Von der kulturellen Aufrechterhaltung von Unwissen oder von der banalen* Selbstorganisation

Den Begriff Agnotology oder Agnotologie kannte ich bis vor kurzem nicht. Erst als ein Freund mich auf die sehr sehenswerte arte Dokumentation „Forschung, Fake und faule Tricks“ aufmerksam machte [1], wusste ich, dass ich dem damit verbundenen Inhalt schon oft und seit langem in den verschiedensten Facetten begegnet bin. Agnotologie ist nämlich eine „Wortschöpfung, die eine neue Forschungsrichtung bezeichnet, welche die kulturelle Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen untersucht“ [2].

Die arte Dokumentation zeigt auf, wie die Industrie, beginnend mit der Tabakindustrie in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, sich meistens über Jahrzehnte erfolgreich gegen neue Erkenntnisse gewehrt hat, um die eigene lukrative Marktposition zu erhalten. Die Idee hierzu ist einfach und gleichzeitig genial und zeugt leider von einer perfiden Metakompetenz: Es wurden mehr oder weniger „käufliche“ eigene oder fremde Wissenschaftler engagiert, die mit wissenschaftlichen Methoden Zweifel an den neuen Erkenntnissen zur Schädlichkeit des Rauchens säten. Es wurde also das zentrale Prinzip der Wissenschaft, die Skepsis bzw. der Zweifel, ganz gezielt eingesetzt, um Zweifel zu sähen und damit Entscheidungen zu blockieren. So konnten in vielen Industrien Entscheidungen teilweise über Jahrzehnte hinausgeschoben werden: z.B. das Verbot zur Zigaretten-Werbung, die Eindämmung der extensiven Nutzung von fossilen Brennstoffen für die Energiegewinnung, Verbote zu verschiedenen gefährlichen Stoffen in den verschiedensten Produkten, u.a. Kunststoffen, usw.. Der Dieselskandal führt diese Art der Denke „konsequent“ weiter [3]: Betrug ist erlaubt, solange das vermeintlich höhere Ziel der Markposition und des damit verbundenen Machtzuwachses unterstützt wird. Das Traditionsunternehmen Bosch spielt im genannten Beitrag bei der Aufarbeitung des Skandals eine besonders unrühmliche Rolle, obwohl das Unternehmen an anderer Stelle angibt, den agilen Geist zu praktizieren. – Es resultiert eine kulturelle Aufrechterhaltung von Banalität oder Dummheit, denn die Kultur wird dominiert von roten (Macht), blauen (Ordnung) und orangen (Erfolg) Memen. – Der langfristige Schaden, der für Mensch, Tier und Natur entsteht, existiert einfach nicht bzw. ist nicht relevant.

Letztendlich ist es dieselbe Denke, die der wilden Wegwerf-Mentalität von Abfall oder der extensiven Nutzung von Rohstoffen in Form von großen schweren PKWs zugrunde liegt.

Aber auch die Basis der Verschwörungsideologien ist hier zu suchen! Verschwörungsideologen erfahren (unbewussten) Stress, den sie versuchen abzubauen, in dem sie durchaus komplexe Ideologien ersinnen, die den internen Stress nach außen verlagern. – Der damit erzeugte mentale „Abfall“ ruft dann sogar auch bei anderen Stress hervor.

Es ist hier, wie da die wertvernichtende Form der banalen Selbstorganisation: Wenn die Tabakindustrie die Wissenschaften benutzt, um gezielt Zweifel zu säen und damit Entscheidungen über Jahrzehnte hinausschiebt, führt sie geschickt einen neuen Kontrollparameter in die Selbstorganisation des gesellschaftlichen Diskurses ein, der den eigenen Ordnungsparameter, nämlich Marktmacht, am Leben erhält.

Wertvernichtende Formen von banaler Selbstorganisation liegen sehr oft vor, wenn die systemische Einbettung nicht berücksichtigt wird: Abfall, den man wild entsorgen kann, macht keinen weiteren Stress. – Große schwere PKWs stärken das Selbstwertgefühl und entschädigen für den Stress, den man an anderer Stelle erfahren hat oder selbst erzeugt hat.

Es wird also die Komplexität (hier der Stress) durch „enggeistige“ Selbstorganisation reguliert, was dann an anderer Stelle wieder Stress, also wertvernichtende Komplexität, erzeugt: Der Abfall schädigt die Natur, im besten Fall wird er auf Kosten der Gesellschaft „verarbeitet“. Die großen schweren PKWs entziehen der Natur wertvolle Rohstoffe durch ihre Produktion und brauchen auch noch ständig in großem Maße fossile Rohstoffe, um benutzt zu werden; erzeugen in großem Maße Abgase, die den Klimawandel antreiben, der dann wiederum aufwendig zu korrigieren ist – wenn es denn noch möglich ist – und sind am Ende ihres Autolebens aufwendig zu entsorgen.

Man reguliert also die wertvernichtende Komplexität, den Stress, über (unbewusste) banale Selbstorganisation, entweder individuell (gutes Gefühl) oder kollektiv (Marktmacht), und erzeugt an anderer Stelle wieder wertvernichtende Komplexität (kulturelle Aufrechterhaltung von Unwissen, Schädigung von Natur und Mensch).

Die Form der individuellen banalen Selbstorganisation ist umso leichter praktikabel, desto näher die individuellen Werte den organisationalen oder gesellschaftlichen Werten kommen. – Denn es wird der geringste individuelle Stress erzeugt.

Ich sah vor kurzem den beeindruckenden Film über Hannah Arendt und ihren Bericht zum Prozess gegen den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann [4]. Ihr Bericht gipfelte in folgender Aussage: „Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte. Aber es war eine Lektion und weder eine Erklärung des Phänomens noch eine Theorie darüber.“ [5].  – Die Nähe zu meinen hier gemachten Aussagen kam mir unmittelbar in den Sinn. – Das Nazi-System hat den Menschen geschickt, individuellen Stress abbauend, angeboten, ihre Selbstorganisation zu übernehmen; diese haben dumm angenommen und die individuelle Selbstorganisation wurde durch die banale System-Selbstorganisation des verbrecherischen Nazi-Regimes ersetzt.

Die banale Selbstorganisation hat meistens nicht solche Ausmaße des Schreckens und Verbrechens, jedoch, so glaube ich, sind die prinzipiellen Muster in verschiedenen Kontexten gleich.

Der Glaubenssatz, dem die Tabakindustrie, die Ölindustrie, die Pharmaindustrie, die Nahrungsmittelindustrie und die Autoindustrie (aktuell) unterliegen, das ist der Glaube, dass ihre Marktmacht, um jeden Preis zu erhalten ist, dass ihre Marktmacht Wachstum erzeugt und Wachstum erzeugt Wohlstand. – Dass diese Form des Wachstums als dumm angesehen wird, ist eher selten. – Parteien gründen darauf ihr Wahlprogramm, Unternehmensführer rechtfertigen damit ihr Handeln und sogar die Gewerkschaften fordern auf dieser Basis den Erhalt von Arbeitsplätzen in Industrien, deren Schädlichkeit längst bekannt ist.

Dem so verstanden Wachstum liegt sogar eines der wichtigsten physikalischen Prinzipien zugrunde, nämlich das der Entropie bzw. hier der negativen Entropie (Negentropie). Der Physiker Erwin Schrödinger hat erstmals Leben, als eine Form organisierter Komplexität fern vom sogenannten Gleichgewicht verstanden. Leben bildet organisierte Komplexität aus, indem es Entropie nach außen transferiert, also negative Entropie in sich erzeugt [6]. – In der ARD-Mediathek gibt es hierzu einen wunderschönen Erklär-Comic [7]!

Jegliche Form von Wachstum, also auch Leben, produziert Entropie, eine Form von „Abfall“, in Form von Materie oder Energie. Die Umgebung muss jedoch in der Lage sein, diesen „Abfall“ aufzunehmen und zu verarbeiten. – Die Natur macht genau dies Tag ein – Tag aus! – Die Natur gerät aber aus den Fugen, wenn durch Entzug von Materie oder Energie und anschließende Rückgabe von Abfall-Materie und -Energie, zu viel Stress im System Natur entsteht.

Wenn wir also organisierte Komplexität aufbauen, und damit eine Form von „Leben“, indem immer mehr Organisationen immer mehr Produkte erzeugen, konsumieren und „entsorgen“, erzeugen wir irgendwann nicht mehr bewältigbaren Stress im umgebenden System Natur.

Inzwischen wurde sogar ein sogenannter Economic Complexity Index (ECI) als relatives Maß für wirtschaftliche Potenz erfunden [8]. – Der ECI stellt eine beachtliche Modellierungsleistung dar [9] und ist inzwischen seit einigen Jahren auch als Atlas ECI mit beindruckenden graphischen Darstellungen und daraus abgeleiteten neuen ökonomischen Erkenntnissen verfügbar[10]. Jedoch…

…der ECI misst die relative ökonomische Komplexität der Produktlandschaft eines Landes und leitet daraus u.a. die Zukunftsfähigkeit eines Landes ab. Vereinfacht ausgedrückt, desto komplexer die Produktlandschaft ist, desto zukunftsfähiger ist das Land. Aussagen zur Kreislaufwirtschaft bzw. Nachhaltigkeit sind in diesem Index bisher nicht enthalten. Das hängt damit zusammen, dass der ECI pro Land nur die wirtschaftlich relevante Produktkomplexität misst. Deutschland hat u.a. seinen ECI im Laufe der letzten Jahrzehnte gesteigert, unsere Produktlandschaft wurde immer vernetzter und vielfältiger, also komplexer. Der CO2-Ausstoß wurde gleichzeitig reduziert. Wer noch in den 70er/80er Jahren durch das südliche Saarland/Lothringen gefahren ist, konnte hautnah erfahren welchen Schmutz die dortige Duo-Produktlandschaft Kohle und Stahl erzeugte. Die Produktkomplexität hat sich inzwischen deutlich verbessert, auch die Luftverhältnisse. – Leider kann man daraus nicht schließen, dass hohe Produktkomplexität zu besserer Luft führt. – Also diese Form von Wachstum gut ist.

Es ist zu bedenken, dass wir von einem sehr hohen Niveau der Luftverschmutzung langsam auf ein erträgliches Maß kommen und was meines Erachtens noch bedeutender ist, dass wir über die letzten 30-50 Jahre massiv Entropieproduktion verlagert haben, in dem wir konsumorientiert die „unsauberen“ Industrien exportierten. – China gehört heute zu den Ländern, die mit Abstand das meiste CO2 ausstoßen. China durchlebt gerade an vielen Orten unsere Industrialisierung vor 50-70 Jahren. – Also auch hier finden wir wieder die kulturelle Aufrechterhaltung des Unwissens, da wir nicht den Zusammenhang unseres reduzierten CO2 Ausstoßes mit dem „Abfall“ außerhalb unserer nationalen Wirtschaft sehen.

Den Autoren des ECI kann man wohl nicht unterstellen, dass sie bewusst Unwissen aufrechterhalten wollen. – Sie stützen jedoch durch „Weglassen“ wichtiger Aspekte einen ganzheitlichen Zugang zum Wissen. – Letztendlich unterstützen sie damit die Aussage „Ökonomisches Wachstum mit mehr Produktkomplexität ist (immer) gut“. Ökonomisches Wachstum wird als bedingungsloser Kontrollparameter verstanden, der den Ordnungsparameter Wohlstand stützt.- Und das ist systemisch betrachtet schlicht falsch!

Ich habe in diesem Blog – zugegeben – einen weiten Bogen gespannt, von den Verbrechen der Tabakindustrie, über das schon fast „übliche“ Verhalten des sogenannten Normalbürgers in seinen verschiedenen Facetten zu den unvorstellbaren Schrecken und Verbrechen des Nazi-Regimes. Und auch die Wissenschaft ist nicht frei von der geschilderten Art der Komplexitätsregulation oder Stressbewältigung. Überall begegnet uns die Gedankenlosigkeit des Menschen, indem der Mensch die Selbstorganisation seines Denkens einem (mentalen) System oder einer Organisation übergibt und sich dort „einordnet“. – Diese banale Selbstorganisation ist für die kulturelle Aufrechterhaltung von Unwissen verantwortlich und diese birgt das Unheil in sich!

Leben basiert auf Entropie Abgabe, jedoch darf dies nie auf Kosten anderen Lebens geschehen, selbst wenn dieses Leben noch in der Zukunft liegt!

 

Ich verwende den Begriff „banal“ in Anlehnung an Hannah Arendt’s Wortwahl anlässlich der Berichterstattung zum Prozess des Nazi-Verbrechers Adolf Eichmann    

 

[1] arte (2021) Forschung, Fake und faule Tricks, https://www.arte.tv/de/videos/091148-000-A/forschung-fake-und-faule-tricks/, zugegriffen am 02.03.2021

[2] Wikipedia (2021) Agnotologie, https://de.wikipedia.org/wiki/Agnotology, zugegriffen am 02.03.2021

[3] ARD/WDR (2021) #DIESELGATE – Die Machenschaften der deutschen Autoindustrie, https://www.ardmediathek.de/ard/video/wdr-dok/dieselgate-oder-doku/wdr-fernsehen/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTc5ZGFlMTI2LTM1ZDMtNDg1Yi05MTJiLWY4YTdhZDc5MDZjNA/, zugegriffen am 02.03.2021

[4] MDR (2021) Hannah Arendt, https://www.ardmediathek.de/ard/video/filme/hannah-arendt-oder-drama/mdr-fernsehen/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy85ZGM4NjViNy02ODgwLTQ0MWYtYWNiYy02MWMxNzI4NThkOGE/, zugegriffen am 02.03.2021

[5] Wikipedia (2021) Hannah Arendt, https://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt

[6] Wikipedia (2021) Erwin Schrödinger, https://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Schr%C3%B6dinger, zugegriffen am 02.03.2021

[7] ARD (2021) Warum lebst du? – Energie & Entropie, https://www.ardmediathek.de/ard/video/kurzgesagt/warum-lebst-du-energie-und-entropie/funk/Y3JpZDovL2Z1bmsubmV0LzExMDkwL3ZpZGVvLzE3MzI0MjM/, zugegriffen am 02.03.2021

[8] Wikipedia (2021) Economic Complexity Index,  https://de.wikipedia.org/wiki/Economic_Complexity_Index, zugegriffen am 02.03.2021

[9] Hidalgo C A (2021) Economic complexity theory and applications, Nature Reviews | Physics

[10] Atlas ECI (2021) https://atlas.cid.harvard.edu/, zugegriffen am 02.03.2021