) bewusst ist, kann er den Kontext, in dem Herr Faßbier sein Verhalten zeigt wahrnehmen. Er erkennt die systemische Wechselwirkung von persönlichen Eigenschaften und Kontext; und ordnet die damit verbundenen Muster ein. Dies ist die entscheidende Voraussetzung, damit Herr Kraushaar situationsangepasst agieren kann, ohne die soziale Komplexität unnötig zu erhöhen. Dies ist eine Eigenschaft, die wir einem Projektmanager 4.0 zuschreiben.
An anderer Stelle [2], [4] haben wir die Kompetenzen ermittelt, die ein Projektmanager 4.0 benötigt, um in der VUCA-Welt bestehen zu können:
- Ein Fundament an Werkzeugen (Theorien und Modelle) für das Erkennen, Intervenieren und Antizipieren von Komplexität und deren Mustern.
- Intuition, basierend auf viel praktischer Übung, in der die Werkzeuge angewendet werden.
- Eine souveräne Anwendung einer iterativen Vorgehensweise bestehend aus: Wahrnehmung der Situation, intuitive Anwendung der Werkzeuge, Hypothesenbildung zu den Ursachen der Muster und Überprüfung der Hypothesen in der Praxis, eventuell Anpassung der Werkzeuge und/oder der Hypothesen.
Mit diesen Kompetenzen ist der Projektmanager 4.0 in der Lage, die Fehlentwicklungen unserer obigen Beispiele zu meistern:
Beispiel | „Fehler“ der ersten Meile | Auswirkungen für die letzte Meile (nicht selten auch schon früher) | Initiale Sozialtechniken als „Gegenmittel“ |
[V] Volatile Anforderungen oder das Zulassen von Volatilität | Der Auftrag wird mit einem „klassischen“ Mindset unter Verwendung von „linearisierenden“ Methoden durchgeführt, um vermeintlich Stabilität zu garantieren; gleichzeitig wird hohe Flexibilität erwartet. | Die Volatilität der Anforderungen schaukeln sich zu einem „Komplexitäts-Berg“ auf. | Transformation zu einem agilen Mindset, das Volatilität zulässt unter Einsatz von iterativem Vorgehen und anderen agilen Techniken [2], [5]. |
[U] Digitalisierungs-projekt oder der Aufbau einer ganzheitlichen Sicht | Es wird versäumt, in allen Bereichen eine gemeinsame und ganzheitliche Sicht aufzubauen. | Eine fehlerhafte Datenbasis ruft fehlerhafte Informationen hervor. Hierdurch entflammt unter den Stakeholdern immer wieder Ungewissheit und es kommt zu Grundsatz-diskussionen über die Sinnhaftigkeit der angestrebten Digitalisierung. | Von Anfang an Aufbau eines Collective Mind [2], [4] und einer Ziel-Hierarchie. |
[C] Versionswechsel eines IT-Systems oder die Vermeidung von Komplexität durch Transparenz in Werten und Glaubenssätzen | Werte und Glaubenssätze (wie „Technik zuerst“), die dem Handeln zugrunde liegen, werden nicht transparent gemacht. | Es werden Fehler begangen, die in einer wertvernichtenden sozialen Komplexität resultieren. | Ausleuchten der Stakeholder Mindsets u.a. durch die Verwendung der Dilts Pyramide [2] |
[A] Herstellung eines Werkstoffs oder die sorgfältige Betrachtung des systemischen Kontextes verhindert Ambiguität | Die Wahrnehmung erfasst nicht die Person und deren Kontext, in dem die Person handelt. | Es entsteht ein Gefühl der Ambiguität: Es resultiert eine Fehleinschätzung eines wichtigen Stakeholders mit einer entsprechenden Erhöhung von Komplexität, Volatilität und Unsicherheit. | Wahrnehmung systemischer Muster auf der Basis geeigneter Modelle und entsprechendes Handeln [2] |
Literatur
[0] Oswald Alfred, Köhler Jens (2017) Projektmanager goes VUCA, in IM + io, Heft 4, Saarbrücken
[1] VUCA (2017) https://en.wikipedia.org/wiki/Volatility,_uncertainty,_complexity_and_ambiguity, zugegriffen am 07.06.2017
[2] Oswald Alfred, Köhler Jens, Schmitt Roland (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos, Springer, Heidelberg
[3] Weßels Doris, Haverbier Jana: Think Manager, think female!. Neue Führung in wissensintensiven Bereichen, in IM+io, Heft 1, Saarbrücken
[4] Köhler Jens, Oswald Alfred (2009) Die Collective Mind Methode, Projekterfolg mit Soft Skills, Springer, Heidelberg
[5] Oswald Alfred, Müller Wolfram (editors) (2017) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 1.0, BoD, Norderstedt