AI & M 4.0: Hybrid Collective Intelligence in Organisation und Gesellschaft

Dieser Blogbeitrag ergänzt meinen vorherigen Blogbeitrag, insbesondere die dort gelisteten Kernaussagen des Buches „The Age of AI: And Our Human Future“ des ehemaligen amerikanische Außenminister Kissinger sowie des ehemaligen google CEO Schmidt und des MIT Professor Huttenlocher [1].

Hybrid (Collective) Intelligence liegt vor, wenn unsere menschliche (kollektive) Intelligenz durch die (kollektive) Intelligenz von Artificial Intelligence ergänzt wird und sich damit eine Erweiterung der Wahrnehmung unserer Realität ergibt, so dass wir komplexe Fragestellungen beantworten können, die wir ohne AI nicht oder nur mit deutlich größerem Aufwand beantworten könnten. Diese Definition lehnt sich an diejenige in [2] an.

Hybrid (Collective) Intelligence führt insbesondere für das Projekt Management zu drei zentralen Veränderungen:

  • Der Innovationsprozess wird sich substanziell verändern, da ein oder mehrere AI Systeme den F&E Suchraum allein oder in Zusammenarbeit mit Menschen erheblich erweitern und verändern werden [3].
  • Das (Projekt) Management hat zu berücksichtigen, dass Aufgaben zwischen Mensch und AI, alleine oder zusammen, zu verteilen sind. – Entscheidungsprozesse werden sich in dieser Zusammensetzung erheblich verändern [4]. – Man siehe hierzu auch die Liste an AI/ML Erweiterungen im letzten Blog-Beitrag.
  • AI Systeme werden in nahezu alle Projektlösungen einfließen und damit wird AI zur Kernkompetenz in der Projektarbeit. Gleichzeit sind die Auswirkungen der AI Projektlösungen für die Stakeholder, die Gesellschaft und die Natur zu berücksichtigen.

Ich verwende als Definition von Intelligenz eine recht unübliche Definition, die meines Erachtens aber umso treffender ist. Diese Definition wurde wohl erstmals von Alex Wissner-Gross vorgeschlagen [5, 6]: “Intelligence is the ability to maximize future options in order to accomplish complex tasks.” – Diese Definition lässt sich u.a. in eine mathematische Gleichung übersetzen und ist universell auf alle Objekte (belebte, unbelebte, soziale) anwendbar. Im Kontext von AI bedeutet dies zum Beispiel, dass eine AI zur Natural Language Processing (NLP) nicht nur die trainierten Texte oder recht ähnliche in Frage-Antwort Situationen wiedererkennt, sondern die Flexibilität besitzt auch Fragen zu beantworten, die nicht genau den trainierten Fragen entsprechen. Neben der neuronalen Architektur des Neuronalen Netzwerkes wird dies vor allem durch die vielen Parameter-Freiheitsgrade erreicht. – Die Freiheitsgrade von State-of-The-Art AI NLP Systemen umfassen aktuell mehrere 100 Million Parameter.

Die Fähigkeit zukünftige Optionen zu maximieren, ist also die Fähigkeit Freiheit bzw. freies Handeln unter antizipierten zukünftigen Randbedingungen zu maximieren. Falls wir nicht wollen, dass die AI „ihre Freiheit“ (in Zukunft) auf Kosten unserer Freiheit maximiert, ist es notwendig, Randbedingungen für sie zu setzen. Dies bedeutet die Einführung einer Governance für Hybride (Collective) Intelligence (kurz HCI Governance), die zudem adaptiv, also in einem PDCA-Zyklus, in die Zukunft fortzuschreiben ist.
Die Einführung einer HCI Governance wird umso notwendiger, je mehr sich die AI von einer schwachen AI zu einer starken (und allgemeinen) AI oder Superintelligenz entwickelt [7, 8]. – Die genaue Verortung des aktuellen Intelligenzgrades der AI-Systeme und deren zukünftiger Entwicklung ist jedoch nicht wesentlich, denn wir wissen heute schon, dass eine HCI Governance Not tut, da neben den Segnungen der Realitätserweiterungen durch AI auch schon Freiheitseinschränkungen (u.a. Diskriminierungen, fake news, Beeinflussung von demokratischen Wahlen) durch AI aufgetreten sind.

Peeters et al. haben unlängst in ihrem sehr lesenswerten Artikel „Hybrid Collective Intelligence in a Human-AI Society“ drei verschiedene Basis-Haltungen zum Umgang mit AI identifiziert [9]:

  • Technology-centric perspective
  • Human-centric perspective
  • Collective-Intelligence perspective

Das Bemerkenswerte ihrer Analyse, die durch das niederländische Verteidigungsministerium gesponsort wurde, ist, dass sie für jede dieser Haltungen (im Artikel sprechen sie von „perspectives“) Glaubenssysteme und dazugehörige Kontexte identifiziert haben. – Also ganz im Sinne von Management 4.0.

Ich nenne hier, als Beispiel, nur jeweils einen Glaubenssatz pro Haltung:

  • Technology-centric perspective: “When sufficiently developed, AI technology can applied to solve any problem.”
  • Human-centric perspective: “Artificial intelligence only exhibits part of human cognition and is therefore insufficient for many real-world problems.”
  • Collective-intelligence perspective: “Intelligence should not be studied at the level of individual humans or AI-machines, but at the group level of humans and AI-machines working together.”

In [10] werden die EU-Haltung und die USA-Haltung miteinander verglichen: Die EU-(Administrations-)Haltung ist tendenziell eine human-centric perspective und die USA-Haltung ist tendenziell eine technology-centric perspective. – Hieraus erklären sich u.a. die diversen Bestrebungen der EU-Administration amerikanische AI-Konzerne wie google, meta/facebook, apple und amazon durch Gesetze und Strafen zu regulieren.  

Mit Hilfe dieser drei Basis-Haltungen bzw. -Perspektiven zur AI lässt sich auch die Grundhaltung in [1] beschreiben: Sie ist tendenziell eine human-centric perspective ergänzt um die technology-centric perspectice und die collective-intelligence perspective. Im Wissen um diese, aber insbesondere auch wegen der in den USA vorherrschenden technology-centric perspective, fordern die Autoren eine Regulation der AI, also die Einführung einer Governance für AI Systeme. Dies ist umso wichtiger, da auf der Basis der technology-centric perspective schon heute weltweit AI gestützte Waffensysteme entwickelt und genutzt werden.

Berühmte Vertreter der technology-centric perspective in den USA sind Peter Kurzweil [11] und die mit ihm verbundene Singularity University [12]. – Ein Kennzeichen dieser Haltung ist der Glaube, dass in absehbarer Zukunft, im Jahre 2045, die Fähigkeiten der AI diejenigen der Menschheit übersteigen werden.

In [9] wird betont, dass keine der obigen Basis-Haltungen richtiger oder besser ist, sondern dass der Kontext die Basis-Haltung bestimmen sollte. – Was leider nur selten geschieht. – In [13] wird die zentrale Bedeutung der Reflexion und der kritischen Auseinandersetzung mit dem sozialen Kontext, also den aktiven Werten, Glaubensätzen und Prinzipien für das Design, die Implementierung und die Operationalisierung von AI Systemen diskutiert. Falls die Metakompetenz für diese (Selbst-) Reflexion und kritische Auseinandersetzung nicht vorhanden ist, wird eine AI Ethik nicht angenommen und damit auch nicht verantwortungsvoll umgesetzt. In [14] habe ich die “Forderung” aufgestellt, dass Projekte mit hoher Komplexität, eine türkis/teal Kultur benötigen: “Ideally, this requires a mindset of all key stakeholders that also contains red, blue and orange value meme components (red means power orientation, blue means control and order orientation, and orange means entrepreneurship and linear-scientific-thinking orientation), but is mainly shaped by the transformational value meme components, namely green (compassion), yellow (nonlinear networked system thinking) and teal (holistic-transcendental orientation).” Alle Teammitglieder und insbesondere der Projektleiter sollten über die Metakompetenz verfügen, ihre eigenen Werte und Glaubenssätze im jeweiligen Kontext kritisch zu hinterfragen, um bewusst AI Systeme ethisch verantwortungsvoll zu designen, zu implementieren und zu operationalisieren.  

Meine persönlich präferierte Basis-Haltung ist die collective-intelligence perspective. Wenn ich AI Systeme erstelle liegt meine Haltung hingegen eher auf der technology-centric perspective und im Schreiben dieses Blog-Beitrages eher auf der human-centric perspective.    

Schaut man sich die Definitionen für AI der großen AI-Konzerne an, so lassen diese eine recht eindeutige AI-Haltung der jeweiligen Autoren erkennen:

IBM: “Artificial intelligence leverages computers and machines to mimic the problem-solving and decision-making capabilities of the human mind.” [15]: technology-centric perspective

Microsoft (deutsch): „Unter künstlicher Intelligenz (AI) verstehen wir Technologien, die menschliche Fähigkeiten im Sehen, Hören, Analysieren, Entscheiden und Handeln ergänzen und stärken.“ [16]: collective-intelligence perspective

Microsoft (amerikanisch): “Artificial intelligence (AI) is the capability of a computer to imitate intelligent human behavior. Through AI, machines can analyze images, comprehend speech, interact in natural ways, and make predictions using data.” [17]: technology-centric perspective. – Die Microsoft AI Internetseite [18] „AI for Good“ zeigt hingegen eine eher human-centric oder collective-intelligence perspective.

Google CEO: “At its heart, AI is computer programming that learns and adapts. It can’t solve every problem, but its potential to improve our lives is profound. At Google, we use AI to make products more useful—from email that’s spam-free and easier to compose, to a digital assistant you can speak to naturally, to photos that pop the fun stuff out for you to enjoy.” [19]: collective-intelligence perspective

Die Internetseite von google [20] und diejenige von meta/facebook [21] lassen eine Mischung aus technology-centric- und collective-intelligence-perspective erkennen.

Die OECD hat im Jahre 2019 ihr Dokument „Artificial Intelligence in Society“ vorgelegt, und definiert dort ihre human-centric perspective, die sie auch so nennt [22]: Hiernach müssen AI Systeme u.a. Menschenwürde und -rechte sowie die Demokratie gewährleisten, indem sie u.a. transparent, nachvollziehbar, vertrauenswürdig, sicher und steuerbar sind und bleiben. – Eine gestaltende Auseinandersetzung mit dem sozio-technischen System Mensch-Künstliche Intelligenz, im Sinne des Designs einer Governance, findet jedoch nicht statt.

Eine ähnliche Aussage ergibt sich für Deutschland: In [23] werden unter dem Titel „The making of AI Society: AI futures frames in German political and media discourses” die sogenannten „AI future frames“ für Deutschland untersucht. – AI future frames sind mentale Rahmen, in denen die AI Zukunft gesetzt wird. Das Ergebnis ist eher ernüchternd: „By mirroring the past in the future, alternative future visions are excluded, and past and current assumptions, beliefs, and biases are maintained. Despite the allegedly disruptive potential of emerging AI.” Hiernach denkt die deutsche Politik die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte unter dem Label „AI Made in Germany“ oder AI German einfach fort: „successful innovation = welfare generating future = political stability“. Die Lippenbekenntnisse der deutschen politischen Administration bis zur Wahl 2021 sind human-centric; im Tun überlassen sie die AI Governance dem Markt und eine AI Ethik explizit den deutschen Industrieunternehmen. – Eine entsprechende politische Governance, die den zentralen Aussagen in [1] Rechnung trägt, gibt es nicht. – Eine Einbettung in eine europäische AI Strategie fehlt völlig!

Die EU Kommission hat letztes Jahr in [24] einen Vorschlag für ein Regulationspapier erstellt, das in erster Linie als harmonisierende Referenz für die EU Administration dienen soll: Ein seitenstarkes Papier mit vielen Details; ich vermisse mal wieder ein Großes Bild, das zu einem Collective Mind in der EU (Administration) führen könnte. 

Wie könnten die Eckpfeiler eines Großen Bildes einer AI bzw. HCI Governance aussehen? Hier ein Vorschlag:

Rahmenparameter:

Landesspezifische AI Governance Systeme sind in eine europäische AI Governance eingebettet. – Die Strukturen der AI Governance sind auf allen europäischen Ebenen ähnlich. – Die (europäische) AI Governance folgt in ihrer Struktur einer Ziel-Hierachie: Vom Großen Bild zum Detail. Der transformative Charakter der AI Governance ist in die Governance einer ökologisch-ökonomischen Transformation (u.a. Nachhaltigkeit für Natur, Tier und Mensch, hin zu einer an sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit orientierten Ökonomie, die Wachstum nicht als Allheilmittel verkauft) eingebettet

Kontrollparameter:

Die Kontrollparameter orientieren sich an den zentralen Aussagen aus [1]: Eine europäische AI Ethik und Gesetzgebung sorgt für eine Regulation der AI Freiheiten. Die AI Ethik und Gesetzgebung wird von der Politik gestaltet. Z.B. heißt dies, dass der Wert AI Transparenz politisch definiert wird und gesetzlich verankert wird.- Dies könnte zum Beispiel heißen, dass AI Systeme in Europa vor staatlichen Organen nach Bedarf offengelegt werden müssen.

Da AI Systeme unsere Welt transformieren, ist es notwendig dafür zu sorgen, dass die Schere zwischen AI-Wissenden und AI-Nichtwissenden nicht zu einer Verschärfung von Ungleichheit führt. Ein entsprechendes Bildungskonzept ist notwendig: AI gehört als Pflichtfach in die Schulen und AI gehört in die Curricula aller universitären Disziplinen.

Ordnungsparameter:             

Als Großes Bild für den Ordnungsparameter schlage ich vor „European Ecosystem for Hybrid Collective Intelligence“. Die Ausgestaltung dieses Großen Bildes heißt u.a. dass neben einer gemeinsamen europäischen AI Governance eine gemeinsame AI Infrastruktur aufgebaut wird. – Es werden Mechanismen bereitgestellt, die das Silo-Denken und -Handeln von Industrie und politischen Administrationen auflösen. U.a. wird eine „AI für Jedermann“ aufgebaut und die die obigen drei Sichten human-centric, technology-centric und collective intelligence integriert: Die sozio-technische HCI Integration wird also bewusst europäisch gestaltet.  

 

[1] Kissinger H A, Schmidt E, Huttenlocher D (2021) The Age of AI: And Our Human Future, kindle edition
[2] Dominik Dellermann, Adrian Calma, Nikolaus Lipusch, Thorsten Weber, Sascha Weigel, Philipp Ebel (2021) The future of human-AI collaboration: a taxonomy of design knowledge for hybrid intelligence systems, arXiv.org > cs > arXiv:2105.03354
[3] Dragos‑Cristian Vasilescu, Michael Filzmoser (2021) Machine invention systems: a (r)evolution of the invention process?, Journal AI & Society, January 2021
[4] Phanish Puranam (2021) Human–AI collaborative decision‑making as an organization design Problem, Journal of Organization Design (2021) 10:75–80
[5] Alex Wissner-Gross (2022) A new equation for intelligence, https://www.youtube.com/watch?v=auT-pA5_O_A, march 2020, zugegriffen am 07.02.2022
[6] Ron Schmelzer (2022) https://www.forbes.com/sites/cognitiveworld/2020/02/27/cant-define-ai-try-defining-intelligence/?sh=6f658a955279, Forbes Blog February 2020, zugegriffen am 07.02.2022
[7] Bernard Marr (2022) The Key Definitions Of Artificial Intelligence (AI) That Explain Its Importance, Forbes Blog February 2018, https://www.forbes.com/sites/bernardmarr/2018/02/14/the-key-definitions-of-artificial-intelligence-ai-that-explain-its-importance/?sh=219cbb1f4f5d , zugegriffen am 07.01.2022
[8] Wikipedia (2022) Artificial Intelligence, https://en.wikipedia.org/wiki/Artificial_intelligence, zugegriffen am 07.02.2022
[9] Peeters M M M, van Diggelen J, van den Bosch K, Bronhorst A, Neerinex M A, Schraagen J M, Raaijmakers S (2021) Hybrid Collective Intelligence in a Human-AI Society, in AI & Society Journal, March 2021
[10] Roberts H, Cowls J, Hine E, Mazzi E, Tsamados A, Taddeo M, Floridi L (2021) Achieving a ‘Good AI Society’: Coparing the Aims and Progress of the EU and the US, SSRN Journal, January 2021
[11] Kurzweil R (2022) https://www.kurzweilai.net/, zugegriffen am 07.02.2022
[12] Singularity University (2022) https://www.su.org/ , zugegriffen am 07.02.2022
[13] Krijger J (2021) Enter the metrics: critical theory and organizational operationalization of AI ethics, Journal AI & Society, September 2021
[14] Oswald A (2022) The Whole – More than the Sum of Its Parts! Self-Organization – The Universal Principle! in Ding R, Wagner R, Bodea CN (editors) Research on Project, Programme and Portfolio Management – Projects as an Arena for Self-Organizing, Lecture Notes in Management and Industrial Engineering, Springer Nature
[15] IBM (2022) Artificial Intelligence, https://www.ibm.com/cloud/learn/what-is-artificial-intelligence, zugegriffen am 07.02.2022
[16] Microsoft (2022) Künstliche Intelligenz, https://news.microsoft.com/de-at/microsoft-erklart-was-ist-kunstliche-intelligenz-definition-funktionen-von-ki/, zugegriffen am 07.02.2022
[17] Microsoft (2022) Artificial Intelligence Architecture, https://docs.microsoft.com/en-us/azure/architecture/data-guide/big-data/ai-overview, zugegriffen am 07.02.2022
[18] Microsoft (2022) AI for Good, https://www.microsoft.com/en-us/ai/ai-for-good, zugegriffen am 07.02.2022
[19] Sundar Pichai (2022) AI at Google: our principles, https://www.blog.google/technology/ai/ai-principles/, Blog of CEO google, june 2018, zugegriffen am 07.02.2022
[20] Google (2022) Google AI: Advancing AI for everyone, https://ai.google/, zugegriffen am 07.02.2022
[21] Meta AI (Facebook) (2022) Bringing the world closer together by advancing AI, https://ai.facebook.com/, zugegriffen am 07.02.2022
[22] OECD (2019) Artificial Intelligence in Society, Online Version, https://www.oecd-ilibrary.org/sites/eedfee77-en/index.html?itemId=/content/publication/eedfee77-en&_csp_=5c39a73676a331d76fa56f36ff0d4aca&itemIGO=oecd&itemContentType=book
[23] Köstler L, Ossewaarde R (2020) The making of AI Society: AI futures frames in German political and media discourses, in AI & Society Journal, February 2021, Springer Nature
[24] Europäische Kommission (2021) Proposal for a REGULATION OF THE EUROPEAN PARLIAMENT AND OF THE COUNCIL LAYING DOWN HARMONISED RULES ON ARTIFICIAL INTELLIGENCE (ARTIFICIAL INTELLIGENCE ACT) AND AMENDING CERTAIN UNION LEGISLATIVE ACTS, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/ALL/?uri=CELEX:52021PC0206, zugegriffen am 07.02.2022

AI & M 4.0: Zur Erweiterung unserer Intelligenz und Realität durch Machine Learning (ML) und Artificial Intelligence (AI) im Management 4.0

Der ehemalige amerikanische Außenminister Kissinger sowie der ehemalige Google CEO Schmidt und der MIT Professor Huttenlocher haben zusammen vor ein paar Tagen ein bemerkenswertes Buch zu unserer Zukunft im Zeitalter der künstlichen Intelligenz herausgebracht. – Ich nenne wesentliche Aussagen dieses Buches [1]:

  • Machine Learning (ML) und Artificial Intelligence (AI) basieren auf völlig anderen Prinzipien als „klassische“ Software: Im Rahmen vorgegebener Selbstorganisations-Parameter (und Daten) organisiert sich eine AI selbst. – Sie bildet durch Training Modelle zu den eingegebenen Daten, also der ausgewählten Realität, ab. – Diese Modelle sind nicht perfekt, sie liefern Wahrscheinlichkeitsaussagen. – Und damit haftet diesen Modellen unmittelbar Unsicherheit an! – Gar nicht so unähnlich unserer Intelligenz!
  • Systeme künstlicher Intelligenz erkennen schon heute Muster in unsrer Realität, die unserer Intelligenz (bisher) verschlossen waren. – AI bildet erfolgreich Schachstrategien aus, die bisher kein Mensch verwendet hat oder findet wirksame Medikamente, die bisher unentdeckt geblieben sind, oder hilft Prinzipien der Physik und Mathematik zu entdecken usw. 
  • AI wird unsere Sicht auf die Realität wesentlich verändern, nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch qualitativ! – Und dies in zweierlei Hinsicht: Die Entwicklung von AI sorgt für die Integration verschiedener Disziplinen wie Psychologie, Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften, Informatik, Mathematik sowie Philosophie und führt in den jeweiligen Disziplinen zu neuen Erkenntnissen und Anwendungen.
  • Gesellschaftliche Systeme werden sich substanziell unterschiedlich entwickeln, je nachdem, ob in welchem Maße und in welcher Qualität ML/AI eingesetzt wird. – Dies wird sich zum einen auf globaler Ebene zeigen, und zum anderen wird es auch eine neue „Schichtung“ der Gesellschaft(en) entlang der individuellen ML/AI Kompetenzen hervorrufen. – Derzeit gibt es nur zwei relevante ML/AI Ecosysteme: USA und China. – Und diese Ecosysteme formen mit ihren ML/AI Systemen unsere (europäische) Zukunft!

Falls jemand diese Aussagen anzweifelt, so möge er sich die Internetseite von DeepMind [2] oder der AI community DeepAI [3] ansehen – die Zweifel dürften sehr schnell verschwinden.

Seit ein paar Monaten konfiguriere bzw. programmiere ich ML/AI Systeme, also Physical Technologies. – Ich tue dies auf der Basis des amerikanischen ML/AI Ecosystems, insbesondere von Google’s Colab [4], Python [5] und Jupyter Notebooks [6]: Ich lote aus, inwieweit diese Physical Technologies helfen könnten, die Social Technology Management 4.0 gemäß den obigen Aussagen zukunftsfähig zu machen. – Das heißt, die Management 4.0 Intelligenz durch ML/AI quantitativ und qualitativ zu erweitern.

Im Tun wird einem sehr schnell bewusst, dass das europäische ML/AI Know-How ganz wesentlich vom amerikanischen ML/AI Ecosystem dominiert wird. – Das amerikanische ML/AI Ecosysteme von Google, Facebook/Meta Platforms, Microsoft und Co. ist überwältigend! – Es gibt eine Vielzahl an öffentlich zugänglichen Plattformen mit einer enormen Anzahl von vortrainierten ML/AI Modellen, unzähligen Tutorials und Code-Beispielen. – Selbst die Nutzung generativer Natural Language Processing (NLP) Systeme der neuesten Generation oder sogar die Anbindung an Quantencomputing ist prinzipiell möglich.

Das amerikanische ML/AI Ecosystem ermöglicht auch Personen wie mir, deren ML/AI Know-how Lichtjahre vom google Know-how entfernt ist, in überschaubaren Schritten in die ML/AI-Welt einzusteigen. Google, Meta Platforms, Microsoft und Co. haben damit einen gesellschaftlichen Innovations-Feedback Mechanismus angestoßen, der der (amerikanischen) Gesellschaft – zumindest einem gewissen Teil davon – einen enormen Innovationsschub gibt: Das ML/AI Ecosystem trägt zu immer schnelleren und qualitativ neuartigen ML/AI Entwicklungen bei, teilweise sogar zu ML/AI Technologie-Revolutionen – man siehe [2] und [3].

Auch wenn nicht wenige Europäer zum amerikanischen ML/AI Ecosystem beitragen, so wurde mir im Tun „schmerzlich“ bewusst, dass wir Europäer auf der Ebene der gesellschaftlichen ML/AI Ecosysteme keine Rolle spielen. – Auch wenn es „kleine“ lokale ML/AI Ecosysteme wie das Tübingen AI Center gibt [6].
Mir sind keine öffentlich zugänglichen europäischen ML/AI Plattformen bekannt. Gerade im Natural Language Processing (NLP) Bereich gibt es nur wenige vortrainierte Modell für europäische Sprachen oder die deutsche Sprache. (Nahezu) alle Tutorials sind in Code und Daten auf den Englisch-sprachigen Bereich ausgerichtet…Dies dürfte nicht nur mir sehr viel mühsame Transferarbeit bescheren!

Man mag das amerikanische ML/AI Ecosystem durchaus auch kritisch sehen, jedoch kann man Google und Co. mit ihrer ML/AI open source Philosophie nicht absprechen, dass Sie einen erheblichen Beitrag für die (ML/AI-) Entwicklung der amerikanischen und auch westlichen Gesellschaft leisten. Schaue ich auf die deutsche Unternehmenslandschaft, so zahlen unsere Unternehmen nach meinem Wissen auf kein gesellschaftliches ML/AI Ecosystem ein. – Unsere deutsche (unternehmerische) Gesellschaft wird nach wie vor von Silo-Denken, Silo-Geschäftsmodellen und Silo-Handeln bestimmt. Das heißt auch, dass gemäß [1] die Entwicklung der europäischen Gesellschaft über kurz oder lang einen Mangel an erweiterter Intelligenz und erweiterter Realität spüren wird, falls dieser Mangel nicht schon jetzt vorhanden ist.

Die obigen Aussagen aus [1] entsprechen meiner Erfahrung und Wahrnehmung und sind ein Motiv, sich um die Verbindung von AI und Management 4.0 (AI & M 4.0) zu kümmern: AI kann dem Projektleiter sowie dem Team assistieren und, was vielleicht noch viel wichtiger ist, mentale Feedback Mechanismen anstoßen, die die kognitive menschliche Projekt- und Management-Intelligenz erweitern. Damit geht einher, dass das menschliche Bewusstsein sich erweitert und mentale wie gesellschaftliche Transformationen angestoßen und begleitet werden. – Die wahrgenommene Realität insbesondere in komplexen Projekten wird sich nach meiner Einschätzung durch ML/AI erheblich erweitern.

Ich liste im Folgenden AI & M 4.0 Anwendungskategorien, die nach meinem aktuellem Wissensstand für das (Projekt) Management von Bedeutung sein werden.- Ich kennzeichne die Kategorien durch AI/ML und eine fortlaufende Nummer. – Man siehe hierzu auch die phasenorientierte Zuordnung von PM Aktivitäten und AI/ML Techniken in [8].

AI/ML 1 – Numerische Feature-Multilabel (supervised) AI: Ein Sachverhalt wird über numerische Datenkategorien (Features) beschrieben und Anwendungstypen oder Klassen (man spricht von Labels) zugeordnet. Zum Beispiel nimmt ein AI System eine Aufwands- oder Kostenschätzung vor. Hierzu werden die Aufgaben gemäß bestimmter numerischer Features beschrieben und einer Aufwandsklasse, also einem Label, zugeordnet. Supervised bedeutet hier, dass die AI mit einer Feature-Label Zuordnung trainiert wird, die durch Menschen vorher vorgenommen wurde. Hierbei ist es meines Erachtens jedoch nicht notwendig, zuerst jahrelang solche Zuordnungen, also Daten zu sammeln. Die AI könnte vielmehr in laufende Aufwandsschätzungen gemäß Delphi oder Planning Poker eingebracht werden, im Wissen, dass die AI sich wahrscheinlich langsam aufbaut.    

AI/ML 2 – Text-Multilabel (supervised) Natural Language Processing AI: Ein Sachverhalt wird über Text bzw. Sprache beschrieben und Labels zugeordnet. Auch eine Aufwandsschätzung könnte auf diese Weise durch AI vorgenommen werden.- Die zu schätzenden Aufgaben liegen als Textbeschreibungen vor und für das Training werden durch Menschen Label-Zuordnungen vorgenommen. Text und Label werden im AI-Training verarbeitet. – Die AI ist also in der Lage natürliche Sprache (Natural Language Processing (NLP)) zu verarbeiten. Ein anderes Bespiel ist die Analyse von Verhalten, beschrieben in Textform und die Zuordnung zu Persönlichkeitslabels (Temperament, Werten, Grundannahmen, Glaubenssätzen, Prinzipien). – Die nachträgliche Analyse von Verhalten durch niedergeschriebenen Text ist relativ „einfach“.  – Eine direkte Analyse der Kommunikation z.B. während einer Teamsitzung ist jedoch wesentlich anspruchsvoller und entzieht sich derzeit (noch 😉) meinem Kenntnisstand. – Selbstverständlich kann auf dieser Basis auch eine organisationale Kulturanalyse vorgenommen werden, indem die Kommunikation (Gesprochenes, Dokumente, eMail, Chat) im Team oder in der Organisation ausgewertet wird.  

AI/ML 3 – Graph Neural Networks bzw. Graphen-Multilabel (supervised) AI: Sehr viele Sachverhalte in Natur, Sozialem und Technik lassen sich über Graphen bzw. Netzwerke beschreiben [9, 10]. Soziale Systeme bzw. Organisationen lassen sich gut über Social Networks darstellen. Der Projektstrukturplan bzw. der Projektplan sind spezielle Graphen. Die Zielhierarchie ist eine weiterer Graph. Zum Beispiel lassen sich aus der Kommunikation der Stakeholder Social Networks ableiten und diese Social Networks oder Social Networks Bausteine werden mit Labels versehen und dienen dem Training von AI/ML. Ein anderes Beispiel ist die Extraktion der Zielhierarchie aus einer Teamkommunikation und die anschließende „Überprüfung der Einhaltung“ der Zielhierarchie in der Stakeholderkommunikation. Oder, das Social Network eines Teams wird Performance Labels (z.B. Hochleistung, mittlere Leistung, dysfunktionale Leistung) zugeordnet.  

AI/ML 4 – Team-Sprachanalyse (unsupervised) AI: Die Sprache in Teams oder Stakeholdergruppen wird auf Gemeinsamkeiten untersucht. So lässt sich u.a. aus der Wortwahl von Teammitgliedern u.a. mittels der Bag of Word und word embedding Technologien auf deren „mentale Verwandschaft“ oder das Collective Mind schließen.

AI/ML 5 – Generative NLP (unsupervised) AI: Mittels generativer NLP AI Systeme [11, 12] lassen sich u.a. Vertragsdokumente bzw. Claim-Dokumente mittels weniger von Menschen eingegebener zentraler Prinzipien generieren. Diese Systeme können auch dazu benutzt werden, Abweichungen (also Vertrags- und Claimrisiken) zu identifizieren.

AI/ML 6 – Clustering (unsupervised) AI: Die AI clustered numerische oder Textdaten. Diese Cluster zeichnen sich durch charakteristische Cluster Eigenschaften aus und erlauben damit das Erkennen von Mustern in den Daten. Auf diese Weise können zum Beispiel Projekte, Aufgaben oder auch Stakeholder geclustert werden. – Einen ersten Eindruck von der Fähigkeit Neuronaler  Netzwerke zu clustern, bietet die „Spielumgebung“ von Tensorflow [13].

Diese sechs Kategorien lassen sich auch kombinieren, sei es, um ergänzende Informationen zu erhalten oder eine sogenannte AI/ML Verarbeitungspipeline aufzubauen.

Ich erwarte, dass mit gewonnener Erfahrung diese sechs Kategorien detailliert werden und auch weitere Kategorien hinzukommen.

Ich verwende diese sechs AI/ML Kategorien, um AI & M 4.0 zu beschreiben: Ich tue dies unter Verwendung der IPMA ICB 4.0 Kompetenzen [14] bzw. der Kompetenzen des Handbuches Kompetenzbasiertes Projektmanagement (PM4) der GPM [15]. Die nachfolgende Tabelle listet AI & M 4.0. Die Tabelle ist sicherlich nicht vollständig. – Sie gibt den aktuellen Stand meiner Überlegungen wieder; sie dürfte sich also noch ändern.

Die Tabelle zeigt, dass schon heute mit entsprechendem Know-how die (Projekt) Management Intelligenz und Realität deutlich erweitert werden kann. – Mit einem AI Know-How, das im amerikanischen ML/AI Ecosystem abrufbar ist.

Die kursive Schrift in der Tabelle zeigt an, dass in diesen Fällen eine Bearbeitung durch die GPM Fachgruppe Agile Management begonnen wurde.

Perspective – KontextkompetenzenAI & M 4.0: Erweiterte Management 4.0 Intelligenz und Realität mittels ML/AI
Strategie 
Governance, Strukturen und Prozesse 
Compliance, Standards und RegularienAI/ML 5: Ermittlung von Compliance und Risiken durch den Abgleich von Projektartefakten und Compliance-Dokumenten sowie Standards und Normen
Macht und Interessen 
Kultur und WerteAI/ML 2: Ermittlung des organisationalen Mindsets (Kultur) durch vortrainierte Neuronale Netzwerke (NN): transkribierte Sprache und Texte werden mittels eines Transformermodells wie BERT [16,17] einer Text-MultiLabel Analyse unterzogen. – BERT ist eines der wenigen Modelle, das auch in einer deutschen Sprachversion verfügbar ist.   In einem zweiten Schritt kann diese Information dazu benutzt werden, um die Heterogenität der Kultur in einer Organisation zu ermitteln. In dem vorhergehenden Blog-Beitrag habe ich dies als „Spinglass-Organisation“ bezeichnet.     
People – Persönliche und soziale Kompetenzen 
Selbstreflexion und SelbstmanagementAI/ML 2: Die Selbstreflexion und das Selbstmanagement wird durch einen Feedback Mechanismus zwischen AI und Projektmanager oder Teammitglied angestoßen. Die AI erweitert die Metakompetenz des PM und der Teammitgliedern, indem den Verhaltensweisen durch die AI Persönlichkeitsdimensionen (Temperament, Motive, Werte, Glaubenssätze) zugeordnet werden.
Persönliche Integrität und Verlässlichkeit 
Persönliche KommunikationAI/ML 2: Die Realität der Kommunikation verändert sich auf der Basis der veränderten Selbstreflexion. Zudem liefert die AI Informationen zu den Persönlichkeitsdimensionen aller kommunizierenden Teammitglieder.
Beziehungen und Engagement 
FührungAI/ML 2: Die Führungs-Metakompetenz wird erheblich erweitert, da Selbstreflexion und Kommunikation deutlich verbessert werden. – Die Decision Intelligence wird deutlich erweitert.   AI/ML 4: Die Team-Sprachanalyse ermittelt Gemeinsamkeiten und hilft Dysfunktionalitäten aufzudecken.   AI/ML 3: Social Networks werden mittels GNN (Graph Neural Networks) analysiert und gelabelt. Dies kann auf Teamebene und auf der Ebene aller Stakeholder erfolgen.
TeamarbeitAI/ML 4: Die Stärke des Collective Mind wird durch einen „Statthalter“ also eine proxy Collective Mind (proxyCM) abgebildet: CM ~ proxyCM. Als proxyCM können verschiedene Modelle dienen: Transkribierte Sprache von Teammitgliedern werden mittels sklearn [18] (Native Bayes Classification) den Teammitgliedern zugeordnet. Desto eindeutiger die Zuordnung ist, desto geringer ist das CM, oder anders ausgedrückt, falls ein Text mehreren Teammitglieder zugeordnet werden kann, so besteht ein „inhaltlicher Überlapp“. – Der proxyCM ist größer.   Des Weiteren können Redefrequenz und Redelänge als weitere Indikatoren für den proxyCM verwendet werden.   Mittels einer Bag of Word oder Word Vector Embedding Analyse [18, 19, 20, 21] wird die Wortwahl der Teammitglieder analysiert. Unterschiedliche Wortwahlen unterschiedlicher Teammitglieder zeigen ein schwaches proxyCM an, oder umgekehrt lassen ähnliche Begriffsschwerpunkte auf ein starkes proxyCM schliessen.    
Konflikte und KrisenAI/ML 2, 3, 4: Diese AI Erweiterungen der PM Intelligenz bzw. Metakompetenz sind auch gerade in Konflikten und Krisen von enormer Bedeutung
Vielseitigkeit 
VerhandlungenAI/ML 2, 3, 4: Diese AI Erweiterungen der PM Intelligenz bzw. Metakompetenz sind auch gerade in Verhandlungen von enormer Bedeutung. AI/ML 5: Zusätzlich ist es hilfreich Vertrags- und Claim-Dokumente einer AI Überprüfung zu unterziehen.
Ergebnisorientierung 
Practice – Technische Kompetenzen 
ProjektdesignAI/ML 6: Die AI ermittelt Komplexitätsklassen auf der Basis von numerischen und/oder textuellen Daten. Die Komplexitätsklassen sind die Basis des Projektdesigns
Anforderungen und Ziele 
Leistungsumfang und Lieferobjekte 
Ablauf und Termine 
Organisation, Information und Dokumentation 
Qualität 
Kosten und FinanzierungAI/ML 1, 2: Die Ermittlung von Aufwänden und Kosten gehört zu den „einfachen“ AI/ML Techniken. Lediglich die Beschaffung von Trainingsdaten ist vermutlich schwierig, da archivierte Projektdaten selten vorliegen.
Ressourcen 
Beschaffung 
Planung und SteuerungAI/ML 1: siehe Kosten und Finanzierung
Chancen und Risiken 
StakeholderAI/ML 2, 3, 4: Diese AI Erweiterungen der PM Intelligenz bzw. Metakompetenz sind für das Stakeholdermanagement von enormer Bedeutung
Change und TransformationAI/ML 2, 3, 4, 5: Hier können nahezu alle AI Techniken zum Einsatz kommen, um eine valide Entscheidungsbasis für Interventionen zu haben.
Tabelle: AI & M 4.0 unter Verwendung der ICB 4.0 / PM4 Kompetenzen

Die GPM Fachgruppe Agile Management sucht Mitglieder, die bereit sind, in die Untiefen 😉 der AI Erstellung, des Trainingsdaten Sammelns oder sogar der Anwendung im eigenen Unternehmen einzusteigen! – Wir freuen uns über eine Kontaktaufnahme unter agile-management@gpm-ipma.de!

[1] Kissinger HA, Schmidt E, Huttenlocher D (2021) The Age of AI: And Our Human Future, kindle edition
[2] DeepMind (2021) deepmind.com, zugegriffen am 02.12.2021
[3] DeepAI (2021) deepai.org, zugegriffen am 02.12.2021
[4] Colab (2021) https://colab.research.google.com/
[5] Python (2021) https://www.python.org/
[6] Jupyter Notebooks (2021) https://jupyter.org/, zugegriffen am 02.12.2021
[7] Tübingen AI Center (2021) tuebingen.ai, zugegriffen am 02.12.2021
[8] Nuhn H (2021) Organizing for temporality and supporting AI systems – a framework for applied AI and organization research, Lecture Notes in Informatics, GI e.V
[9] Veličković P (2021) Introduction to Graph Neural Networks, https://www.youtube.com/watch?v=8owQBFAHw7E, zugegriffen am 02.12.2021, man siehe auch petar-v.com
[10] Spektral (2021) https://graphneural.network/, zugegriffen am 02.12.2021
[11] GPT-3 (2021) https://openai.com/blog/openai-api/, zugegriffen am 09.12.2021
[12] Gopher (2021) https://deepmind.com/blog/article/language-modelling-at-scale,
[13] Neuronales Netzwerk „zum Spielen“ (2021) https://playground.tensorflow.org, zugegriffen am 02.12.2021
[14] GPM (2017) Individual Competence Baseline für Projektmanagement, IPMA, Version 4.0 / Deutsche Fassung
[15] GPM (2019) Kompetenzbasiertes Projektmanagement (PM4), Handbuch für Praxis und Weiterbildung im Projektmanagement
[16] Tensorflow (2021) google Entwicklungsplattform, https://www.tensorflow.org, zugegriffen am 02.12.2021
[17] BERT (2021) NLP Transformer Model BERT, https://huggingface.co/models, zugegriffen am 02.12.2021
[18] Scikit-learn (2021) https://scikit-learn.org/, zugegriffen am 02.12.2021
[19] Gensim-word2vec (2021) https://www.kaggle.com/pierremegret/gensim-word2vec-tutorial, zugegriffen am 02.12.2021
[20] Word-Vector-Visualisation (2021) https://www.kaggle.com/jeffd23/visualizing-word-vectors-with-t-sne/notebook, zugegriffen am 02.12.2021
[21] Spacy (2021) https://spacy.io/models/de, zugegriffen am 02.12.2021          

Metabetrachtungen: Zur Schnittmenge von diesjährigem Physik-Nobelpreis, Künstlicher Intelligenz und Collective Mind

Dieses Jahr wurde der Physik-Nobelpreis unter dem gemeinsamen Label „For groundbreaking contributions to our understanding of complex physical systems.“ an die Physiker Klaus Hasselmann und Syukuro Manabe sowie Giorgio Parisi vergeben. Es ist meines Wissens das erste Mal, dass das Verstehen von komplexen physikalischen Systemen so explizit honoriert wurde. Alle drei Forscher haben den Einfluss von mikroskopischen Zuständen auf makroskopische Zustände untersucht. Bei Klaus Hasselmann ging es um die Auswirkung von (lokalen) Wetterphänomenen auf (globale) Klimaphänomene. Also dem zentralen Problem unserer Tage. Syukuro Manabe wurde für die erstmalige computergestützte globale Klima-Modellierung geehrt.

Giorgio Parisi hat den Nobelpreis für seine Untersuchung von Spingläsern, insbesondere für seinen „great leap  … to introduce a new order parameter“ erhalten [1]. Seine Arbeiten ziehe ich für meine Metabetrachtungen heran.

Spin Gläser sind u.a. Legierungen wie CuMn, wobei das nichtmagnetische Kupfer (Cu) magnetisches Mangan (Mn) mit ca. 13% enthält. Die magnetischen Momente (Spin‘s) der Manganatome sind zufällig, aber fest im Kupferkristall verteilt. Zwischen den Manganatomen können ferromagnetische und antiferromagnetische Wechselwirkungen auftreten. – Je nach Konfiguration der Manganatome müssen diese mit ihren Nachbar-Manganatomen sowohl eine ferromagnetische als auch eine antiferromagnetische Wechselwirkung „befriedigen“. Dies kann auch Atome „frustrieren“. – Spingläser, also Substanzen, die bezüglich des Spins, wie Glas, amorphe Konfigurationen aufweisen und Frustrationen ausbilden, zeichnen sich (oft) nicht mehr nur durch einen einfachen Ordnungsparameter, wie die makroskopische Magnetisierung aus. – Sondern sie bilden viele mikroskopische Zustände aus, die mit dem Einstellen bestimmter Parameter (Rahmen- und Kontrollparameter) zu vielen unterschiedlichen Phasen mit jeweils unterschiedlichen Ordnungsparameter-Ausprägungen führen. Diese Ordnungsparameter-Ausprägungen genügen jedoch einem einheitlichen mathematischen Muster. – Parisi hat dieses „new order parameter“ Muster eingeführt [2].

Ich will versuchen dieses Muster am Beispiel einer sozialen Gruppe, an einem Team, zu erläutern.- Für den ein oder anderen mag dies Physikalismus sein [3], also der Versuch Alles und Jedes mittels Physik zu erklären; für mich ist es das Denken in Modellen und Theorien; und Metabetrachtungen helfen das ein oder andere qualitativ und quantitativ viel besser zu verstehen: Im Management 4.0 modellieren wir zentrale menschliche Eigenschaften mit der sogenannten Dilts Pyramide. Die Dilts Pyramide integriert hierbei ca. 30 unsere Persönlichkeit bestimmende Eigenschaften (Vision, Mission, Zugehörigkeit, Temperament, Werte, Glaubenssätze, Grundannahmen und Prinzipien). Stellen wir uns für den Moment die Pyramide (sie ist ja ein Keil, eine Spitze) als eine Ausrichtung unserer Persönlichkeit vor. Bilden wir eine Gruppe aus Personen mit unterschiedlichen Dilts Pyramiden, so bildet die Gruppe nicht selten (am Anfang) eine „Diltsglas-Organisation“: Die Pyramiden zeigen alle in unterschiedliche Richtungen. Recht selten geschieht es, dass die Pyramiden eine gemeinsame Ausrichtung erfahren, das Team sich also einen Ordnungsparameter, den Collective Mind, erarbeitet. Sehr oft führt die Gruppendynamik in einem Projektteam zu unterschiedlichen Kommunikationskonfigurationen (Zuständen): Unterschiedliche Visionen, Werte oder Glaubenssätze tauchen auf, nicht selten bleiben diese nebeneinander bestehen, ohne dass dies für die Gruppenmitglieder wirklich transparent wird. Damit verbunden sind, wie wir wahrscheinlich alle wissen, auch Frustrationen. Die Kommunikationskonfigurationen sind jedoch nicht beliebig. Die verschiedenen konfigurationsspezifischen Ausrichtungen der Dilts Pyramide der einzelnen Gruppenmitglieder haben nichtverschwindende „Überlappe“, z.B. mögen bestimmte Werte oder Glaubenssätze in verschiedenen Konfigurationen auftauchen. – Sie wirken als „mikroskopische“ Ordnungsparameter, die die makroskopische (Un-) Ordnung bestimmen. Man könnte also einen neuen Ordnungsparameter einführen, der den „Überlapp“ bei allen Teammitglieder misst und aufsummiert. – Damit hat man auch ein Maß für die „Diltsglas-Organisation“ des Teams. – Dieses Vorgehen entspricht dem von Parisi eingeführten neuen Ordnungsparameter für Spingläser. – Der Ordnungsparameter der „Diltsglas-Organisation“ ist damit auch ein Maß für die „Abweichung“ von einem einfachen Ordnungsparameter, dem Collective Mind, bei dem alle Dilts Pyramiden im Rahmen der Teamaktivitäten in eine Richtung zeigen.

Man kann die Analogie noch erweitern: Physikalische Spingläser können durch äußere magnetische Felder in der Ausbildung des Parisi-Ordnungsparameters beeinflusst werden. Auch „Diltsglas-Organisationen“ zeigen ein ähnliches Verhalten, wenn eine (äußere) Beeinflussung einsetzt: Führungskräfte oder Coaches wirken auf die Dilts Pyramiden des Teams ein. – Bei kleinen Einflussnahmen bleibt das „Diltsglas“ erhalten, steigt die Einflussnahme entsteht eine Ausrichtung, die aussieht wie ein Collective Mind. In den meisten Fällen dürfte die Ausrichtung jedoch wieder verschwinden, wenn die Einflussnahme zurückgeht, falls sich bis dahin keine intrinsische Veränderung im Team ausgebildet hat.  

Alles schön und gut, könnte man sagen: Warum macht es Sinn sich mit solchen Metabetrachtungen zu beschäftigen. In der Schrift des Nobel-Komitees [1] wird die Antwort gegeben. Die Modelle zur Erklärung von Spin-Gläsern haben heute sehr viele unterschiedliche Bereich erheblich befruchtet: Verschiedene Gebiete der Physik, der Biologie, der Chemie, der Neurowissenschaften und der Künstlichen Intelligenz. Für die Verbindung von Neurowissenschaften und Systemen Künstlicher Intelligenz wird explizit die Arbeit von John J. Hopfield in [1] genannt. Neuronale Netzwerke können auch als Spinglas Systeme verstanden werden, wenn man die magnetischen Momente durch Neuronen ersetzt. Die Wechselwirkungsparameter zwischen den Spins entsprechen den Gewichten zwischen den Ausgängen einer Neuronen Schicht und den Eingängen der nächsten Neuronen Schicht. Angelegte magnetische Felder entsprechen den Bias-Einstellungen der Neuronen. – Und wie oben geschildert, kann man die Grundprinzipien auch auf soziale Gruppen übertragen.

Die GPM Fachgruppe Agile Management beschäftigt sich seit einem Jahr mit der Nutzung von KI-Systemen im Management 4.0. Insbesondere habe ich mir hierzu zwei Themen ausgesucht:

  • Die Nutzung eines Neuronalen Netzwerkes für die Ermittlung von Persönlichkeitsmerkmalen aus beobachteten Verhaltensweisen.
  • Die Ermittlung des Grades der „Diltsglas-Organisation“ (wie oben geschildert) und des Collective Minds eines Teams aus auditiven Gesprächsprotokollen.

Den technologischen Durchstich für die erste Aufgabe konnte ich inzwischen erfolgreich abschließen. Ich bin also optimistisch, dass ich meine nächsten Blogbeiträge der Ausgestaltung dieser beiden Themen widmen werde. 

           

[1] The Nobel Committee for Physics (2021) For groundbreaking contributions to our understanding of complex physical systems, Scientific background on the Nobel Prize in Physics 2021.

[2] Parisi G (2008) The physical Meaning of Replica Symmetry Breaking, arXiv

[3] Wikipedia (2021) Physikalismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Physikalismus_(Ontologie), zugegriffen am 29.10.2021

[4] Hopfield J.J. (1982) Neural networks and physical systems with emergent collective computational abilities, Proc. Nat. Acad. Sci. USA, Vol. 79 Biophysics

Metabetrachtungen: Zur Schnittmenge von Intuitivem Bogenschießen, Künstlicher Intelligenz und Management 4.0

Ende letzten Jahres habe ich einen WDR-Fernseh-Beitrag zur Bogenwerkstatt gesehen [1]. Dieser Beitrag hat meine verschüttete Kindheitsleidenschaft zum Bogenschießen wieder offengelegt. Seither übe ich mich mit großer Freude im sogenannten Intuitiven Bogenschießen [2]. Beim Intuitiven Bogenschießen bringt allein das „Körpergefühl und die Erfahrung des Schützen den Pfeil ins Ziel – rein intuitiv ohne Zieltechnik“. Intuitives Bogenschießen hat eine recht große Nähe zum japanischen Zen-Bogenschießen. – Das Buch des Philosophen Eugen Herrigel, der nach sechs! Jahren harten Übens (genüsslich zu lesen) seine Zen Bogenschieß-Prüfung ablegte gibt u.a. einen wunderbaren Eindruck von der Aussage „rein intuitiv ohne Zieltechnik“. – Die Fähigkeit sich an unterschiedliche Kontexte anzupassen, wird insbesondere beim 3D-Parcours Schießen im Gelände besonders herausgefordert.

Intuitives Bogenschießen wird auch als therapeutisches Bogenschießen in Kliniken eingesetzt. – Fokus, Adaption und Intuition sind zentrale Elemente des Intuitiven Bogenschießens. – Die begriffliche Nähe zum Management 4.0 ist offensichtlich. Ich werde später aufzeigen, dass auch eine Schnittmenge zur Künstlichen Intelligenz mittels Deep Learning gegeben ist.

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit und das Glück an einem dreitägigen Kurs zum Thema Deep Learning mittels Tensorflow teilzunehmen [4]. Tensorflow ist die von google u.a. über colab.research.google.com zur Verfügung gestellte Plattform für das Erstellen von Deep Learning Systemen der Künstlichen Intelligenz. – Das Eintauchen in diese und weitere Plattformen des Machine Learnings (ML) ist überwältigend: Es ist kein Programmieren mehr im mir bisher bekannten Sinne, sondern entspricht eher dem Design und Konfigurieren von Systemen auf sehr hohem Abstraktionsniveau. – Den erreichten (globalen) Fortschritt im ML konnte ich mir bisher in dieser nahezu „unendlichen Fülle“ nicht vorstellen. Deep Learning ist eine Form von technischer Selbstorganisation – das Design und die Konfiguration dienen der Ausgestaltung der Selbstorganisationsparameter des neuronalen Netzwerkes; und damit ist der Bezug zu Management 4.0 schon erkennbar.          

Vor einem Jahr haben wir in der Fachgruppe Agile Management eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich mit der Anwendung von Künstlicher Intelligenz im Projekt Management beschäftigt: Helge Nuhn hat kürzlich einen Übersichtsartikel zu Stand und Potential der Nutzung von Artificial Intelligence Systemen (AI Systemen) in temporären Organisationen und im Projekt Management erstellt [5].

In allen drei Bereichen – Intuitivem Bogenschießen, Künstlicher Intelligenz und Management 4.0 – ist Lernen das Schlüsselelement, um das System Mensch, das technische System Neuronales Netzwerk und das soziale System Team oder Organisation auf das Umfeld, also auf den jeweiligen Kontext, auszurichten.

In dem Standardwerk zu Machine Learning (ML) von Aurélien Géron charakterisiert er maschinelle Lernverfahren u.a. durch die Gegenüberstellung von Instanzbasiertem Lernen und Modellbasiertem Lernen: Instanzbasiertes Lernen ist dem Auswendiglernen sehr nahe. – Die Maschine lernt vordefinierte Objekt-Beispiele (Instanzen) einfach auswendig und wendet ein sogenanntes Ähnlichkeitsmaß zum Identifizieren von neuen Objekten (Instanzen) an. Ist die Ähnlichkeit hoch genug werden die neuen Objekte maschinell den vordefinierten Klassen zugeordnet. Instanzen können spezifische Kunden, Äpfel, eMails usw. sein. Das Ähnlichkeitsmaß wird über Regeln definiert und wird im „klassischen“ Sinne programmiert. – Die Regeln stellen eine äußerst einfache Form eines von außen (durch den Programmierer) vorgegebenen Modells dar. Das eigentliche Modellbasierte Lernen funktioniert jedoch völlig anders: Einem System werden Beispieldaten übergeben und das System entwickelt hieraus ein Modell und dieses Modell wird zur Vorhersage verwendet. Das Modellbasierte Lernen ist also dem wissenschaftlichen Vorgehen bei der Entwicklung von Erkenntnissen nicht unähnlich. Deep Learning lässt sich nach dem mehr oder weniger an Selbständigkeit beim AI-Lernen unterscheiden: Supervised Learning, Unsupervised Learning und Reinforcement Learning.

Zwischen Instanzbasiertem Lernen und Modellbasiertem Lernen liegt ein fundamentaler Unterschied. – Dies wird in dem Moment offensichtlich, wenn ich die Verbindung zum Management 4.0 und dem Lernen im einfachen oder komplizierten Kontext und dem Lernen im komplexen Kontext ziehe. Das Instanzbasierte Lernen ist das Lernen an Best Practice, also an Beispiel-Objekten wie einem Beispiel-Projekt oder an einem Beispiel-Verfahren. Das Ähnlichkeitsmaß ist in diesem Fall die Nähe zur eigenen Praxis: Der Lernende sucht nach einem Projekt, das möglichst zu seiner bisherigen Praxis passt. Dies kann heißen, dass Beispiele aus anderen Branchen nicht akzeptiert werden, dass nur dann das Beispiel passt, wenn der Lernende davon ausgeht, dass im Best Practice ein ähnliches Mindset vorliegt oder dass der WIP (Work-in-Progress) wie in der eigenen Organisation ähnlich groß ist, usw…. In jedem Fall wird der Projektkontext des Best Practices nur ungenügend abgebildet, es findet keine oder eine nur sehr geringe Abstraktionsleistung statt und die Übertragbarkeit ist deshalb mehr als fraglich.

Lernen im Management 4.0 ist Modellbasiertes Lernen. Instanzen sind nicht die Basis des Lernens, allenfalls um zu zeigen, dass man mit dem Modell sehr gut Probleme (Instanzen) lösen kann, die man vorher noch nie gesehen hat. – Falls das Modell jedoch nicht erfasst wird, erzeugt dies bei einem an Instanzbasiertes Lernen gewöhnten Menschen keine Erkenntnis: Da das Modell sich nicht erschließt, erschließt sich auch nicht die Lösung; Modell und Lösung sind unpraktisch.         

Mit dieser Erkenntnis sehr eng verbunden ist das sogenannte „Overfitting“ im ML: Man kann ein Neuronales Netz extrem gut mit einem gewaltig großen Datensatz (zum Beispiel Tier-Bildern) trainieren. – Die ermittelte Trefferrate ist fantastisch, so lange Bilder aus dem Trainingsdatensatz verwendet werden. – Trotzdem versagt das Netz bei einem bisher unbekannten Bild die Hundeart Spitz zu erkennen, und verortet den Spitz als Tyrannosaurus Rex. Der Kontext in dem der Spitz gezeigt wurde, war anders als bei den Trainingsdaten: Das AI-System konnte aufgrund der geringen Datenvariabiltät kein hinreichend abstraktes Modell ausbilden, um den Spitz in einem andersartigen Kontext zu erkennen. – Das Modell war sozusagen im Instanzbasierten Lernen hängen geblieben.

Beim Bogenschießen machte ich eine ähnliche Erfahrung im Selbsttraining: Ich stellte mich mit sehr vielen Schüssen (und ich meine hunderte, wenn nicht tausende Schüsse) auf einen bestimmten Kontext ein und die Trefferrate war sehr gut! – Eugen Herrigel beschreibt in seinem Buch wie er 4 Jahre aus einem Meter Distanz zum Ziel die Rituale des Zen-Bogenschießens einübt, um dann ad hoc mit einer 60 Meter Distanz konfrontiert zu werden, an der er über Monate kläglich scheiterte.

Bogenschießen unterliegt vielen, wahrscheinlich einigen hundert Parametern: Einer der offensichtlichen Kontext-Parameter ist die Entfernung zum Ziel. Änderte ich in der Anfangszeit die Entfernung ging meine Trefferrate deutlich runter. Ich hatte meine Intuition, mein Gehirn (d.h. mein neuronales Netzwerk), mittels Instanzbasiertem Lernen trainiert. Mit der Hinzunahme weiterer Entfernungen im 3D-Parcours wurde meine Trefferrate immer schlechter, um nicht zu sagen chaotischer. Mein Gehirn hat es aufgrund der vielen Parameter nicht geschafft, von allein eine Intuition, also ein mentales Modell, auszubilden, das mir zu einer besseren Trefferrate verhilft. Bei künstlichen Neuronalen Netzwerken hat man eine ähnliche Beobachtung gemacht: AI-Systeme können ebenfalls „Frustration“ ausbilden, sei es, dass sie in einem System-Zustand verharren oder „chaotische“ Reaktionen zeigen.  

Die Trefferrate wurde erst wieder deutlich besser als ich meiner Intuition auf die Sprünge half. Ich dachte mir ein einfaches Modell aus: Dieses Modell beruht auf der Erkenntnis, dass der Pfeilflug eine Wurfparabel beschreibt. Man spricht auch von ballistischem Schießen. Ist die Distanz gering (ca. 20 m) merkt man vielfach nichts von dieser Wurfparabel. – Vielfach bedeutet, dass die anderen Parameter, wie zum Beispiel Pfeilgewicht, Bogenstärke, usw. dies ermöglichen. Im Falle meines Bogens und meiner Pfeile wird die Wurfparabel ab 20 m immer stärker sichtbar. Das Modell lautet aktuell: Richte den Pfeil in einer geraden Linie auf das Ziel aus, auch wenn es 30 oder 40 Meter entfernt ist, schätze die Entfernung und hebe den Bogen in Abhängigkeit von der Entfernung leicht an. Leicht anheben bedeutet maximal 1-2 Winkelgrad. – Ein Winkelgrad kann durchaus im Ziel eine Abweichung von 50 cm oder mehr hervorrufen. – Also eine ziemliche Anforderung an Intuition und Motorik. Seit ich mit diesem Modell (das noch etwas umfangreicher ist, und weitere Parameter wie zum Beispiel das Pfeilgewicht berücksichtigt) schieße, hat sich die Trefferrate wieder deutlich verbessert und meine Adaptionsfähigkeit ist wesentlich gestiegen.      

Der Neurobiologe Henning Beck beschreibt in [7] wie unser Hang zur Ordnung im Lernen, also zum Instanzbasierten Block-Lernen uns „behindert“:

„Stellen Sie sich vor, Sie sind Lehrer an einer Kunstschule und wollen Ihren Kursteilnehmern den typischen Malstil von van Gogh, Monet und Cezanne vermitteln, wie gehen Sie vor? Oder umgedreht gefragt: Sie sollen für eine Prüfung lernen, was das Typische an den Bildern der drei Künstler ist, was würden Sie tun? Würden Sie sich Bilder der Maler anschauen? Ins Museum gehen, die Bilder vielleicht sogar nachmalen? …

…Eine Gruppe lernte genau nach obiger Blockabfertigung: Zunächst sah man sich eine Reihe von Bildern des ersten Künstlers an, machte dann eine kurze Pause, bevor die Bilder des Künstlers Nummer zwei folgten. Bei der anderen Gruppe machte man etwas anderes: Man zeigte die Bilder aller Künstler durcheinandergemischt, machte dann eine Pause und zeigte anschließend eine neue Runde durchmischter Bilder. Was für ein heilloses Durcheinander! So verliert man doch total den Überblick! …

…Das Ergebnis der Studie war jedoch erstaunlich: Ging es in dem anschließenden Test darum, ein zuvor gezeigtes Bild zu erkennen, dann schnitt die erste Gruppe, die blockweise gelernt hatte, besser ab. Ging es jedoch darum, ein neues, zuvor nicht gezeigtes Bild korrekt zuzuordnen, dann war Gruppe zwei mit den durchmischten Bildern besser. Denn diese Gruppe hatte die Bilder nicht nur auswendig gelernt, sondern auch das Typische der Malstile verstanden…

…Im obigen Malstilexperiment gaben drei Viertel der Teilnehmer an, das blockweise Lernen führe zu einem besseren Verständnis der Malstile – selbst nachdem man den finalen Test gemacht hatte, war die Mehrheit überzeugt, weiterhin blockweise lernen zu wollen.“

Ich habe Henning Beck hier so ausführlich zitiert, weil ich das „…Durchmischen von Lerninhalten, …das „Interleaving“…“ seit vielen Jahren in meinen Management 4.0 Trainings anwende und auch dort die Erfahrung mache, dass 50-75% der Teilnehmer das Block-Lernen bevorzugen. – Wie oben geschildert, geht blockweises Lernen mit dem Unvermögen einher, mentale Modelle zu erstellen, die sich auf neue Kontexte adaptiv einstellen. – Dies ist eine zentrale Fähigkeit um Komplexität zu meistern, also dem Handeln unter Unsicherheit und Unüberschaubarkeit.   

Meine Erfahrungen, sei es im Selbst-Training beim Bogenschießen, beim Erstellen von AI-Systemen oder in meinen Management 4.0 Trainings, zeigen, dass die Schnittmenge in diesen drei vordergründig disjunkten Bereichen keineswegs Null ist. – Die hier skizzierten Metabetrachtungen helfen, Einzel-Disziplinen besser zu verstehen, vernetzte Erkenntnisse zu gewinnen und Meta-Lernen anzuregen.

 

[1] Hörnchen D (2021) Die Bogenwerkstatt, https://www.die-bogenwerkstatt.de/, zugegriffen am 15.09.2021

[2] Wikipedia (2021) Traditionelles Bogenschießen, https://de.wikipedia.org/wiki/Traditionelles_Bogenschie%C3%9Fen, zugegriffen am 15.09.2021

[3] Herrigel E. (2010) Zen in der Kunst des Bogenschießens

[4] Zeigermann O (2021) Introduction Deep Learning to Deep Learning with Tensorflow 2, zeigermann.eu, embarc.de/oliver-zeigermann, ein Training der oose.de

[5] Nuhn H (2021) Organizing for temporality and supporting AI systems – a framework for applied AI and organization research, Lecture Notes in Informatics, GI e.V

[6] Géron A (2020) Praxiseinstieg Machine Learning mit Scikit-Learn, Keras und Tesnorflow, O’Reilly, 2. Auflage

[7] Beck H (2021) Die Crux mit der Ordnung, in managerSeminare 276, März 2021, https://www.managerseminare.de/ms_Artikel/Schlauer-lernen-Die-Crux-mit-der-Ordnung,281117, zugegriffen am 15.09.2021

Agil oder adaptiv? Oder Management 4.0 = Complex Adaptive System Management?!

Die GPM Fachgruppe Normen und Standards im PM [1] trägt zurzeit in ihrer Arbeitsgruppe ‚Agiles Projektmanagement‘ Theorie und Praxis des Agilen Projekt Managements zusammen. Die Ergebnisse dieses Dialogs sollen in relevante Normierungsgremien von DIN, CEN und ISO einfließen.

Eine der aus dem ISO Kontext mitgebrachten Fragen lautet: „Gibt es Unterschiede zwischen Agilem und Adaptiven Management? Und welche Unterschiede sind dies?“

Der folgende Blog-Beitrag geht hierzu auf Spurensuche!

Spüre ich dem Verständnis von Agilem Management nach, so stoße ich fast immer auf ein vorherrschendes Verständnis: Agiles (Projekt) Management = Scrum, alleine oder hybrid-integriert in ein planbasiertes Projektmanagement.  Ich mache dies daran fest, dass in der überwiegenden Anzahl der Gespräche hierzu, sofort von Sprints, Product Backlog, Product Owner oder Scrum Master gesprochen wird, also speziellen Scrum Techniken! Sehr selten werden andere Techniken angeführt und noch viel seltener wird vom Agilen Manifest, von Mindset und Werten sowie Glaubenssätzen gesprochen oder dem Thema Governance. Der Begriff Selbstorganisation taucht zwar auf, jedoch wird keinerlei Zusammenhang zu dem universellen Prinzip der Selbstorganisation, als Governance, hergestellt. – PDCA oder PDIA [2] tauchen mit ähnlich geringer Häufigkeit in den Gesprächen auf, ganz zu Schweigen von Kontext, Empirie oder Komplexität. Agilität wird kaum als Balance von Flexibilität und Schnelligkeit gesehen (Agilität = Flexibilität * Schnelligkeit), und dementsprechend selten wird Agiles Management, als Management betrachtet, diese Balance herbeizuführen. Weiterführend verstehen wir im Management 4.0 Agilität als die Fähigkeit, Komplexität zu regulieren: D.h. sich mit der System-Komplexität, also der eigenen mentalen Komplexität oder der des Teams oder der der Organisation adaptiv auf die Komplexität des Umfeldes einzustellen und beide Komplexitäten, also von System und Umfeld, adaptiv wertschaffend zu meistern. Von diesem Verständnis ist das vorherrschende Verständnis Agilen (Projekt) Managements sehr weit entfernt. 

Umso erstaunlicher ist folgende Feststellung: Eine (erste) Recherche zu Adaptivem Management zeigt ein viel allgemeineres und tiefgehendes Verständnis. Der Begriff Adaptives Management hat es bis zur U.S. Agency for International Development (usaid.gov) gebracht und wird in einer discussion note ausgeführt [3], die auch in direkter Verbindung zum UK BOND Netzwerk steht, das Adaptives Management als ein zentrales Mittel für die erfolgreiche internationale Entwicklung sieht [4, 5]. – Nachhaltigkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit, aber auch Komplexität, Selbstorganisation, und PDCA/PDIA spielen in beiden Dokumenten eine zentrale Rolle:  

“Adaptive management is defined in ADS 201.6 as “an intentional approach to making decisions and adjustments in response to new information and changes in context.” Adaptive management is not about changing goals during implementation, it is about changing the path being used to achieve the goals in response to changes. Like other donors and development organizations (see, for example, the following initiatives: Doing Development Differently, Problem-Driven Iterative Adaptation, Thinking and Working Politically, and The World Bank’s Global Delivery Initiative), USAID is increasingly recognizing the importance of adaptability for its work to be effective. ADS 201 now integrates adaptive management approaches throughout the Program Cycle. …“Manage adaptively through continuous learning” is one of the four core principles that serve as the foundation for Program Cycle implementation.”

Dies spiegelt den empirisch-wissenschaftlichen Hintergrund wider [6]:

„Adaptive management is a process that can improve management practices incrementally by implementing plans in ways that maximize opportunities to learn from experience. From: Models for Planning Wildlife Conservation in Large Landscapes, 2009”

Mein Verständnis von Management 4.0 beruht auf folgender Definition und schließt die obigen Ausführungen [3 ,4, 5, 6] zu Adaptivem Management ein:

Management 4.0 ist eine Führungs- und Management- Theorie und Praxis, um in einem komplexen und von Unsicherheit gekennzeichneten Handlungsfeld adaptiv und proaktiv agieren zu können. Sie ist gekennzeichnet durch einen agilen Mindset mit dem Fokus auf:

  • einer Führung, deren Grundlage das Lernen und die Selbstführung ist,
  • einer Führung, die auf den Grundbedürfnissen der Menschen fußt,
  • einer Führung, die die belebte und unbelebte Natur als Basis unseres Lebens schützt und respektiert,
  • einer Führung, die das Verständnis komplexer Systeme fordert, sowie deren Regulation durch ein iteratives Vorgehen fördert, 
  • einer Führung, die Menschen zur Selbstorganisation befähigt.
  • Damit ermöglicht sie Fluide Organisationen, die das anpassungsfähige und schnelle Liefern von nutzbaren Ergebnissen fördern und durch den proaktiven Umgang mit Veränderungen innovative nachhaltige Lösungen schaffen,
  • um wesentlich dazu beizutragen, dass alle Menschen in Würde in einem lebenswerten Umfeld leben, so dass sich das Bewusstsein unserer globalen Gesellschaft ständig integral weiterentwickelt.

Zusammenfassend stelle ich fest, dass Adaptives Management und damit Management 4.0, die Führung und das Management von Complex Adaptiv Systems [7] zum Ziel hat.

Die nachfolgenden drei Abbildungen illustrieren einige Aspekte dieser Definition und des damit verbundenen Verständnisses.

Abbildung 1 verdeutlicht „in einem komplexen und von Unsicherheit gekennzeichneten Handlungsfeld adaptiv und proaktiv agieren zu können“. Hiernach ist sowohl der Start als auch das Projekt-Ziel in einem gewissen Maße unbestimmt und der Weg vom Start zum Ziel ist von hoher Unsicherheit gekennzeichnet und erfordert mittels des PDCA/PDIA eine fortlaufende Adaption. Damit geht dieses Verständnis auch über dasjenige von [3] hinaus, in dem „changing goals“ explizit ausgeschlossen werden. – Das Goal wird im Management 4.0 über eine Ziel-Hierarchie abgebildet, und diese kann sich mit fortschreitender Erkenntnis auf allen Ebenen ändern. – Im Normalfall sollte die Änderung auf der obersten Ebene nur sehr selten und wenig erfolgen.- Die oberste Ebene stellt den am wenigsten sich ändernden Ordnungsparameter dar. Abbildung 1 ist für nicht wenige Projektmanager eine mentale Herausforderung, da sowohl Start als auch Ziel nur „fuzzy“ erfassbar sind.- Damit liegt für viele kein Projekt vor! Die Herausforderungen wie Corona oder Klimawandel illustrieren jedoch sehr eindrücklich die Unzulänglichkeiten dieses Projektverständnisses!

Abbildung 1: Vom fuzzy Projekt-Start zum fuzzy Projekt-Ziel, aus [8]

Abbildung 2 verdeutlicht den empirisch wissenschaftlichen Ansatz des Adaptiven Managements, der auch in [3, 4, 5, 6] enthalten ist. Am Beispiel des komplexen Umfeldes Corona können wir erkennen, wie über Jahrzehnte gelebte Praxis ohne Theorie zu Dummheit führt oder anders ausgedrückt zu mangelhafter Adaptionsfähigkeit und damit verbundenem mangelhaftem Adaptiven Management.

Abbildung 2: Der PDCA/PDIA im Management 4.0, aus [8]

Werden Theorien und Modelle einer Pandemie nicht verstanden oder politisch weichgespült, können keine relevanten Sozialtechniken abgeleitet werden, z.B. abgestimmte Regionalisierungsmodelle zur Pandemie, konsequente Datenerhebungs- und Auswertungs-Modelle gemäß den hypothetischen Erfolgsfaktoren, Ableitung der hypothetischen Erfolgsfaktoren (wie z.B. Einlasskontrollen und Prüfungen im Inland und an den Grenzen, usw.) sowie transparentes Adaptieren der Erfolgskriterien (wie z.B. Inzidenzen, Intensivbettenbelegung, mentale Verfassung der Gesellschaft, usw.). Stattdessen werden in kurzen Zeitabständen ohne Fundament adhoc Maßnahmen eingeführt, die kurze Zeit später schon wieder verworfen werden: Die politischen Amtsträger überbieten sich regelrecht in Aussagen wie „Ich bin der Meinung, dass…“. Meinungen entbehren jedoch oft der Tragfähigkeit; sie finden sich jedoch oft kurze Zeit später als weitere Corona Regeln in einem Wirrwarr von anderen Corona Regeln. Adaptionsfähigkeit verkommt zum Spielball von Interessen oder auch zur Dummheit: Dies ist keine Adaptionsfähigkeit, genauso wenig wie Agilität!

Abbildung 3 verdeutlicht die Verwendung des obigen PDCA/PDIA Zyklus am Beispiel des Management 4.0 Handlungsrahmens Collective Mind [9]:

Abbildung 3: Der PDCA/PDIA aus Abbildung 2 umgesetzt für den Handlungsrahmen Collective Mind [9] im Management 4.0.

Im Handlungsrahmen Collective Mind werden Theorien und Modelle aus wissenschaftlichen Theorie übernommen und auf den jeweiligen Projektkontext als Sozialtechniken adaptiert (in Abbildung 3 sind nur einige Theorien und Modelle als Beispiele angeführt). Die Sozialtechniken gestalten die hypothetischen Erfolgsfaktoren aus, die wiederum die hypothetischen Erfolgskriterien beeinflussen sollen. Diese spezielle Form des Projektdesigns wird adaptiv in Iterationen mittels PDCA/PDIA überprüft und angepasst.

Der PDCA bzw. PDIA wurde nicht von der agilen Community erfunden, jedoch vielleicht erstmals entsprechend seiner Bedeutung verstanden und eingesetzt. Er ist die Basis jeglichen agilen Handlungsrahmens und des Adaptiven Managements. Seit kurzem verwenden immer mehr Anwendungsfelder dieses einfache Modell in verschiedenen spezifischen Ausprägungen. – Stellvertretend hierfür erwähne ich nur zwei sehr unterschiedliche Bereiche, die dies auf den ersten Blick nicht vermuten lassen: Das Sicherheits-, Gesundheits- und Arbeitsschutz-Management gemäß ISO 45001 [10] und das Data Science Analyse Modell gemäß des CRISP-DM Standards [11].  

Im Management 4.0 verwenden wir die aus der Veränderungsarbeit des NLP bekannte Dilts Pyramide zur Charakterisierung von sozialen Systemen, also auch von Handlungsrahmen des Management 4.0 [12]. Die nachfolgende Tabelle charakterisiert Management 4.0 und den dort auch enthalten Handlungsrahmen Scrum:

 

Management 4.0 = Complex Adaptive System Management

Scrum = Agiles Management

Vision, Mission

Wir und unsere sozialen Systeme respektieren Mensch, Tier und Natur und wir sorgen uns um deren Integrität in unserem gesamten Handeln!

Wir sorgen dafür, dass die Arbeitswelt menschenwürdig wird und bleibt!

Mit Empirie lösen wir im Team jede komplexe Aufgabe.

Zugehörigkeit

Wir gehören zu denen, die Komplexität als Basis des Seins verstehen und als Geschenk begreifen, das man annimmt, in dem man es immer besser erfassen lernt.

Wir gehören zu denen, die eine komplexe Aufgabe lösen, in dem sie früh und häufig liefern.

Identität

Wir sind Modellierer unserer Arbeitswelt und sorgen mit Social Technologies für Synergien mit den Physical Technologies.

Wir sind Problemlöser, die ihre Kunden respektieren und Respekt vom Kunden erwarten.

Werte, Glaubenssätze

•       Fokus und Offenheit, Mut und Respekt, integrale Ganzheit und transzendentale Nachhaltigkeit

•       Theorie und Praxis gehören zusammen, Praxis ohne Theorie ist Dummheit: Nichts ist so praktisch, wie eine gute Theorie.

•       Selbstorganisation ist ein universelles Prinzip: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

•       Die universellen Prinzipien sind fundamental für unser gesamtes Sein.

Werte: Transparenz, Fokus, Mut, Offenheit, Selbstverpflichtung, Respekt

Arbeitstechnik-Prinzipien: Timeboxen, Überprüfen und anpassen, frühe und häufige Lieferungen, Transparenz schaffen, ermächtigte selbstorganisierte Teams

Fähigkeiten

Selbstreflexion und Leadership, Modellierung und (systemische) Metakompetenz

Adaption mittels Iterationen im (wissenschaftlichen) PDCA: Erfolgskriterien-Erfolgsfaktoren; Theoriebildung-Hypothesenbildung-Social Technologies/Sozialtechniken-Empirie-Theorieanpassung…

Scrum-Team-Kompetenz: Product Owner -, Scrum Master -, Developer- Kompetenz, Kundenorientierung durch entsprechende Dienstleister-Kompetenz

Verhalten

Ständiges adaptives Verhalten auf der Basis der M 4.0 Fähigkeiten

Scrum-Handlungsrahmen: Aufgabenorientierung (Backlog definiert die Aufgabe), iterative Vorgehensweise, Arbeiten im Team

Kontext

Komplexes System-Umfeld, das durch Unüberschaubarkeit und Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet ist.

Eine komplexe Aufgabe ist umzusetzen und das möglichst schnell und zur Zufriedenheit des Auftraggebers/Kunden

Tabelle 1: Management 4.0 und Scrum verglichen mittels der Dilts Pyramide

Wir bezeichnen die Ausprägungen aller Ebenen der Dilts Pyramide als Mindset. – Wie man unschwer erkennen kann, ist das Scrum Mindset im Management 4.0 Mindset enthalten, jedoch geht dieses weit über dasjenige von Scrum hinaus.

Damit beantworte ich abschließend unsere Eingangsfrage: Setzt man Agiles Management mit Scrum gleich, was oft geschieht, so ist Agiles Management nur eine spezielle Ausprägung Adaptiven Managements, insbesondere wenn man dieses verallgemeinert als Complex Adaptiv System Management, wie im Management 4.0, versteht.

 

[1] Fachgruppe Normen und Standards im PM der GPM (2021) https://www.gpm-ipma.de/know_how/fachgruppen/themenfokussierende_fachgruppen/normen_und_standards_im_pm.html

[2] Wikipedia (2021) PDCA, https://en.wikipedia.org/wiki/PDCA

[3] USAID Learning Lab (2021) Adaptive Management,  https://usaidlearninglab.org/lab-notes/what-adaptive-management-0 und https://usaidlearninglab.org/library/discussion-note-adaptive-management

[4] BOND (2021) Adaptive Management, https://www.bond.org.uk/resources/adaptive-management-what-it-means-for-csos

[5] Wikipedia (2021) Adaptive Management, https://en.wikipedia.org/wiki/Adaptive_management

[6] ScienceDirect (2021) Adaptive Management, https://www.sciencedirect.com/topics/earth-and-planetary-sciences/adaptive-management

[7] Wikipedia (2021) Complex Adaptive System, https://en.wikipedia.org/wiki/Complex_adaptive_system

[8] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos,  auch in englischer Sprache verfügbar: (2018) Project Management at the Edge of Chaos, Springer

[9] Köhler J und Oswald A (2009) Die Collective Mind Methode, Springer

[10] Wikipedia (2021) CRISP-DM, https://en.wikipedia.org/wiki/Cross-industry_standard_process_for_data_mining

[11] Wikipedia (2021) ISO 45001, https://de.wikipedia.org/wiki/ISO_45001

[12] Oswald A und Müller W (editors) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3.0“, BoD 

Agile Persönlichkeit und Kultur: Auf dem Weg zum Evidenzbasierten Agilen Projekt Management – Endlich?!

Die Zeitschrift PROJEKTMANAGEMENTaktuell hat auch dieses Jahr eine Ausgabe (Ausgabe 2/2021) dem Agilen Projekt Management gewidmet. Dieses Mal sind recht viele Beiträge von universitären Autoren enthalten. – Es ist erfreulich zu sehen, dass Agiles Projekt Management seit einigen Jahren zunehmend auch in der universitären Forschung einen Platz erhalten hat.

Insbesondere sticht aus meiner Sicht positiv der Beitrag von Schoper, Gertler und Fox hervor, der erstmalig den Einfluss von Kultur und Persönlichkeit auf das agile Arbeiten untersucht [1].  In diesem Blog-Beitrag widme ich mich diesem Artikel, da der Artikel ein sehr wichtiges PM-Thema wissenschaftlich untersucht und die Ergebnisse eine klare Praxis Relevanz haben. Gleichzeitig möchte ich die wissenschaftliche Vorgehensweise diskutieren und die abgeleiteten Ergebnisse beleuchten.

Von evidenzbasiertem Agilem Projekt Management spreche ich, wenn die Aussagen über die Wirklichkeit zu Agilem Projekt Management bzw. Agilem Arbeiten empirisch wissenschaftlich nachprüfbar sind. Wie ich noch diskutieren werde, bedeutet „empirisch wissenschaftlich nachprüfbar“ nicht automatisch, dass die Aussagen die intendierte Wirklichkeit beschreiben.

Ich fasse die wichtigsten Ergebnisse aus [1] zusammen und verzichte hier auf eine Einführung zum Persönlichkeitsmodell MBTI und zu Kulturmodellen nach Hofstede, Schein oder Spiral Dynamics. – Stattdessen verweise ich auf unsere Bücher [2, 3]:

Erstes Ergebnis: Die ideale agile Persönlichkeit hat die folgenden MBTI Persönlichkeits-Präferenzen: Introversion (Position 4), Intuition (Position 3), Feeling (Position 1) und Perceiving (Position 2). – In Klammern ist jeweils die Bedeutung der Präferenz, als Position, für die ideale agile Persönlichkeit angegeben. Die Persönlichkeits-Präferenz Feeling ist hiernach also am wichtigsten für eine ideale agile Persönlichkeit.

Zweites Ergebnis: Die ideale agile Landes-Kultur (oder nationale Kultur) zeichnet sich durch geringe Machtdistanz (Position 4), ein polychrones Zeitverständnis (Position 1), geringe Unsicherheitsvermeidung (Position 2) und Kollektivismus (Position 3) aus. – In Klammern ist jeweils wieder deren Bedeutung für agiles Arbeiten angegeben. Ein polychrones Zeitverständnis ist also hiernach am wichtigsten für eine ideale agile Landes-Kultur.

Drittes Ergebnis: Die Landes-Kultur ist deutlich einflussreicher als die Persönlichkeit für das Anwenden agiler Methoden. Die Bedeutung der Einflussfaktoren Persönlichkeit und Kultur hat folgende Positions-Ordnung: Polychron, keine Unsicherheitsvermeidung, Kollektivismus, Feeling, Perceiving, Intuition, Introversion, kleine Machtdistanz.

Einige dieser Ergebnisse decken sich mit vielen von mir in Coaching, Training und Beratung gemachten Beobachtungen, andere wiederum nicht und es gibt auch welche die ich als falsch ansehe.

Bevor ich zu den einzelnen Ergebnissen komme, möchte ich zuerst auf die wissenschaftliche Methode eingehen:

Die Ergebnisse wurden auf der Basis einer Befragung von 73 TeilnehmerInnen ermittelt. Die wesentliche Grundannahme, die sich hinter der Ableitung von wissenschaftlicher Erkenntnis durch Befragungen verbirgt, ist, dass die kollektive Intelligenz der Befragten bei sorgfältiger statistischer Analyse die „Wahrheit über die intendierte Wirklichkeit“ zu Tage fördert. Kollektive Intelligenz oder Collective Intelligence ist inzwischen ein anerkanntes Forschungsgebiet [4]. – Sie liegt unserer Management 4.0 Theorie und hier insbesondere der Theorie der Selbstorganisation zugrunde. Kollektive Intelligenz setzt jedoch bestimmt Systemparameter der Selbstorganisation voraus. – Man siehe hierzu Beiträge in diesem Blog oder in unseren Büchern [2,3].
Einfache, schon sehr lange bekannte Erfolge der kollektiven Intelligenz sind zu Schätzungen im Projekt Management bekannt. Diese Erfolge beruhen auf kollektiven Schätzungen von Experten, die sich nicht gegenseitig primen: Die Experten müssen über ein hinreichend homogenes Wissen zum Schätzgegenstand verfügen und dürfen nicht kollektiven mentalen Verzerrungen unterliegen.  – Mentale Verzerrungen werden u.a. aktiv in politischen Wahlen ausgenutzt. Passiv sind sie aber auch vorhanden, wenn die Befragten mentale Verzerrungen durch eine ähnlich geübte Praxis haben. Diese geübte Praxis kann z.B. dadurch entstehen, dass sie zur selben Berufsgruppe gehören und/oder über keine theoretische und praktische Ausbildung zum Themenbereich verfügen oder sie einfach nur zufällig vorwiegend zu gleichen oder ähnlichen Persönlichkeitspräferenzen neigen. Die Vorteile der kollektiven Intelligenz werden beim Schätzung im Projekt Management u.a. in der Delphi-Methode oder im Planning Poker genutzt.

In dem hier betrachteten Fall heißt die Grundannahme, dass die 73 TeilnehmerInnen ExpertInnen in den Bereichen Agiles Projekt Management, MBTI und Kultur sind. – Und, dass die TeilnehmerInnen über eine sehr gut Selbstreflexion verfügen, so dass die jeweiligen eigenen Persönlichkeitsprofile (MBTI-Temperament, Werte und Motive sowie Grundannahmen) die Ergebnisse nicht verfälschen. Falls dies beides nicht der Fall ist, sind die Ergebnisse fragwürdig. Die Grundannahme heißt also, dass die 73 Teilnehmer einen guten „proxy“ für die intendierte Wirklichkeit „agiles Arbeiten in Teams“ darstellen. 

Eine alternative empirische wissenschaftliche Vorgehensweise ist, eine Theorie zur Hochleistung in agilen Teams zu entwickeln oder aus der Literatur zu nehmen, um auf der Basis dieser Theorie Hypothesen zu formulieren. Anschließend werden Teams in der Praxis beobachtet, und die Hypothesen werden an den Beobachtungen getestet bzw. falsifiziert. Hier liegt Evidenz nach allgemeinem Verständnis nur vor, wenn eine hinreichend große Anzahl gleicher oder ähnlicher Teams beobachtet wird und die Ergebnisse der Beobachtung wissenschaftlich ausgewertet werden. Diese geschilderte Vorgehensweise ist in der praktischen Umsetzung sehr schwer. –  Es gibt für (agiles) Projekt Management oder für agil arbeitende Teams bisher meines Erachtens keine Begleitforschung, die dies tut.

Die im Management 4.0 skizzierte Vorgehensweise entspricht in großen Teilen dieser alternativen Vorgehensweise. Sie benutzt das Erfolgsfaktoren-Erfolgskriterien Modell zusammen mit einem wissenschaftlichen PDCA Zyklus: Theoriebildung – Hypothesenbildung – Testen – Ergebnisse sammeln und auswerten – anpassen der Theorie – usw. [2]. Das Sammeln und Auswerten der Ergebnisse erfolgt jedoch nicht nach quantitativen wissenschaftlichen Kriterien und ist damit nach allgemeinem Verständnis keine Vorgehensweise, die Evidenz erzeugt.

Die Vorgehensweise wie sie von [1] gewählt wurde, wird als Evidenz erzeugend angesehen, obwohl die Ergebnisse wie oben geschildert, die Sicht der Befragten (ggf. mit Verzerrungen) messen, also eigentlich nicht die intendierte Wirklichkeit. – Die intendierte Wirklichkeit ist nämlich die agilen Projektteams und deren unmittelbare Beobachtung. – Stattdessen erfolgen das indirekte Sammeln und Auswerten von Aussagen über den proxy „Teilnehmer der Studie“.

Ich halte die in [1] gewählte Vorgehensweise für diskussionswürdig und glaube, dass sie im hier vorliegenden Fall die intendierte Wirklichkeit nicht hinreichend gut erfasst.    

Um dies zu verdeutlichen, skizziere ich das Potential für Verzerrungen an einigen der Aussagen aus [1]. – Schauen wir uns hierzu einige Begriffe an, die die Befragten aus [1] als Experten bewerten mussten.

Zuerst die Aussagen zur idealen Kultur:

Eine geringe Unsicherheitsvermeidung ist mit Position 2 der Kulturpräferenzen ein sehr wichtiges Thema in der agilen Arbeit: Haben die Projektteilnehmer z.B. in einem Projekt Angst ihre eigene Meinung zu äußern, weil sie sich nicht gegen die Mehrheit stellen wollen oder hat das ganze Team Angst Neues anzugehen und frühe Ergebnisse zu zeigen, dann hat dies viel mit Unsicherheitsvermeidung zu tun. Schaut man in die Studie von Hofstede [2], so werden die Griechen als das Volk vermessen, das die höchste Unsicherheitsvermeidung hat. – Was man kaum glauben mag! Hierzu muss man wissen, dass die Messung von Hofstede im Berufskontext und dort wieder bei IBM Mitarbeitern gemacht wurde. Und die Griechen hatten zu dem Zeitpunkt der Befragung große Angst ihren Job zu verlieren. Die Messung und das aus meiner Sicht tatsächliche kulturelle Verhalten haben also nicht zwangsläufig etwas miteinander zu tun. – Die griechische Kultur zeichnet sich im Allgemeinen nach meiner Erfahrung nicht durch Unsicherheitsvermeidung aus. In den wenigsten Fällen dürfte Befragten dieser Zusammenhang bewusst sein. In diesem Fall hier kann man sich jedoch auf das übliche Verständnis von „Unsicherheitsvermeidung“ verlassen. – Auch nach meiner Erfahrung spielt die Unsicherheitsvermeidung eine sehr große Rolle, ob sie im vorliegenden Kontext mehr persönlich oder kulturell geprägt ist, kann ich aus meinen bisherigen Erfahrungen nicht ableiten. – Dies kann aber auch nicht aus den Daten aus [1] geschlossen werden. 

Schauen wir uns die Kultur Dimension „Individualismus-Kollektivismus“ an. – Sie steht auf Position 3 der kulturellen Präferenzen: Nach Hofstede haben gerade die Länder mit hoher Machtdistanz einen ausgeprägten Kollektivismus. – U.a. gehören China und Bangladesch in diese Kategorie.

Nach unserer Erfahrung gehört die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Bindung (u.a. ausgedrückt über die Werte Familie, Liebe, Teamorientierung,…) zu den wesentlichen Elementen einer persönlichkeitsorientierten (agilen) Kommunikation. Wie in [2] dargelegt, zeichnet sich eine agile Kultur durch eine Präferenz für die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Bindung und für die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach Lust und Unlustvermeidung (u.a. ausgedrückt durch Neugier, Innovationsbereitschaft) aus. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Selbstwerterhöhung und -schutz (u.a. ausgedrückt über die Werte und Motive Macht, Status, …) sowie Orientierung und Kontrolle (u.a. ausgedrückt durch die Werte und Motive Ordnung, Sicherheit, Kontrolle) ist weniger wichtig. Das Modell der Grundbedürfnisse ist evidenzbasiert und beruht auf dem Konsistenzmodell der Neuropsychiatrie nach Grawe. Hieraus haben wir Aussagen zu Neuro-Leadership sowie zur Verbindung von Grundbedürfnissen und dem Kultur- und Bewusstseinsmodell Spiral Dynamics abgeleitet [2].
Die Kulturpräferenz Kollektivismus basiert in erster Linie nicht auf emotionaler Bindung, sondern auf sozialen Konventionen. Es zeigt sich in der Praxis internationaler Teams, dass Teammitglieder mit einer kollektiven und machtorientierten Ausprägung am Anfang sehr schlecht mit agilem Arbeiten zu Recht kommen. Es bedarf einer gewissen Zeit (Wochen oder Monate) bis sie in einem agilen Projektkontext die durch den Kollektivismus geforderte Anpassung ablegen. Das agile Wir ist nicht identisch mit dem Wir des Kollektivismus!

Die kulturelle Dimension monochrones-polychrones Zeitverständnis steht an Position 1 der kulturellen Präferenzen für agile Projektarbeit. Nach Wikipedia wird sie durch folgende charakteristische Verhaltensweisen beschrieben [5]:

MonochroniePolychronie
Eine Aufgabe nach der anderen erledigenviele Aufgaben gleichzeitig erledigen (Multitasking)
hohe Konzentrationhohe Ablenkung
Termine werden ernst genommenTermine haben keine Bedeutung
Orientierung an PlänenPläne haben keine Bedeutung
Störungen anderer werden vermiedenStörungen anderer werden in Kauf genommen
hohe Pünktlichkeitgeringe Pünktlichkeit (Verspätungen)
Methodische Arbeitdie Geduld geht leicht verloren
Tabelle: Monochrones-Polychrones Zeitverständnis [5]

 

Diese Charakterisierung von monochronem bzw. polychronem Zeitverständnis ist auch mein Verständnis. Das polychrone Zeitverständnis ist (leider) geübte Praxis in vielen Unternehmen. Polychrones Zeitverständnis heißt im Wesentlichen „Tanzen auf vielen Hochzeiten“. Diese kulturelle Dimension findet auch ihre Entsprechung in der Dimension Judging-Perceiving des Persönlichkeitsmodells MBTI: Man kann sehr schnell feststellen, dass Personen mit der Persönlichkeitspräferenz Perceiving ohne große Anstrengung viele Aufgaben im Multitasking erledigen. – Das „Tanzen auf vielen Hochzeiten“ findet man u.a. gerade in den Kulturen der Unternehmen wieder, die über viele Jahre durch einen Chef mit entsprechender Persönlichkeitspräferenz Perceiving geführt wurden.

Falls dies das Verständnis der Befragten in [1] ist, so ist dies das genaue Gegenteil von agilem Arbeiten. Die Begrenzung des WIP ist eine Kernvoraussetzung für agiles Arbeiten und ein Kontrollparameter der Selbstorganisation und damit eine Voraussetzung für Hochleistung. Das Time Boxing und die Iterationen sorgen gerade für die Ausrichtung auf eine Aufgabe. Da das Begriffspaar monochron-polychron diese „negative“ Ausrichtung hat, verwenden wir in unseren Veröffentlichungen [2, 3] das aus unserer Sicht besser passende Begriffspaar monochromes-polychromes Zeitverständnis. Ein polychromes Zeitverständnis konzentriert sich in einer Zeiteinheit nur auf eine Aufgabe, zeigt jedoch Offenheit für weniger Planung und mehr adaptives Handeln, d.h. u.a. dass durchaus ein Plan gemacht wird (siehe PDCA), jedoch auch wieder verworfen oder angepasst wird, wenn der Kontext es erfordert. Die Menschen werden durch das Time Boxing und die Iterationen vor schnellen ad hoc Anpassungen geschützt.

Kommen wir zu den Persönlichkeitspräferenzen:

Die Persönlichkeitspräferenz Introversion steht auf Position 4 der Bedeutung für agiles Arbeiten. Wie in [2] dargelegt, und von Kahneman empirisch wissenschaftlich belegt, unterliegt die Auswahl von Führungskräften oft einer Repräsentations-Heuristik, also einer mentalen Verzerrung: Personen, die schnell reagieren können und immer etwas zu sagen wissen, werden als durchsetzungsstark empfunden. Die Erfahrung zeigt, dass in Teams, in denen die Teammitglieder oft überwiegend introvertiert sind, z.B. in Forschungs- und Entwicklungsabteilungen oder in der Softwareentwicklung, die Extroversion der Projektleiter ein zusätzliches Risikopotential darstellt: Expertenmeinungen kommen nicht hinreichend zur Geltung, was das Projekt nicht selten in eine Schieflage bringt. – Dies ist ein bekanntes Phänomen in (planbasierten) Projekten mit einem stark extrovertierten Projektleiter.

Deshalb schlagen wir auch für den PO eines Scrum-Teams eine eher extrovertierte Persönlichkeit vor und für den Scrum Master eine eher introvertierte Persönlichkeit. „Eher“ bedeutet hier, beide verfügen über eine hinreichende Selbstreflexion, um die andere Seite der Persönlichkeits-Dimension zu aktivieren. Dies heißt auch, dass es keine feste Position für die Bedeutung agilen Arbeitens gibt, sondern diese sehr stark vom Projektkontext und der ausgeübten Verantwortlichkeit abhängt. 

Die Persönlichkeitspräferenz Intuition ist auf Position 3. Die Bandbreite was unter Intuition zu verstehen ist, ist enorm. Intuition dürfte nahezu immer mit Abstraktion zu tun haben, also einer mentalen Operation der Erfassung des Ganzheitlichen oder Allgemeinen in wahrgenommen Details. Es geht um den Zusammenhang von Feinkörnigem und Grobkörnigem. Unsere in Hochleistungs-Teams gewonnene Erfahrung, ist eindeutig: Die Intuition kann ihre Macht nur entfalten, wenn das Grobkörnige und das Feinkörnige zusammenkommen. Die Intuition Einsteins lebt von der genialen Integration beider Seiten [2]: Dem Erfassen von Details und deren Verarbeitung und der ganzheitlichen integrierenden Sicht, die das Neue und das Wesentliche erfasst und zum Ausdruck bringt. Die Intuition die Faustregeln, Glaubenssätze und Grundannahmen erzeugt, funktioniert ähnlich, kann damit auch Komplexität regulieren, aber auch Verzerrungen hervorrufen. Kahneman sieht hierin eher die damit verbundenen Gefahren, Gigerenzer eher die Möglichkeiten zum Meistern von Komplexität [2].

Meines Erachtens ist das traditionelle (planbasierte) Mindset vorwiegend in den Details verhaftet. – Hierunter leidet das traditionelle Projektmanagement oft. Es wäre aber grundfalsch stattdessen nur die Intuition zu favorisieren. – Ein Hochleistungsteam benötigt beides, um der Genialität Einsteins im Team näher zu kommen. Die diversen Ausprägungen der Ziel-Hierarchie (Collective Mind Schema, Critical Chain PM Strategie Baum, Story Map, OKR’s) sind Ausdruck der Integration von Grobkörnigem und Feinkörnigem. – Sie ist notwendig, um in einem Team oder einer Organisation eine wertschaffende Ordnung hervorzurufen.

Die MBTI-Präferenz Feeling der MBTI Dimension Feeling-Thinking ist auf Position 1 der Persönlichkeitspräferenz für agiles Arbeiten. Diese Präferenz besagt, dass die Entscheidungsprozesse einer Person durch Beziehungen und weniger durch Logik beeinflusst werden. Das Grundbedürfnisse nach Bindung hat sicherlich etwas damit zu tun, jedoch trifft diese Dimension keine unmittelbaren Aussagen über die Bedeutung des Bedürfnisses nach Bindung bei der entsprechenden Person (man siehe auch meine Ausführungen zur Kulturpräferenz Kollektivismus). Was jedoch zutrifft ist, dass Personen mit dieser Präferenz in stärkerem Maße für Störungen in der Beziehung empfindlich sind. – Dies ist sehr hilfreich, um eine gute persönlichkeitsorientierte Kommunikation mit positiver Resonanz aufzubauen. Auch gilt hier wieder die schon für die anderen Dimensionen gemachte Aussage, dass ein gutes Team immer eine Ausgewogenheit von Feeling und Thinking Präferenzen haben sollte und die Teammitglieder über genug Selbstreflexion verfügen, um die positive Resonanz hervorzubringen. Ich füge hier an, dass ich in meinen Management 4.0 Trainings Persönlichkeits-Stereotypen für Product Owner (PM) und Scrum Master (SM) angebe. – Diese Stereotypen dienen lediglich der Orientierung und sollen nicht zum Ausdruck bringen, dass andere Persönlichkeitspräferenzen für die jeweilige Verantwortlichkeit nicht geeignet sind. Unter Berücksichtigung dieser Warnung gebe ich für den PO den Stereotyp ENTJ und für den SM den Stereotyp ISFP an. Hier kann man erkennen, dass der PO eher folgende Präferenzen haben sollte: Extroversion, Intuition, Thinking und Judging. Der SM sollte eher folgende Persönlichkeitspräferenzen haben: Introversion, Sensing, Feeling und Perceiving. Also, die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten erfordern unterschiedliche Persönlichkeitspräferenzen. – Es gibt hiernach nicht das! ideale agile Persönlichkeitsprofil! – Team-Hochleistung entsteht durch ein Team mit diversen Persönlichkeitsprofilen. Im planbasierten Projektmanagement hat man hierauf keinen Wert gelegt. – Im Agilen Management und insbesondere im Management 4.0 ist das ein sehr wichtiges Thema!

Die Persönlichkeitspräferenz Perceiving der Persönlichkeitsdimension Perceiving-Judging bringt das adaptive Eingehen auf jeweils gerade wirkende Kontexte zum Ausdruck. Die Teammitglieder mit der Präferenz Perceiving helfen unterschiedliche Perspektiven auf Kontexte auszubilden. Dies ist gerade am Anfang eines innovativen Projektes von enormer Bedeutung, wenn es darum geht einen Möglichkeitsraum für Ideen explorativ abzusuchen. Mit dem Voranschreiten eines Projektes kann dies jedoch zum Hindernis werden, wenn immer wieder neue Ideen die Umsetzung einer ausgewählten Idee torpedieren. Deswegen haben wir schon vor mehr als zehn Jahren empfohlen, die Teamzusammensetzung eines innovativen Projektes dem Projektfortschritt anzupassen [6]: Am Anfang sind mehr P-Persönlichkeiten im Team, in der Mitte des Projektes und zum Ende mehr J-Persönlichkeiten. Eine kulturelle Entsprechung zur Persönlichkeitspräferenz Perceiving ist die Kultur-Ausprägung polychromes Zeitverständnis. Das polychrome Zeitverständnis kann aber auch sehr schnell zu einem polychronen Zeitverständnis werden. Der Scrum Master sollte die Fähigkeit besitzen, sich adaptiv auf gerade wirkende Kontexte einzustellen; falls er dies jedoch unkontrolliert tut, also ohne Selbstreflexion kreiert sie oder er mit einem polychronen Zeitverständnis im Team Chaos! – Meine Erfahrung hat gezeigt, dass ein Team mit überwiegend P-Präferenzen genauso wenig Hochleistung erbringt wie ein Team mit überwiegend J-Präferenzen. – Die Diversität ist auch hier der Schlüssel für Hochleistung! Nach meiner Erfahrung ist planbasiertes Projekt Management sehr stark Judging orientiert, deshalb ist es sehr verständlich, dass Agiles Management mit der Präferenz Perceiving von den Studienteilnehmern als Gegenentwurf empfunden wird.   

Kommen wir zu der Aussage „Die Landes-Kultur ist deutlich einflussreicher als die Persönlichkeit für das Anwenden agiler Methoden.“

Dies kann ich aufgrund meiner Erfahrung nicht bestätigen. Meine Erfahrung hierzu lässt sich in folgenden Aussagen zusammenfassen:

Es spielen folgende Faktoren eine Rolle: Landes-Kultur, Organisations-Kultur und Persönlichkeit. – Diese Faktoren wechselwirken miteinander und bringen komplexe Muster hervor. In [2] haben wir dies an Beispielen illustriert und modelliert. Der jeweilige räumliche und zeitliche Kontext ist entscheidend, wann welcher dieser Faktoren welche Bedeutung hat.

In einem Unternehmen spielt die Organisations-Kultur oft die entscheidende Rolle. – Hierbei ist zu beachten, dass es in einem Unternehmen von Abteilung zu Abteilung unterschiedliche Kulturausprägungen geben kann. Dies kann in Teams deren Teammitglieder aus unterschiedlichen Abteilungen stammen zu erheblichen Problemen führen. Die Persönlichkeit spielt insoweit auch eine Rolle als der- oder diejenige, deren Persönlichkeit nicht zur Kultur „passt“ je nach Passung einen mehr oder weniger hohen Energieaufwand leisten muss: Da dieses Mitglied nicht „passt“ bleibt es unter seinen Möglichkeiten, empfindet Stress und im schlimmsten Fall Burn Out.

Die Landes-Kultur des Herkunft-Landes eines Teammitgliedes kann eine große Rolle spielen, wenn das Teammitglied im Herkunfts-Land verbleibt. Dies spielt bei virtuellen Teams eine größere Rolle als bei Präsenz-Teams. Der Einfluss der Landes-Kultur geht nach einiger Zeit (Wochen, Monate) jedoch deutlich zurück, wenn der Kontext durch eine andere Landes-Kultur, Organisations-Kultur und Team-Kultur überlagert wird. Zum Beispiel: Ein chinesisches Teammitglied, das in Deutschland lebt und arbeitet, und dessen Team eine persönlichkeitsorientierte resonante Kommunikation pflegt, wird nach einigen Wochen kaum noch im Verhalten durch die Landes-Kultur seines Herkunfts-Landes im Team geprägt werden. – Diese Aussage gilt im Normalfall nur für die Zeit, in der das Teammitglied in diesem Teamkontext verbleibt.

Die obigen Ausführungen sind Bestandteile unserer Trainings und wurden im Laufe von vielen Jahren immer wieder überprüft, konkretisiert und angepasst. Wichtig ist, dass alle Aussagen auf Theorien beruhen, die empirisch wissenschaftlich überprüft wurden. Die spezifische Anwendung auf agile Teams oder Organisationen erfolgte im Rahmen der Management 4.0 Entwicklung.

Die Arbeit von Schoper, Gertler und Fox stellt einen sehr wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar. Vielleicht können meine obigen Ausführungen dazu beitragen, weitere wichtige Schritte folgen zu lassen.

 

[1] Schoper Y, Gertler E, Fox K (2021) Der Einfluss von Kultur und Persönlichkeit auf agile Projektmanagementtechniken, PROJEKTMANAGEMENTaktuell, Ausgabe 2/2021

[2] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos. 2. Auflage, Springer, Heidelberg

[3] Oswald A, Müller A (2018) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices. BoD, Norderstedt, Release 3

[4] Wikipedia (2021) Kollektive Intelligenz, https://de.wikipedia.org/wiki/Kollektive_Intelligenz, abgerufen am 18.05.2021

[5] Wikipedia (2021) Polychronismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Polychronismus, abgerufen am 18.05.2021

[6] Köhler J, Oswald A (2009) Collective Mind Methode. Springer, Heidelberg

Von der Diktatur der Praxis oder der banalen Selbstorganisation

Den ersten Teil des Blog Titels habe ich in Anlehnung an einen Spiegel-Artikel zum Thema „Uhren-Diktatur“ [1] formuliert, der zweite Teil „banale Selbstorganisation“ nimmt Bezug auf meinen März Blog-Beitrag.

Peter Maxwill spricht in [1] mit dem Zeitforscher Karlheinz Geißler, der mit Harald Lesch ein Buch zum Thema „Alles eine Frage der Zeit“ [2] verfasst hat. Etwa zur gleichen Zeit hat Geißler in [3] einen Artikel mit dem Titel „Das Ende der Uhrzeit“ verfasst. 

Während in [3] vom Ende der Uhr und gar vom Ende der Uhrzeit, also dem erwünschten Ende des Diktats der Uhr, gesprochen wird, ist diese Diktatur in [1] noch allgegenwärtig.

Dieser Kampf gegen das Diktat der Uhr ist eine der zentralen Wurzeln aus denen sich das Aufkommen des Agilen Managements oder des agilen Arbeitens vor 25 Jahren! gespeist hat. – Und nach wie vor ist dieser Kampf noch nicht erfolgreich beendet. Die bewusste Gestaltung der Zeit ist eine Kernkompetenz Agilen Arbeitens oder Arbeiten 4.0:  Time Boxing dient u.a. der mentalen Fokussierung und damit der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse und ist eine Grundvoraussetzung für die Erreichung des kollektiven Flow Zustandes Collective Mind; Iterationen, eine spezielle Form von Time Boxing, dienen der empirischen Überprüfung von theoretischen Annahmen in der Praxis und sind eine der Basismittel für den kompetenten Umgang mit Komplexität; die Limitierung des Work-in-Progress pro Person und Zeiteinheit ist ein prominenter Kontrollparameter der Selbstorganisation. Nicht wenige verstehen nach wie vor den Umgang mit Zeit u.a. mittels Time Boxing und Iterationen als „neue methodische Erfindungen“, um in erster Linie Umsatz und Gewinn weiter zu steigern. Der Forderung nach der Begrenzung des WIPs wird in der Praxis selten nachgekommen. Damit eng verbunden ist ein Führungsverständnis, das von „Wahrnehmungsverengung“ bestimmt wird und nicht erkennt, dass „vordergründig unproduktive (Führungs-) Zeit hilft institutionelle Blockaden aufzubrechen“ und damit transformationale Arbeit zu ermöglichen [4].

Denn die bisher geübte Praxis bleibt oft bestehen: Es sei nämlich geübte Praxis, dass man einen übervollen Terminkalender habe, den zwar keiner haben will, gegen den man sich aber auch nicht wehren kann; dass keine Zeit für Pausen gegeben sei, dass man in mehreren oder vielen Projekten aktiv sein müsse, da sonst die Auslastung nicht gegeben sei und das Unternehmen eventuell nicht genug Umsatz hat. – Dies alles sei geübte Praxis und gegen diese könne man sich ja wohl kaum stellen. – Außerdem müsse „man sich“, wenn überhaupt, mit Forderungen zur Abkehr von dieser geübten Praxis an die oberste Führungsebene wenden.

Praxis wird als die unumstößliche Richtschnur angesehen, an der sich Alles andere ausrichten muss, so heißt es! Praxis ist also zuerst einmal nicht eine Wirklichkeit an der sich mentale Modelle und Theorien messen lassen müssen, sondern ist eine Menge von Verhaltensweisen, Methoden, Prozessen und Strukturen, die nicht in Frage zu stellen sind. – Verschiedene Wertvorstellungen, viele Glaubenssätze und unbewusste nicht hinterfragte Grundannahmen stützen die gelebte Praxis. Zurzeit erleben wir im Corona Chaos die Konsequenzen dieses Grundmusters. Denn die in Deutschland in Jahrzehnten erworbene Praxis der Bürokratisierung, der politischen Entscheidungsprozesse und des damit verbundenen Demokratieverständnisse werden selten in Frage gestellt, es ist geübte Praxis, selbst dann, wenn diese Praxis nachweislich zu keinen akzeptablen Ergebnissen der Corona Bekämpfung führt.

Praxis ist also nicht das, an dem sich Theorien oder mentale Modelle messen lassen müssen. Sondern Praxis, das sind oft über Jahrzehnte erworbene Verhaltensweisen, Strukturen und Prozesse, die selten, wenn nicht sogar überhaupt nicht mehr, hinterfragt werden. Damit widersetzt sich die Praxis transformativen Veränderungen, sie ist nicht offen für Anderes und Neues, seien es Perspektiven, Modelle oder Theorien.

Systeme gleichgültig, ob wir selbst, Teams, Unternehmen oder Gesellschaften, sie organisieren sich immer selbst. – Es gibt sicherlich in vielen Fällen Protagonisten, die durch ihre Interventionen das System in eine von ihnen gewünschte Richtung bringen wollen. – Dies wird oft als Führung bezeichnet. Ab einer bestimmten Zeit und Größe übernimmt vielfach das System die Führung. Ist dies für soziale Systeme der Fall, dann spreche ich von banaler Selbstorganisation. Dies liegt vor, wenn das System ein derart großes Beharrungsvermögen zeigt, dass es nur noch bestehende Verhaltensmuster reproduziert und nicht mehr in der Lage ist, neue auszubilden. Dies führt auch dazu, dass die Mehrzahl der Individuen, die in diesen Systemen leben, die Verhaltensmuster des Systems annehmen und kaum noch eigene Verhaltensmuster zeigen. Das System hat unmerklich die System-Selbstorganisation in die Köpfe der beteiligten Individuen gepflanzt.    

Um Komplexität zu beschreiben, benutze ich u.a. den Satz „Die individuellen Elemente „verlieren an Identität“.“ Auf soziale Systeme bezogen kann man diesen Satz vielleicht durch den Satz „Das Ich ergibt sich im sozialen System.“ oder durch „Das Ich ergibt sich nur im Du.“  beschreiben. Während der erste Satz für viele unverständlich oder sogar falsch ist, ist der dritte Satz fast immer positiv belegt. Die Erkenntnis, dass es keine isolierten Objekte gibt und damit keine losgelöste Identität, erschließt sich hingegen kaum. – Es ist die Aussage, dass Kontext oder Kontextualität ein sehr bestimmendes Element unseres Seins ist.

Ich stelle fest, dass diejenigen, die die gelebte Unternehmenspraxis hochhalten und gleichzeitig ihr Gebunden-Sein an diese beklagen, wenig mit dem obigen Satz „Die individuellen Elemente „verlieren an Identität““ anfangen können. – Es fehlt die Metakompetenz aus dem System herauszutreten, und die banale Selbstorganisation abzulegen. – Wir können die Wechselwirkung mit der Welt nicht ablegen, jedoch hinterfragen sollten wir sie schon, um sie ggf. beeinflussen zu können und uns von der banalen Selbstorganisation zu befreien.

Durch das Arbeiten im Home-Office unter Lock-Down Bedingungen wechselwirken auf fatale Weise zwei Effekte, leider oft selbstverstärkend, mit den inzwischen immer öfter beschriebenen krankmachenden Begleiterscheinungen: Die Abgrenzung und die Nicht-Abgrenzung – eine Konsequenz der banalen Selbstorganisation. Das Arbeiten im Home-Office unter Lock-Down grenzt uns von sozialen Kontakten ab. Gleichzeitig gelingt es vielen Menschen nicht sich zumindest temporär von der Macht des Systems „Arbeit“ abzugrenzen. – Die Arbeit dringt in den privaten Bereich vor, und zwar im wesentlichen mit den gleichen Prozessen und Strukturen, die in der Arbeitswelt herrschen: Arbeiten ohne hinreichende Pausen, Work in Progress deutlich höher als 1, Arbeit ohne zeitliche und räumliche „Abgrenzung“. Gleichzeitig fehlt die Entlastung durch zwischenmenschliche Kontakte. Diese Kombination von Abgrenzung und Nicht-Abgrenzung ist toxisch [5, 6]! Die bisherige bestehende Praxis wurde nicht hinterfragt, die toxische Wirkung nicht erkannt und sie entfaltet in dem neuen Kontext Home-Office noch viel stärker ihre toxische Wirkung.- Um so unverständlicher ist für mich der Wunsch nach einem Zurück zu den Vor-Corona Zeiten. Es ist sicherlich der Wunsch, die soziale Abgrenzung einzureißen; in letzter Konsequenz ist es aber auch der Wunsch, die banale Selbstorganisation fortzuführen.

Der Umgang mit Komplexität und die daraus resultierende Unsicherheit lässt sich nicht mit Praxis meistern, deren Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen nicht hinterfragt werden. Die Fähigkeit zur Transformation beruht wesentlich darauf die Werte, Glaubenssätze und Grundannahmen einer gelebten Praxis zu erkennen und aktiv handelnd in Frage zu stellen, um der banalen Selbstorganisation zu entkommen. Der fortwährende Ruf nach der Praxis ist vielfach der unbewusste Ruf nach Bequemlichkeit im Denken, und selten die anstrengende Falsifikation (mentaler) Modelle und Theorien in der Praxis. – Denn Veränderung ist anstrengend!      

 

[1] Maxwill P (2021) Die Pandemie bietet die Chance, sich aus der Uhren-Diktatur zu befreien, https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-und-klimakrise-es-gibt-ein-zeitsystem-in-uns-das-nichts-mit-uhrzeiten-zu-tun-hat-a-7b396d01-1a56-4b89-8f01-359ad7b3874a, spiegel.de, zugegriffen am 26.04.2021

[2] Lesch H, Geißler K A, Geißler J (2021) Alles eine Frage der Zeit, oekom verlag

[3] Geißler Karlheinz (2021) Das Ende der Uhrzeit, in zfo Zeitschrift für Führung + Organisation, 2/2021

[4] Wüthrich H A (2021) Mutig >>unproduktiv<< sein, in zfo Zeitschrift für Führung + Organisation, 2/2021

[5] Endres H et al. (2021) Wie uns das Homeoffice kaputt macht, https://www.spiegel.de/karriere/wie-uns-das-homeoffice-kaputtmacht-burnout-erschoepfung-depressionen-a-c91f255c-0002-0001-0000-000176982995, spiegel.de, zugegriffen am 26.04.2021

[6] Larenz N (2021) Sind wir zu sozialen Zombies geworden, Herr Schulz von Thun? https://www.spiegel.de/psychologie/friedemann-schulz-von-thun-ueber-die-menschliche-kommunikation-waehrend-corona-a-14aa6c54-fefd-493c-b3bf-7e4984618eb4, zugegriffen am 04.05.2021

Von der kulturellen Aufrechterhaltung von Unwissen oder von der banalen* Selbstorganisation

Den Begriff Agnotology oder Agnotologie kannte ich bis vor kurzem nicht. Erst als ein Freund mich auf die sehr sehenswerte arte Dokumentation „Forschung, Fake und faule Tricks“ aufmerksam machte [1], wusste ich, dass ich dem damit verbundenen Inhalt schon oft und seit langem in den verschiedensten Facetten begegnet bin. Agnotologie ist nämlich eine „Wortschöpfung, die eine neue Forschungsrichtung bezeichnet, welche die kulturelle Erschaffung und Aufrechterhaltung von Unwissen untersucht“ [2].

Die arte Dokumentation zeigt auf, wie die Industrie, beginnend mit der Tabakindustrie in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, sich meistens über Jahrzehnte erfolgreich gegen neue Erkenntnisse gewehrt hat, um die eigene lukrative Marktposition zu erhalten. Die Idee hierzu ist einfach und gleichzeitig genial und zeugt leider von einer perfiden Metakompetenz: Es wurden mehr oder weniger „käufliche“ eigene oder fremde Wissenschaftler engagiert, die mit wissenschaftlichen Methoden Zweifel an den neuen Erkenntnissen zur Schädlichkeit des Rauchens säten. Es wurde also das zentrale Prinzip der Wissenschaft, die Skepsis bzw. der Zweifel, ganz gezielt eingesetzt, um Zweifel zu sähen und damit Entscheidungen zu blockieren. So konnten in vielen Industrien Entscheidungen teilweise über Jahrzehnte hinausgeschoben werden: z.B. das Verbot zur Zigaretten-Werbung, die Eindämmung der extensiven Nutzung von fossilen Brennstoffen für die Energiegewinnung, Verbote zu verschiedenen gefährlichen Stoffen in den verschiedensten Produkten, u.a. Kunststoffen, usw.. Der Dieselskandal führt diese Art der Denke „konsequent“ weiter [3]: Betrug ist erlaubt, solange das vermeintlich höhere Ziel der Markposition und des damit verbundenen Machtzuwachses unterstützt wird. Das Traditionsunternehmen Bosch spielt im genannten Beitrag bei der Aufarbeitung des Skandals eine besonders unrühmliche Rolle, obwohl das Unternehmen an anderer Stelle angibt, den agilen Geist zu praktizieren. – Es resultiert eine kulturelle Aufrechterhaltung von Banalität oder Dummheit, denn die Kultur wird dominiert von roten (Macht), blauen (Ordnung) und orangen (Erfolg) Memen. – Der langfristige Schaden, der für Mensch, Tier und Natur entsteht, existiert einfach nicht bzw. ist nicht relevant.

Letztendlich ist es dieselbe Denke, die der wilden Wegwerf-Mentalität von Abfall oder der extensiven Nutzung von Rohstoffen in Form von großen schweren PKWs zugrunde liegt.

Aber auch die Basis der Verschwörungsideologien ist hier zu suchen! Verschwörungsideologen erfahren (unbewussten) Stress, den sie versuchen abzubauen, in dem sie durchaus komplexe Ideologien ersinnen, die den internen Stress nach außen verlagern. – Der damit erzeugte mentale „Abfall“ ruft dann sogar auch bei anderen Stress hervor.

Es ist hier, wie da die wertvernichtende Form der banalen Selbstorganisation: Wenn die Tabakindustrie die Wissenschaften benutzt, um gezielt Zweifel zu säen und damit Entscheidungen über Jahrzehnte hinausschiebt, führt sie geschickt einen neuen Kontrollparameter in die Selbstorganisation des gesellschaftlichen Diskurses ein, der den eigenen Ordnungsparameter, nämlich Marktmacht, am Leben erhält.

Wertvernichtende Formen von banaler Selbstorganisation liegen sehr oft vor, wenn die systemische Einbettung nicht berücksichtigt wird: Abfall, den man wild entsorgen kann, macht keinen weiteren Stress. – Große schwere PKWs stärken das Selbstwertgefühl und entschädigen für den Stress, den man an anderer Stelle erfahren hat oder selbst erzeugt hat.

Es wird also die Komplexität (hier der Stress) durch „enggeistige“ Selbstorganisation reguliert, was dann an anderer Stelle wieder Stress, also wertvernichtende Komplexität, erzeugt: Der Abfall schädigt die Natur, im besten Fall wird er auf Kosten der Gesellschaft „verarbeitet“. Die großen schweren PKWs entziehen der Natur wertvolle Rohstoffe durch ihre Produktion und brauchen auch noch ständig in großem Maße fossile Rohstoffe, um benutzt zu werden; erzeugen in großem Maße Abgase, die den Klimawandel antreiben, der dann wiederum aufwendig zu korrigieren ist – wenn es denn noch möglich ist – und sind am Ende ihres Autolebens aufwendig zu entsorgen.

Man reguliert also die wertvernichtende Komplexität, den Stress, über (unbewusste) banale Selbstorganisation, entweder individuell (gutes Gefühl) oder kollektiv (Marktmacht), und erzeugt an anderer Stelle wieder wertvernichtende Komplexität (kulturelle Aufrechterhaltung von Unwissen, Schädigung von Natur und Mensch).

Die Form der individuellen banalen Selbstorganisation ist umso leichter praktikabel, desto näher die individuellen Werte den organisationalen oder gesellschaftlichen Werten kommen. – Denn es wird der geringste individuelle Stress erzeugt.

Ich sah vor kurzem den beeindruckenden Film über Hannah Arendt und ihren Bericht zum Prozess gegen den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann [4]. Ihr Bericht gipfelte in folgender Aussage: „Dass eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit in einem mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte. Aber es war eine Lektion und weder eine Erklärung des Phänomens noch eine Theorie darüber.“ [5].  – Die Nähe zu meinen hier gemachten Aussagen kam mir unmittelbar in den Sinn. – Das Nazi-System hat den Menschen geschickt, individuellen Stress abbauend, angeboten, ihre Selbstorganisation zu übernehmen; diese haben dumm angenommen und die individuelle Selbstorganisation wurde durch die banale System-Selbstorganisation des verbrecherischen Nazi-Regimes ersetzt.

Die banale Selbstorganisation hat meistens nicht solche Ausmaße des Schreckens und Verbrechens, jedoch, so glaube ich, sind die prinzipiellen Muster in verschiedenen Kontexten gleich.

Der Glaubenssatz, dem die Tabakindustrie, die Ölindustrie, die Pharmaindustrie, die Nahrungsmittelindustrie und die Autoindustrie (aktuell) unterliegen, das ist der Glaube, dass ihre Marktmacht, um jeden Preis zu erhalten ist, dass ihre Marktmacht Wachstum erzeugt und Wachstum erzeugt Wohlstand. – Dass diese Form des Wachstums als dumm angesehen wird, ist eher selten. – Parteien gründen darauf ihr Wahlprogramm, Unternehmensführer rechtfertigen damit ihr Handeln und sogar die Gewerkschaften fordern auf dieser Basis den Erhalt von Arbeitsplätzen in Industrien, deren Schädlichkeit längst bekannt ist.

Dem so verstanden Wachstum liegt sogar eines der wichtigsten physikalischen Prinzipien zugrunde, nämlich das der Entropie bzw. hier der negativen Entropie (Negentropie). Der Physiker Erwin Schrödinger hat erstmals Leben, als eine Form organisierter Komplexität fern vom sogenannten Gleichgewicht verstanden. Leben bildet organisierte Komplexität aus, indem es Entropie nach außen transferiert, also negative Entropie in sich erzeugt [6]. – In der ARD-Mediathek gibt es hierzu einen wunderschönen Erklär-Comic [7]!

Jegliche Form von Wachstum, also auch Leben, produziert Entropie, eine Form von „Abfall“, in Form von Materie oder Energie. Die Umgebung muss jedoch in der Lage sein, diesen „Abfall“ aufzunehmen und zu verarbeiten. – Die Natur macht genau dies Tag ein – Tag aus! – Die Natur gerät aber aus den Fugen, wenn durch Entzug von Materie oder Energie und anschließende Rückgabe von Abfall-Materie und -Energie, zu viel Stress im System Natur entsteht.

Wenn wir also organisierte Komplexität aufbauen, und damit eine Form von „Leben“, indem immer mehr Organisationen immer mehr Produkte erzeugen, konsumieren und „entsorgen“, erzeugen wir irgendwann nicht mehr bewältigbaren Stress im umgebenden System Natur.

Inzwischen wurde sogar ein sogenannter Economic Complexity Index (ECI) als relatives Maß für wirtschaftliche Potenz erfunden [8]. – Der ECI stellt eine beachtliche Modellierungsleistung dar [9] und ist inzwischen seit einigen Jahren auch als Atlas ECI mit beindruckenden graphischen Darstellungen und daraus abgeleiteten neuen ökonomischen Erkenntnissen verfügbar[10]. Jedoch…

…der ECI misst die relative ökonomische Komplexität der Produktlandschaft eines Landes und leitet daraus u.a. die Zukunftsfähigkeit eines Landes ab. Vereinfacht ausgedrückt, desto komplexer die Produktlandschaft ist, desto zukunftsfähiger ist das Land. Aussagen zur Kreislaufwirtschaft bzw. Nachhaltigkeit sind in diesem Index bisher nicht enthalten. Das hängt damit zusammen, dass der ECI pro Land nur die wirtschaftlich relevante Produktkomplexität misst. Deutschland hat u.a. seinen ECI im Laufe der letzten Jahrzehnte gesteigert, unsere Produktlandschaft wurde immer vernetzter und vielfältiger, also komplexer. Der CO2-Ausstoß wurde gleichzeitig reduziert. Wer noch in den 70er/80er Jahren durch das südliche Saarland/Lothringen gefahren ist, konnte hautnah erfahren welchen Schmutz die dortige Duo-Produktlandschaft Kohle und Stahl erzeugte. Die Produktkomplexität hat sich inzwischen deutlich verbessert, auch die Luftverhältnisse. – Leider kann man daraus nicht schließen, dass hohe Produktkomplexität zu besserer Luft führt. – Also diese Form von Wachstum gut ist.

Es ist zu bedenken, dass wir von einem sehr hohen Niveau der Luftverschmutzung langsam auf ein erträgliches Maß kommen und was meines Erachtens noch bedeutender ist, dass wir über die letzten 30-50 Jahre massiv Entropieproduktion verlagert haben, in dem wir konsumorientiert die „unsauberen“ Industrien exportierten. – China gehört heute zu den Ländern, die mit Abstand das meiste CO2 ausstoßen. China durchlebt gerade an vielen Orten unsere Industrialisierung vor 50-70 Jahren. – Also auch hier finden wir wieder die kulturelle Aufrechterhaltung des Unwissens, da wir nicht den Zusammenhang unseres reduzierten CO2 Ausstoßes mit dem „Abfall“ außerhalb unserer nationalen Wirtschaft sehen.

Den Autoren des ECI kann man wohl nicht unterstellen, dass sie bewusst Unwissen aufrechterhalten wollen. – Sie stützen jedoch durch „Weglassen“ wichtiger Aspekte einen ganzheitlichen Zugang zum Wissen. – Letztendlich unterstützen sie damit die Aussage „Ökonomisches Wachstum mit mehr Produktkomplexität ist (immer) gut“. Ökonomisches Wachstum wird als bedingungsloser Kontrollparameter verstanden, der den Ordnungsparameter Wohlstand stützt.- Und das ist systemisch betrachtet schlicht falsch!

Ich habe in diesem Blog – zugegeben – einen weiten Bogen gespannt, von den Verbrechen der Tabakindustrie, über das schon fast „übliche“ Verhalten des sogenannten Normalbürgers in seinen verschiedenen Facetten zu den unvorstellbaren Schrecken und Verbrechen des Nazi-Regimes. Und auch die Wissenschaft ist nicht frei von der geschilderten Art der Komplexitätsregulation oder Stressbewältigung. Überall begegnet uns die Gedankenlosigkeit des Menschen, indem der Mensch die Selbstorganisation seines Denkens einem (mentalen) System oder einer Organisation übergibt und sich dort „einordnet“. – Diese banale Selbstorganisation ist für die kulturelle Aufrechterhaltung von Unwissen verantwortlich und diese birgt das Unheil in sich!

Leben basiert auf Entropie Abgabe, jedoch darf dies nie auf Kosten anderen Lebens geschehen, selbst wenn dieses Leben noch in der Zukunft liegt!

 

Ich verwende den Begriff „banal“ in Anlehnung an Hannah Arendt’s Wortwahl anlässlich der Berichterstattung zum Prozess des Nazi-Verbrechers Adolf Eichmann    

 

[1] arte (2021) Forschung, Fake und faule Tricks, https://www.arte.tv/de/videos/091148-000-A/forschung-fake-und-faule-tricks/, zugegriffen am 02.03.2021

[2] Wikipedia (2021) Agnotologie, https://de.wikipedia.org/wiki/Agnotology, zugegriffen am 02.03.2021

[3] ARD/WDR (2021) #DIESELGATE – Die Machenschaften der deutschen Autoindustrie, https://www.ardmediathek.de/ard/video/wdr-dok/dieselgate-oder-doku/wdr-fernsehen/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTc5ZGFlMTI2LTM1ZDMtNDg1Yi05MTJiLWY4YTdhZDc5MDZjNA/, zugegriffen am 02.03.2021

[4] MDR (2021) Hannah Arendt, https://www.ardmediathek.de/ard/video/filme/hannah-arendt-oder-drama/mdr-fernsehen/Y3JpZDovL21kci5kZS9iZWl0cmFnL2Ntcy85ZGM4NjViNy02ODgwLTQ0MWYtYWNiYy02MWMxNzI4NThkOGE/, zugegriffen am 02.03.2021

[5] Wikipedia (2021) Hannah Arendt, https://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt

[6] Wikipedia (2021) Erwin Schrödinger, https://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Schr%C3%B6dinger, zugegriffen am 02.03.2021

[7] ARD (2021) Warum lebst du? – Energie & Entropie, https://www.ardmediathek.de/ard/video/kurzgesagt/warum-lebst-du-energie-und-entropie/funk/Y3JpZDovL2Z1bmsubmV0LzExMDkwL3ZpZGVvLzE3MzI0MjM/, zugegriffen am 02.03.2021

[8] Wikipedia (2021) Economic Complexity Index,  https://de.wikipedia.org/wiki/Economic_Complexity_Index, zugegriffen am 02.03.2021

[9] Hidalgo C A (2021) Economic complexity theory and applications, Nature Reviews | Physics

[10] Atlas ECI (2021) https://atlas.cid.harvard.edu/, zugegriffen am 02.03.2021

Vom Projekt Corona oder von der Governance-freien Politik

Ich trage mich schon seit einigen Monaten mit dem Gedanken, diesen Blog zu schreiben. – Auslöser, es jetzt zu tun, ist die Erfahrung, die ich in den letzten Monaten und Wochen mit der Betreuung meiner 89-jährigen Mutter in einem Seniorenheim gemacht habe: Es vergehen Wochen und Monate in denen wir einen nur sehr eingeschränkten Zugang zu ihr bekommen. Zwischendurch haben sich recht viele Krankenhausaufenthalte ereignet, manche auch wochenlang in denen kein persönlicher Kontakt bestand. – Hinzu kam, dass meine Mutter sich, mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, das COVID-19 Virus im Krankenhaus eingefangen hat und daraufhin auch noch mehrere Wochen in Quarantäne musste. Ich habe mir die Frage gestellt, ob dies alles wirklich notwendig ist, oder eher vermeidbar wäre, denn menschenwürdig ist es auf keinen Fall. – Aus meiner Sicht geschehen zu viele Fehler bei der COVID-19 Bekämpfung. – Die Sinnhaftigkeit verschiedener Bekämpfungs-Maßnahmen will sich mir nicht erschließen, weil ich diese mit jenen Fehlern verbinde.

Die letzten Monate habe ich mir vermehrt die Frage gestellt habe, ob ein Unternehmensprojekt, all die unglaublichen Fehler der letzten Monate verkraften würde?

Aus diesem Grunde tue ich jetzt einmal so, als ob die COVID-19 Bekämpfung ein Projekt, mit dem Namen Corona, wäre.

Bei der Anwendung des (Projekt-) Namens „Corona“ wurde schon der erste große Fehler begangen: Aus dem (Projekt) Management, dem Coaching und der Psychotherapie wissen wir, dass Menschen ganz schlecht mit negativen Aussagen umgehen können. Negative Aussagen bewirken keine Veränderung, sie verhindern diese sogar. Als die Entdecker von COVID-19 dem Virus auch den Namen Corona gegeben haben, hatten sie sicherlich keine wirklich negative Assoziation im Sinn. Man muss heute schon sehr lange bei google scrollen, um auf den Wikipedia Eintrag zu Corona (Antike) als Ehren- und Siegeskranz zu stoßen [1]. Heute wird Corona sicherlich nicht mit etwas Positivem, nämlich Ehre und Sieg, verbunden, sondern mit Einschränkungen, Unsicherheit, Angst und Freiheitsentzug.
Ein gutes Projektteam nimmt zu Projektbeginn eine Einschätzung mittels des Stacey-Darstellung und/oder dem Diamantmodell vor, um im Projektteam eine gemeinsame Sicht auf das Projekt zu erhalten [2]. Im Fall des Projektes Corona käme man wahrscheinlich sehr schnell zur Einschätzung, dass es sich um ein Projekt mit sehr hohem Innovationsgrad und sehr hohem Missionsgrad handelt. Es handelt sich also um ein Transformationsprojekt, das sich auch technologisch auf völligem Neuland bewegt. Nimmt man das Diamantmodell als Erweiterung hinzu, so würde man das Projekt als Krisenprojekt einstufen, das zudem auch noch alle Subsysteme des Systems BRD erfasst. Man spricht in diesem Fall von chaotischen Projekten, Projekten also, die immer die Gefahr in sich bergen, aus dem Ruder zu laufen und dieses „aus dem Ruder laufen“, wenn es denn einmal passiert ist, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Diese Erkenntnis ist jetzt sicherlich nicht überraschend, aber ein gutes Projektteam wüsste, dass damit der Einstieg in eine systematische Analyse dieser Projektdimensionen vorzunehmen ist, dass die Einschätzungsskalen kontinuierlich anzupassen sind und, dass nur „auf Sicht gefahren“ werden kann. Das Projektteam wüsste aber auch, dass der Projektname positiv aufgeladen werden muss! – Ein Projektname mit negativer Aufladung erzeugt bei jedem Stakeholder (Interessensvertreter) nur Aversionen. Jetzt wird der ein oder andere sagen, wie sollte man so ein Projekt positiv aufladen? Nämlich damit, dass man nicht das Virus mit Corona assoziiert, sondern stattdessen „Ehre und Sieg“ und damit all die Chancen, die sich daraus ergeben: Erweiterung des Schul- und Universitätssystems um Online-Angebote, weitere Verbesserung der Digitalisierung der Verwaltung (u.a. wäre das RKI nicht mehr via FAX an die lokalen Gesundheitsämter angebunden), Stärkung lokaler wirtschaftlicher Angebote, Homeoffice, deutliche Verbesserung der Nachhaltigkeit, Erweiterung und Verbesserung demokratischer Mechanismen, Verbesserung des Gesundheitssystems…usw. also alles Themen, die aktuell über uns hereingebrochen sind, jedoch eben nicht bewusst gestaltet wurden. Und damit hat die Politik einen wichtigen mentalen Anker für die Transformationsarbeit, nämlichen die positive Assoziation, die mit dem Projektnamen verbunden werden könnte, verspielt!  – Dies ist ein „universelles“ negatives Muster in Projekten.

Der Weg zurück in den Vor-Corona-Zustand macht keinen Sinn. Wie die Bertelsmann Stiftung in einer ihrer letzten Studien darlegt, sind „Viele Staaten schlecht auf Zukunft vorbereitet“ [3]. – Es macht also keinen Sinn, dem Vergangenen nach zu weinen. – Es macht Sinn, die Zukunft mit Corona zu gestalten!

Ein weiteres wichtiges Kennzeichen erfolgreicher Projekte ist die Kompetenz der Projektteammitglieder. – Schauen wir uns die Krisen der letzten Jahre an: Flüchtlingskrise, Finanzkrise aber auch der Umgang mit der Griechenlandkrise oder der Umgang mit BER oder Elbphilharmonie.- Immer wieder lässt sich ein Muster erkennen: Die Politiker halten sich für sehr kompetent, teilweise von Hybris gesteuert. – Man stelle sich nur vor, der amerikanische Präsident hätte sich angemaßt, die Bewältigung des Ölkatastrophe der Deepwater Horizon selbst zu leiten [4]. – Auch dann, wenn eine Krise im politischen Raum stattfindet, sollte nicht geschlussfolgert werden, dass deren Bewältigung (allein) in die Hände von Politikern und Verwaltungsexperten gelegt wird, da ja für die Bewältigung angeblich keine spezielle Kompetenz (oder allenfalls politische) notwendig sei: Der Transport des COVID-19 Impfstoffes in „Campingboxen“ wirft ein Schlaglicht auf das Thema Kompetenz [5]. Es gibt derzeit kein Indiz dafür, dass dies nur ein Einzelfall ist und nicht etwa die Spitze vom Eisberg. Die Beschaffung von Schutzkleidung und Masken, den Schnelltests oder die Beschaffung der Impfstoffe geht in dieselbe Richtung. Es ist der Politik dringend anzuraten, sich multifunktional beraten zu lassen und die Beratung nicht auf dem Scheiterhaufen von persönlichen und parteipolitischen Eitelkeiten oder Machtinteressen zu opfern: Im Falle des Projektes Corona gehören zumindest Virologen, Epidemiologen, Projektmanager, Logistiker, Sozialwissenschaftler, Psychologen und Aritificial Intelligence/Data Science Spezialisten mit ins erweiterte Team. Es ist eine völlig irrige Annahme, die wir gerade in Unternehmensprojekten beginnen zu überwinden, dass Spezialisten nur in die operativen Einheiten gehören. Entscheidungen von großer Tragweite sind immer auch an das Spezialwissen der Experten gebunden. Im Agile Management weiss man, dass das „große Bild“ und die Details wirklich gut verbunden werden müssen. – Ja, dass die Details das „Große Bild“ oft massiv verändern und vice versa. Falls die Hybris „großer Bild“-Träger dies nicht zulässt, ist in chaotischen Projekten das selbstgemachte Chaos nicht weit. – Unlängst konnte ich im Spiegel lesen, dass die verschiedenen Chefs der Staatskanzleien „rund um die Uhr“ arbeiten [6]. – Jeder Projektmanager kennt dieses Muster, es kommt für kurze Zeit in jedem komplexen oder chaotischen Projekt vor; dauert es jedoch an, so ist dies kein Zeichen für Engagement mehr oder Projektnotwendigkeit, sondern für eine Reihe angehäufter Fehlentscheidungen, die eine immer größer werdende Lawine an ad hoc Aktivitäten notwendig machen: Wurden zum Beispiel Fehlentscheidungen bei der vertraglichen Reservierung von Impfstoffen getroffen, so erfordert dies ein Nachsteuern mit enormen Aufwand und zusätzlich sind diverse Stakeholder durch ein Meeting nach dem anderen zu beruhigen. Da das Nachsteuern wahrscheinlich nicht so funktioniert wie nachträglich gedacht, ergeben sich weitere Meetings mit noch mehr Aufwand usw.– Auch dies ist ein „universelles“ negatives Muster in Projekten. 

Kommen wir zur Projektorganisation: Für mich ist nicht erkennbar, dass es einen Projektleiter oder eine Projektleiterin (z.B. die Bundeskanzlerin, die durch einen Projektmanager unterstützt wird) gibt. Falls man die Länderchefs als Teilprojektleiter ansehen würde, so hätte man so etwas wie eine Projektorganisation. Aus dem Unternehmenskontext weiß man aber auch, dass Chefs, die gewohnt sind, die Linie zu führen, sehr selten auch gute Projektleiter oder Teilprojektleiter sind. Der Wert Macht und das Ego spielen meistens eine zu große Rolle. Hinzukommt, dass Teilprojektleiter mit zu großem Ego und Machtanspruch, gemeinsame Entscheidungen torpedieren und gemeinsam getroffene Entscheidungen untergraben. – Genau das passiert ja aktuell immer wieder im Projekt Corona. Dies ist pures Gift für die Krisenbewältigung. Denn diese nicht problembezogenen Strukturen und Persönlichkeiten binden viel Energie, die der eigentlichen Aufgabenstellung entzogen wird und es kommt noch ein zusätzlicher Aspekt hinzu: Die nicht problembezogenen Strukturen und Persönlichkeiten bringen zusätzliche Risiken und Unsicherheiten in das Projekt. Zum Beispiel führen die unterschiedlichen Aussagen und Maßnahmen zu einer Verwirrung unter den Stakeholdern, also den Bürgern der BRD. Jeder Projektleiter, der schon einmal ein Projekt mit hohem Transformationsanteil geleitet hat, weiß, dass viele unterschiedliche Meinungen und Maßnahmen, die sich teilweise sogar widersprechen, zuerst Verwirrung auslösen. Dauert dies an, so führt dies zu Unsicherheit und schließlich zu Angst. Angst verhindert jegliche Transformation. Meine These ist, dass die Politiker und diejenigen die sich im öffentlichen Raum immer wieder berufen fühlen, ihre Meinung kundzutun, über diesen Mechanismus unbewusst ganz erheblich zur Verbreitung der Verschwörungsideologien beitragen. Verschwörungsideologien sind bei Menschen, die Sicherheit und Struktur brauchen und sich durch einschränkende Maßnahmen in ihrer Freiheit bedroht fühlen, das Ventil, um diese Angst abzuleiten.
Falls in den Teilprojekten, also hier in den Ländern, unterschiedliche Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus durchgeführt werden, so erzeugt dies nicht nur diese mentale Verwirrung und schließlich Angst, sondern es ist fast unausweichlich, dass mit der unterschiedlichen Behandlung innerhalb der Teil-Systemgrenzen (also innerhalb der Länder) ein Schnittstellenmanagement notwendig wird. – Eine Notwendigkeit, die nichts mit dem Problem „Virus“ zu tun hat, sondern durch die vorhandenen Strukturen hervorgerufen wird. – Auch dies sind „universelle“ negative Muster in Projekten. 

Ein komplexes bzw. chaotisches Projekt zeichnet sich weiterhin dadurch aus, dass dessen Start fuzzy ist, der Weg zum Ziel fuzzy ist und das Ziel auch sehr lange fuzzy bleibt.  Jeder gute Projektleiter, jedes gute Projektteam, weiß dies und geht sehr sorgsam mit Prognosen um, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass morgen die Prognose schon veraltet ist. Um so schlimmer sind Prognosen mit konkreten, aber nicht validierten Aussagen bzw. Zahlen: Z.B. Morgen oder in 3 Monaten haben wir das Virus besiegt (oder nicht besiegt) oder bis Ende 2021 werden 100.000 Menschen gestorben sein oder wir brauchen nicht mehr als 10 Mio. Impfdosen usw.. Wir lieben einerseits die Genauigkeit und verbinde sie mit Professionalität, andererseits hassen wir sie, wenn die Aussagen nicht eintreffen. Denn dies führt zu einer weiteren Verunsicherung, Unsicherheit und Angst und damit in den Teufelskreis der mentalen Ausweglosigkeit. Es ist eine Metakompetenz der Projektführungskräfte, genau diese Zusammenhänge zu erkennen und ggf. das eigene Ego mal nicht zur Schau zu stellen. Oder vielleicht die eigene Angst nicht dadurch in den Griff bekommen zu wollen, dass Horrorszenarien geschürt werden, um eine Veränderung zu erzwingen, die wieder Ordnung und Kontrolle garantiert. Horrorszenarien führen vielleicht am Anfang zu Verhaltensänderungen, aber auf keinen Fall zu langfristigen Veränderungen und schon gar nicht, wenn sie quasi im Sekundentack von allen möglichen Experten in unterschiedlichsten Formen geäußert werden.  – Auch dies ist ein „universelles“ negatives Muster in Projekten.

Am Anfang des Blogs, in Zusammenhang mit dem Projektnamen, habe ich kurz erwähnt, dass Projekte Sinn brauchen: Dies gilt insbesondere für komplexe (Innovations- und Transformations-) Projekte mit vielen betroffenen Stakeholdern. Aus diesem Grund spielt die sogenannte Ziel-Hierarchie eine so enorme Rolle in solchen Projekten. – Im Idealfall konkretisiert die Ziel-Hierarchie vom „Big Picture“ zum Detail die emotionale Ladung, die dem Projektnamen (schon hoffentlich) anhaftet und dient auch als agiler „Plan“ für die Umsetzung. – OKR’s, Story Maps oder Collective Mind Ziel-Hierarchie sind Beispiele dafür. An dieser Ziel-Hierarchie richtet sich das Projektteam aus. Es sorgt u.a. auch dafür, dass Projektleiter, Teilprojektleiter und die anderen Stakeholder gemeinsam! einen kollektiven Sinn entwickeln und nicht mit unterschiedlichen Meinungen in ihre Teilprojekte gehen, um dort unterschiedliche Maßnahmen umzusetzen und diese unterschiedlichen Maßnahmen ohne Bezug zum übergeordneten kollektiven Sinn den Stakeholdern zu kommunizieren. Im (Projekt-) Management herrschte viele Jahrzehnte die Meinung, dass Ziele SMART (Spezifisch, Messbar, Akzeptiert, Realistisch und Testbar) sein sollten. Diese Aussage gilt nach wie vor, jedoch nicht auf oberster Ziel-Ebene, sondern auf der Ebene der detaillierten Ziele. Damit verbunden ist der Glaube, Projekte werden in erster Linie über Zahlen geführt. Zahlen dienen lediglich als sogenannte Kontrollparameter. Die bekannten Corona Kennzahlen sind also Kontrollparameter aber keine Ordnungsparameter, die Sinn vermitteln. Die Politik führt über diese Kennzahlen, und verwechselt die Steuerung über Kennzahlen mit der Führung über Sinn. – Auch dies ist ein „universelles“ negatives Muster in Projekten.     

Es gibt auch Kontrollparameter, die unmittelbar sehr viel mit dem Thema Metakompetenz zu tun haben. Als unlängst unser Außenminister Maas meinte, Geimpfte sollten andere Rechte (Lockerungen) bekommen, als Nicht-Geimpfte, hat er meines Erachtens die für einen Politiker diesen Rangs notwendige Metakompetenz deutlich vermissen lassen. Man siehe hierzu u.a. auch die Kommentare auf meta.tagesschau.de [7]. – Es ist erfreulich zu sehen, dass der Begriff „meta“ in den üblichen Sprachgebrauch überzugehen scheint. Man stelle sich einen Moment Mitarbeiter in einem Unternehmen vor: Die einen bekommen (nicht nachvollziehbar, eher willkürlich oder zufällig) einen besonderen Bleistift zugeteilt, andere erhalten diesen Bleistift nicht. Diejenigen, die den Wunderbleistift erhalten haben, dürfen jeden Tag eine Stunde früher Schluss machen. Das Ergebnisse wäre ein sozialer Riss, der durch die Belegschaft ginge.- Die soziale Kohäsion wäre damit vorbei. Und genau diesen Vorschlag hat unser Außenminister gemacht. Es stellt sich wirklich die Frage, wie groß muss die Ego-Not sein, damit man solche unverzeihlichen Führungsfehler macht.

Der zweite Teil des Blogtitels „von der Governance-freien Politik“ bringt zum Ausdruck, dass der Politik, die man oft unmittelbar mit dem Begriff „Governance“ verbindet, eine Governance für das Projekt Corona fehlt. Als schwerwiegende Indizien dienen die obigen „universellen“ negativen Muster.  Politik braucht Goverance, erst recht wenn es um ein Krisenprojekt (in der Krise) geht!      

Während ich diesen Blog-Beitrag schreibe (Do. 28.01.2021, 08:00-12.00 Uhr) kommt eine Hiobsbotschaft nach der anderen zum Projekt Corona rein.

 

[1] Wikipedia (2021) Corona (Antike), https://de.wikipedia.org/wiki/Corona_(Antike), zugegriffen am 28.01.2021

[2] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer, Heidelberg

[3] Schiller C, Hellmann T (2021) Corona deckt auf: Viele Staaten sind schlecht für die Zukunft vorbereitet, https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2021/januar/corona-deckt-auf-viele-staaten-sind-schlecht-fuer-die-zukunft-vorbereitet, Bertelsmann Stiftung, zugegriffen am 28.01.2021

[4] Wikipedia (2021) Deepwater Horizon, https://de.wikipedia.org/wiki/Deepwater_Horizon, zugegriffen am 28.01.2021

[5] Amtmann K (2021) Corona-Impfstoff in Bayern fahrlässig zerstört? Ministerium äußert sich zu scharfen Vorwürfen, https://www.merkur.de/bayern/impfstoff-corona-bayern-soeder-biontech-huml-campingboxen-panne-news-zr-90160295.html, Merkur 

[6] Gathmann F, Hagen K, Teevs C (2021) Die Entscheider im Hintergrund https://www.spiegel.de/politik/deutschland/staatskanzleichefs-in-der-corona-krise-die-entscheider-im-hintergrund-a-822feb44-569b-425c-b418-093ff6899d63, Spiegel, zugegriffen am 28.01.2021

[7] ARD (2021) https://meta.tagesschau.de/id/148079/corona-pandemie-maas-will-lockerungen-fuer-geimpfte, zugegriffen am 28.01.2021

„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ oder „Viel Lärm um nichts“

Anfang Dezember 2020 wurde ich von youtube im Kanal „Sternstunde der Philosophie – SRF Kultur“ auf das Gespräch von Wolfram Eilenberger mit dem Philosophen Markus Gabriel aufmerksam gemacht [1]. Der reißerische Titel «Falsch: Alle Philosophien der letzten 2500 Jahre!» sprach mich direkt an, zumal ich ein paar Jahre vorher ein Buch von Gabriel auch mit einem reißerischen Titel „Warum Es Die Welt Nicht Gibt“ gelesen hatte und ich hierzu keine Erinnerung mehr abrufen konnte [2]. – Während des SRF Beitrages erfährt man, dass der offizielle Titel des Beitrages „Für einen neuen Existenzialismus“ lautet. – Ein Grund mehr mir den Beitrag anzusehen, da die intensive Beschäftigung mit dem Existenzialismus Camus’ und Sartres’ mich vor vielen Jahren sehr beeindruckt und auch wahrscheinlich geprägt hat [3].

Ich gehe in diesem Beitrag auf Aussagen aus dem Interview und dem Buch ein: Wie zu erwarten, betrachte ich beide mit meiner Brille zu den Themen Komplexität und Selbstorganisation. – Wir werden sehen, dass es einige Überschneidungen gibt, aber auch deutliche Unterschiede.

Der Titel dieses Blog-Beitrag besteht aus zwei Teilen:

„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“, dies ist der Anker-Satz aus dem 100 Jahre alten genialen Werk „Tractatus logico-philosophicus“ von Ludwig Wittgenstein, auf den Gabriel sehr zentral referenziert [4]. – Man siehe auch die Anmerkung [0]

„Viel Lärm um nichts“ ist einerseits ein umgangssprachliches Bonmot und andererseits der deutsche Titel eines der Shakespeare Werke [5]. In diesem Werk Shakespeare‘s erzeugen Irrtümer viel Lärm, und der Lärm verschwindet, sobald diese sich aufgelöst haben. 

Das SRF-Gespräch dreht sich um drei, von Gabriel identifizierte Irrtümer: Diese Irrtümer sind nach Gabriels Meinung die größten globalen und seit langer Zeit in unterschiedlichen Ausprägungen vorkommenden Irrtümer bzw. Irrtumsfelder der Menschheit. Die bisherige 2500-jährige Philosophie habe erheblich zu diesen Irrtümern beigetragen. Der Anspruch von Gabriel ist, dass er diese Irrtümer nicht nur als solche erkannt hat, sondern auch eine neue Philosophie zur Verfügung stellt, um die Auswirkungen dieser Irrtümer jetzt zu heilen.

Diese Irrtümer sind gemäß [1]:

  1. Die gesamte Wirklichkeit ist physikalisch erfassbar und messbar. Es gibt nichts, was nicht physikalisch messbar ist. (Physikalismus)
  2. Unsere Gedanken, unser Geist sind emergente Phänomene unseres Gehirns. (Neurozentrismus, ergibt sich aus dem Materialismus)
  3. Es gibt keine objektiv feststehenden Wertmaßstäbe. (moralischer Nihilismus)

In seinem Buch [2] tauchen mindestens noch folgende Irrtümer auf:

  1. Alles Existierende ist materiell (Materialismus). Vereinfacht ausgedrückt: es gibt die Welt, und sie ist nur materiell. Damit direkt verbunden ist der Irrtum: das Universum ist das Ganze.
  2. „Die populäre Behauptung, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien löse möglicherweise einen Tornado in Texas aus, ist schlicht falsch. – Vieles hängt mit vielem zusammen, aber es ist falsch (genau genommen sogar unmöglich!) dass alles mit allem zusammenhängt.“
  3. „Der Konstruktivismus basiert auf der Annahme, dass es überhaupt keine Fakten, keine Tatsachen an sich gibt, dass wir vielmehr alle Tatsachen nur durch unsere vielfältigen Diskurse und wissenschaftlichen Methoden konstruieren.“ Vereinfacht ausgedrückt: es gibt die Welt (vielleicht), aber wir können sie nicht erkennen und jeder konstruiert sich seine Welt.

Dem setzt Gabriel folgende Konzepte als Lösungen entgegen:

  1. Neuer Realismus: „Der Neue Realismus geht vielmehr davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie an sich ist.“ „Der Neue Realismus nimmt also an, dass Gedanken über Tatsachen mit demselben Recht existieren wie die Tatsachen, über die wir nachdenken.“
  2. Neues Weltbild: „Wir können niemals das Ganze erfassen. Es ist prinzipiell zu groß für jeden Gedanken.“ „Es gibt also viele kleine Welten, aber nicht die eine Welt, zu der sie alle gehören.“
  3. Die Welt gibt es nicht: „Die Welt ist weder die Gesamtheit aller Gegenstände oder Dinge noch die Gesamtheit der Tatsachen. Sie ist der Bereich aller Bereiche.“ „Die Welt ist das Sinnfeld [der Bereich] aller Sinnfelder [Bereiche], das Sinnfeld, in dem alle anderen Sinnfelder erscheinen.“ Die Welt existiert nicht, „weil, es kein Sinnfeld gibt, in dem [sie] erscheinen kann.“
  4. Neo-Existentialismus: „Existenz = Erscheinung in einem Sinnfeld.“ „Der Sinn ist dann die Art, wie ein Gegenstand erscheint.“

Die Auswirkungen der Irrtümer, also der vermeintlichen Wahrheitsströmungen, spüre ich oft sehr schnell, wenn ich mit Pädagogen, Soziologen oder Psychologen spreche, die in den 70-80er Jahren studiert haben. Falls sie erfahren, dass ich Physiker bin, wird mir oft sehr schnell unterstellt, dass ich alles mit Physik erklären wolle (Physikalismus) und lediglich beobachtbare materielle Dinge als wesentlich ansähe (Materialismus). Die Ausführungen werden flankiert von der unumstößlichen Wahrheit, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt, bzw. geben kann und daher jede individuelle Perspektive gleich wahr sei (Konstruktivismus). In Konsequenz heißt dies, dass diese Perspektiven alle gleichberechtigt nebeneinander stehen bleiben müssten. – Daraus wird abgeleitet, dass nur so auch Wertschätzung gezeigt werden könne.

Mit diesem Verhalten verbunden ist auch oft die Sicht, es gäbe die Welt der Physiker, die sich mit dem Universum, den materiellen Dingen, beschäftigen und auf der ganz anderen Seite gäbe es die Welt der Soziologen, Psychologen, Pädagogen, die sich mit der Welt des Sozialen und Psychischen befassen. – Zwei Welten, völlig unvereinbar, so heißt es! U.a. führt dies dazu, dass die Selbstorganisationsprinzipien, die man in der Natur erkannt hat, so wird gesagt, keinesfalls auf das Soziale oder Psychische anwenden kann. Damit ist für meine Kollegen, die sich dieser Sicht anschließen der mentale Zugang zur Synergetik und deren Anwendung z.B. im Management 4.0 automatisch versperrt.    

Solche vermeintlichen Wahrheits-Strömungen wie den Materialismus oder den radikalen Konstruktivismus, an denen ja tatsächlich ein Funke oder vielleicht auch mehrere Funken Wahrheit anhaften, gibt es in der Menschheitsgeschichte sehr viele. – Kein Lebensbereich oder Wissenschaftsbereich ist frei von solchen temporären Wahrheits-Strömungen oder Irrtümern. – Lediglich kommt der eine Lebens- bzw. Wissenschaftsbereich besser damit zurecht als der andere. – Die Naturwissenschaften schaffen es meistens recht gut in Zeiträumen von ein bis zwei Jahrzehnten ihre Irrtümer aufzudecken; bei der Philosophie sprechen wir wahrscheinlich eher von Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden. Das hängt damit zusammen, dass die Philosophie im strengen Sinne nicht falsifizierbar ist und eigentlich (leider) immer erst durch die falsifizierbaren Wissenschaften, und dazu gehört nicht nur die Physik, revidiert bzw. erneuert wird. Deswegen spürt man in den Ausführungen von Gabriel so etwas wie ein Minderwertigkeitsgefühl (insbesondere im youtube Video), wenn er nämlich sagt, dass man der Philosophie (endlich wieder) den Platz geben soll, der ihr zusteht. Hierzu müsse die Philosophie einen Quantensprung machen, d.h. u.a. sie muss andere Wissenschaften integrieren, um eine integrierte Ontologie (Was es gibt – Was es nicht gibt) zur Verfügung zu stellen.

Wie ich oben schon ausführte, erfahre ich diese Irrtümer immer wieder in Diskussionen, und ich vermute auch, dass diese Irrtümer immer noch virulent in der Gesellschaft sind, und damit unser Handeln bzw. unsere Erkenntnisfähigkeit massiv behindern. – Das Unterfangen von Gabriel, diese Irrtümer als Irrtümer aufzudecken, ist sehr löblich!

Meines Erachtens unterliegt auch Gabriel den von ihm identifizierten Irrtümern.

Ich frage, ist es heute noch notwendig zwischen Universum und Welt in dieser Form zu unterscheiden? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Wissenschaftler von Weltrang gibt, die nicht wissen bzw. nicht glauben, dass es mehr gibt als das, was wir als Materie identifizieren. – Wir wissen ja noch nicht einmal was Materie ist. – Wer sich etwas mit der Physik der letzten 100 Jahre beschäftigt hat, wird dies überall spüren. – Deshalb sollte es kaum Physiker von Weltrang geben, die wirklich an den Physikalismus oder Materialismus glauben. – Dass diese Glaubenssysteme nach wie vor in der Gesellschaft existieren, ist unbestreitbar, es sind aber Glaubenssysteme, die weniger von den Naturwissenschaften (heute) getragen werden, als von den Glaubenssystemen der Nicht-Naturwissenschaftlern über die Naturwissenschaft.- Glaubenssysteme entstehen durch unzulässige Vereinfachungen gepaart mit Nicht-kennen. Entsprechend ist der Irrtum „Neurozentrismus“ auch ein Irrtum, der so in den Neurowissenschaften meines Erachtens keine Basis hat.- Es wäre interessant, diese meine Aussage durch eine entsprechende Befragung unter allen Wissenschaftlern zu falsifizieren.

In verschiedenen Blogbeiträgen habe ich das Thema Emergenz angesprochen. Die zentrale Erkenntnis hierzu ist, dass wir nicht wissen, was Emergenz ist. Derzeit steht Emergenz einfach dafür, dass Systeme plötzlich unerwartete System-Eigenschaften zeigen, die wir uns nicht erklären können. – Wenn wir also nicht wissen, was Emergenz ist, wie kann Gabriel sinnvoll behaupten, dass Gedanken keine emergenten Phänomene unseres Gehirns sind. – Wir wissen einfach nicht, was unsere Gedanken sind. – Auch so ambitionierte Ideen wie die von Tononi und Koch haben meines Erachtens interessante Ansätze zum Thema Bewusstsein hervorgebracht, sind aber immer noch sehr weit von einem ersten wirklichen Verständnis entfernt [6]. – Gleichwohl müsste eine moderne Philosophie sich mit dieser Begriffswelt auseinandersetzen.

Beim Lesen oder Hören der Philosophie Gabriel’s mache ich sehr oft folgende Beobachtung: Es werden immer wieder Aussagen in den Raum gestellt, die an wesentlichen Stellen die Integration mit den anderen Wissenschaften oder Lebensbereichen vermissen lassen. Also, …wenn „Emergenz“ als ein Kriterium angeführt wird, dann ist es notwendig, dieses Kriterium sauber zu definieren. Falls man dieses nicht kann, sollte man dies sagen und im ungünstigsten Fall nicht als Kriterium verwenden. Dass es eventuell Personen gibt, die glauben, dass unsere Gedanken in unserem Gehirn verortet sind, kann doch nicht dazu führen, dass man dies den Neurowissenschaftlern anlastet. Wenn überhaupt, müsste man dieses zum Beispiel den Glaubenssystemen der Philosophie anlasten. – Und damit sind wir bei dem meines Erachtens richtigen Wunsch von Gabriel, dass die Philosophie eine integrative Rolle unter den Wissenschaften einnimmt. – Dies erfordert aber auch, dass die Philosophen mit gutem Beispiel voran gehen und versuchen das Nicht-Kennen zu minimieren.

In [1] behauptet Gabriel, dass es sehr wohl objektiv feststehende Wertmaßstäbe (eine Moral) gäbe. Im SRF-Gespräch konnte ich leider keine Begründung hierfür erkennen. Ich habe lediglich wahrgenommen, dass sich Behauptung an Behauptung reihte. Auch ich bin der Meinung, dass es aus heutiger Sicht, also mit unserem heutigen Bewusstsein betrachtet, sehr wohl diese „objektiv feststehenden Wertmaßstäbe“ gibt. Ich begründe diese Aussage mit der Konsistenztheorie der menschlichen Grundbedürfnisse und den Aussagen des Kultur- und Bewusstseinsmodells Spiral Dynamics [1]. Diese meine Schlussfolgerung mag nicht korrekt sein, etwas ähnlich Überprüfbares vermisse ich jedoch bei Gabriel.  

Ich möchte meinen Wunsch „Philosophen gehen mit gutem Beispiel voran“ noch an folgendem Irrtum eines Irrtums aus [2] erläutern: „Die populäre Behauptung, der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien löse möglicherweise einen Tornado in Texas aus, ist schlicht falsch. – Vieles hängt mit vielem zusammen, aber es ist falsch (genau genommen sogar unmöglich!), dass alles mit allem zusammenhängt.“

Ich benutze diese populäre Aussage zum Schmetterlingseffekt sehr oft, um zu verdeutlichen was Komplexität bzw. Chaos ist, nämlich u.a., dass kleinste Veränderungen in einem komplexen System enorme Auswirkungen haben können. Ich weise daraufhin, dass die Aussage vom Flügelschlag eine Metapher mit Wahrheitsgehalt ist, nämlich in dem Sinne, dass die Wahrscheinlichkeit nicht null ist (wenn auch sehr sehr klein), dass ein Flügelschlag die Luftmoleküle in Brasilien bewegt und, dass falls die Atmosphäre zwischen Brasilien und Texas in einem „geeigneten“ Zustand ist, dann einen Tornado in Texas hervorruft. Dieser Metapher also das Prädikat „falsch“ zu geben, ist schlicht einfach nur „reißerisch“. Die nächste Aussage, dass nicht alles mit allem zusammenhängt ist jedoch fundamental, meines Erachtens so fundamental, dass sie zu den langjährigen Erkenntnissen der Komplexitätsforschung gehört: Selbstorganisation und Leben kann nur in mehr oder weniger abgeschlossenen Systemen entstehen. Diese Systeme sind mit ihrem Umfeld verbunden, jedoch nicht mit allen Elementen des Umfeldes. Man stelle sich vor, unser Leben würde unmittelbar von den Ereignissen eines 100 Lichtjahren entfernten Sterns abhängen, also Licht würde uns z.B. unmittelbar beeinflussen, ganz zu schweigen vom Licht der vielen anderen Sterne. – Man könnte vielleicht auf die Idee kommen, dass die Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit genau hierin begründet liegt, nämlich dafür zu sorgen, dass nicht alles mit allem zusammenhängt. Oder, … ich stellte mir vor, mein Leben würde davon abhängen, welches Frühstück ein bestimmter Chinese (oder alle Chinesen) an einem bestimmten Tag (oder an allen Tagen) einnimmt… Deshalb spielen die sogenannten Rahmenparameter in der Selbstorganisation auch so eine große Rolle: Ein System, das mit allen anderen Systemen verbunden ist, wird maximal antiagil, es kann also keine Information und keine Energie mehr aufnehmen, es verhält sich so gesehen, wie ein System, das keinerlei Verbindungen hat. – Damit wäre Leben nicht mehr möglich. – In [7] zeige ich, wie die Veränderung der Qualität und Quantität der Verbindungen Selbstorganisation ermöglicht oder verhindert. Ich merke auch an, dass die Komplexität unseres Gehirns ganz wesentlich auf dieser „Modularisierung“ beruht und moderne Theorien zum Bewusstsein hiervon explizit Gebrauch machen [6].

An einem weiteren Beispiel möchte ich meine fundamentale Kritik zur Philosophie Gabriel‘s erläutern: Falls die Philosophie den Anspruch erhebt Wissenschaften (und ggf. Erkenntnisse anderer Lebensbereiche) zu integrieren, um eine zeitgemäße, in die Zukunft gerichtete Ontologie bereitzustellen, muss sie die verschiedenen wissenschaftsspezifischen Ontologien kennen, verstehen und gemeinsame Muster ableiten, um auf einer abstrakteren Ebene zu neuen ontologischen Erkenntnissen zu kommen.

Im Buch geht Gabriel auch auf das Thema „Gibt es einen Supergegenstand, eine Substanz, aus der alles andere abgeleitet wird, oder gibt es vielleicht mehrere?“ ein. Diese Fragestellung wird seit Jahrhunderten unter den Begriffen Monismus (eine Substanz, z.B. die Materie), Dualismus (zwei Substanzen, z.B. vielleicht Geist und Materie/Natur) oder Pluralismus in der Philosophie diskutiert. Gabriel gibt an, dass er eher ein Vertreter des Pluralismus ist. Warum und wieso er zu dieser Aussage kommt, kann ich nicht nachvollziehen. Als Beispiel für den Pluralismus zitiert er die Monadentheorie von Leibniz; die Monaden sind Beispiele für den Pluralismus der Substanzen. Bei allem Respekt für unsere großen Denker, und hier insbesondere den genialen Leibniz, wäre es heute nicht eher angebracht sich Gedanken zu machen, was die verschiedenen Disziplinen zum Thema Substanz sagen, und hier insbesondere was ist Materie, Energie und Information, was unterscheidet lebende Materie von „nicht-lebender“ Materie und was unterscheidet Leben von bewusstem Leben, was ist Bewusstsein und gibt es überhaupt Unterschiede und wenn ja wo könnten diese Unterschiede liegen? Ich glaube, dass sich die Philosophie Gabriel’s diesen Fragen nicht wissenschaftsintegrativ stellt, wohlgemerkt integrativ bezogen auf die Wissenschaften des 21. Jahrhunderts. – Denn ich kann an keiner Stelle erkennen, dass er in seiner Philosophie auch nur ansatzweise auf die Ontologien der anderen Wissenschaftsbereiche zu sprechen kommt. Wie Gabriel selbst sagt, hat seine Philosophie damit ihre Daseinsberechtigung verwirkt.

Damit komme ich zum zentralen Aspekt der Philosophie Gabriels, dem oder den Sinnfeldern und dem Neo-Existentialismus.

„Sinnfelder, sind Bereiche, in denen etwas, bestimmte Gegenstände, auf eine bestimmte Art erscheinen.“ „Der Sinn ist dann die Art, wie ein Gegenstand erscheint.“

Ich nähere mich dem Thema Sinn bzw. Sinnfeld über das Verständnis im Management 4.0: In der Umgangssprache sprechen wir von: das gibt uns Sinn, das erscheint uns sinnvoll; Sinn, ist das, an dem wir uns selbst ausrichten; das gibt unserem Leben Sinn. Im Management 4.0 haben wir Sinn als Ordnungsparameter der sozialen Selbstorganisation identifiziert. Sinn ist etwas zutiefst Menschliches, d.h. Sinn gibt es nur mit/in psychischen oder sozialen Systemen. Erscheint ein Gegenstand mit/im Sinn, dann bildet der Gegenstand und das Individuum ein Sinnfeld, wir sprechen auch von einem emergenten Makrozustand. – Hier dürfte nach meinem bisherigen Kenntnisstand ein wesentlicher Unterschied zum Sinnfeldkonzept nach Gabriel liegen: Das Sinnfeld kreiert sich nach meinem Verständnis selbstorganisiert und damit selbstkonsistent in einem System, hierbei kann das System auch aus einem oder mehreren Dingen/Tatsachen/Gedanken/Fiktionen und einem Menschen bestehen. Wir (und Gabriel) sprechen hier sogar in Analogie zur Physik von einem Feld, das sich in einem System ausbildet (bitte nicht an Physikalismus denken!). In einem Team bildet sich das Sinnfeld im System Team aus, indem das Team einen gemeinsamen Ordnungsparameter ausbildet, den Sinn. Die Organisation, in der sich das Team befindet, bildet wiederum ein weiteres anderes Sinnfeld aus. Hieran kann man erkennen, dass es sehr viele ineinander verschachtelte und parallele Sinnfelder gibt. Damit Menschen Sinn ausbilden und erfassen können, müssen sie den Gegenstand oder Gegenstandsbereich erfassen können. Falls sie diese nicht erfassen können, bildet sich auch kein Sinnfeld aus. Wenn ich jetzt noch hingehe und das unfassbare Große mit der Welt identifiziere und versuche dieser ein Sinnfeld zuzuordnen, kann man sehr schnell nachvollziehen, dass dies nicht gelingt, nicht gelingen kann.- Unsere mentalen Kapazitäten sind dafür einfach nicht ausgelegt, also gibt es die Welt nicht. Oder anders ausgedrückt, sobald ich das Sinnfeld aller Sinnfelder dem Begriff „Die Welt“ zuordne, kommt man automatisch zur Aussage, dass es Die Welt nicht gibt. Das hat schon was „reißerisches“, oder?    

Der Neo-Existentialismus, sagt aus, dass die Menschen ein Leben im Licht ihrer Vorstellung von sich selbst und der Welt führen. Oder Schein ist Sein! Im Coaching und in der Therapie ist dies eine bekannte Erkenntnis, die man sich dort explizit zu Nutzen macht, um Sein zu „produzieren“: Erst dann, wenn der Coachee eine Vision/Fiktion, aber auch das Team, oder die Organisation eine gemeinsame Vision/Fiktion entwickelt haben, entwickelt sich das Sein, also die konkreten Handlungen. Wir sprechen im Management 4.0 davon, dass sich ein mentaler Ordnungsparameter ausgebildet hat, der zu einer realen Ordnung führt. Um den mentalen Ordnungsparameter hervorzurufen, verwenden wir die Ziel-Hierarchie, die sozusagen als Fiktion des (zukünftigen) Seins dem Sein, also dem Team, der Organisation eine Ausrichtung gibt. – Also, Management 4.0 ohne Sinnfelder macht keinen Sinn!

Der Begriff des Sinnfeldes und seiner Grenzen, kann man direkt mit einem sozialen Selbstorganisationskreis (SO-Kreis oder SO-circle) assoziieren. Da es unendlich viele SO-Kreise gibt, gibt es unendlich viele Sinnfelder und vice versa.

Existenz ist der Umstand, dass etwas in einem Sinnfeld erscheint. Falls wir die Gleichung „Existenz = Erscheinung/Vorkommen in einem Sinnfeld“ so verstehen, dass sie eine Selbstkonsistenzbedingung beschreibt, die sich über Selbstorganisation einstellt, so ist dies auch das Management 4.0 Verständnis.

Für mich ist das Sinnfeld keine fundamental neue Erkenntnis, sie begleitet mich und die meisten meiner Kollegen schon fast ein ganzes Berufsleben. Denn ohne Sinnfeld ist Coaching, Beratung und Führung einfach nicht möglich!  Was im Management 4.0  jedoch neu ist, das ist die Verbindung zur Komplexitätstheorie und zur Theorie der Selbstorganisation. – Und damit wird meines Erachtens eine ontologische Brücke zwischen völlig unterschiedlichen Sinnfeldern, nämlich der Komplexitäts- und Selbstorganisationsforschung und dem Management, geschlagen.

Ich komme zum Schluss:

Ich tue mich schwer zu glauben, dass es unter post-modernen Menschen mit entsprechenden transformationalen Werte-Memen (man siehe die vorherigen Blog-Beiträge zu value-Memen und Spiral Dynamics) Vertreter des hier beschriebenen Physikalismus, Konstruktivismus, Materialismus, Naturalismus oder Neurozentrismus gibt. – Denn dies entspricht einem Denken in Denkschulen und entspricht nicht einer vernetzten-systemisch-holistisch-transzendentalen Bewusstseinsstufe. – Und die Philosophie des 21. Jahrhunderts sollte diese Bewusstseinsstufe unterstützen und jegliches Denken in Denkschulen überwinden.  

Der Neue Realismus ergibt sich hieraus unmittelbar. – Es gibt keinerlei Indizien in der modernen Wissenschaft und in unseren täglichen Erfahrungen, die den radikalen! Konstruktivismus unterstützen.

Meines Erachtens wird Gabriel seinem eigenen Anspruch, nämlich eine integrative Ontologie vorzulegen nicht gerecht. – Hierzu ist eine viel bessere Auseinandersetzung mit den anderen Wissenschaften/Sinnfeldern und deren Ontologien nötig.

Das Konzept des Sinnfeldes macht Sinn, ist jedoch meines Erachtens in anderen (wissenschaftlichen) Sinnfeldern längst etabliert. Auch hier wäre es wichtig, diese Bereiche (Sinnfelder) in das philosophische Verständnis (Sinnfeld) zu integrieren und etwas wirklich ganzheitlich Neues zu kreieren.

„Warum es die Welt nicht gibt“ mutet eher reißerisch an. Das Sinnfeldkonzept schimmert meines Erachtens schon aus dem Konzept von Wittgenstein „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ hervor. – Falls man den Menschen (etwas) expliziter in das Konzept von Wittgenstein einführt und z.B. stattdessen formuliert „Unsere Welten sind alles, was Sinn macht.“ ist der Schimmer klar zu erkennen.

 

[0] Der „Tractatus logico-philosophicus“ ist übrigens als Satz-Hierarchie formuliert, einer speziellen Form einer Ziel-Hierarchie, also eines Ordnungsparameters, der ein Sinnfeld erzeugt bzw. erzeugen will.

 

[1] Gabriel M (2020) Für einen neuen Existenzialismus, «Falsch: Alle Philosophien der letzten 2500 Jahre!» | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur – YouTube, Markus Gabriel im Gespräch mit Wolfram Eilenberger

[2] Gabriel M (2013) Warum Es Die Welt Nicht Gibt, 3. Auflage, Ullstein Buchverlag, Berlin

[3] Wikipedia (2021) Existentialismus,  https://de.wikipedia.org/wiki/Existentialismus, aufgerufen am 02.01.2021

[4] Wittgenstein L (1963) Tractatus logico-philosophicus: Logisch-philosophische Abhandlung, edition suhrkamp

[5] Shakespeare W (2012) Viel Lärm um nichts, Zweisprachige Ausgabe, Deutsch von Frank Günther, 5. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München

[6] Tononi G (2020) Consciousness and the brain, https://www.youtube.com/results?search_query=integrierte+informationstheorie+tononi, zugegriffen am 07.01.2021

[7] Oswald A, Köhler J, Schmitt R. (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer, Heidelberg