The (in)visible hand oder von der Selbstorganisation des Marktes

Einer der hartnäckigsten Mythen unserer Gesellschaft und insbesondere der Grundannahmen des vorherrschenden Ökonomieverständnisses ist das der invisible hand [1]. – Hiernach besteht der Glaube, dass das (egoistische) Handeln im Markt über die Mechanismen der Preisbildung sich zum Wohle der Gesamtgesellschaft entwickelt.

Dass dies vielfach ein Irrtum ist, zeigen meine Beispiele im letzten Blog [2].

Wie in Organisationen auch, haben Mythen eine blockierende Wirkung und verhindern notwendige Veränderungen oder einen Systemwechsel. Mythen gehören zur Kategorie der Glaubenssätze, die sich meistens schon viele Jahre, manche Jahrhunderte, gehalten haben. Will man Veränderungen hervorrufen, ist es deshalb unabdingbar, die Beseitigung dieser Blockaden vorzunehmen. Gerade in demokratischen Gesellschaften geht einer wesentlichen Strukturänderung eine solche Blockadenbeseitigung voraus.

Schauen wir uns das Thema Preisbildung etwas genauer an:

Die Preisbildung ist eine Form der Selbstorganisation: Preise sind Ordnungsparameter, die sich in Abhängigkeit von Rahmen- und Kontrollparametern, in Subsystemen unseres Systems Gesellschaft einstellen. Rahmen- und Kontrollparameter des Subsystems Preisbildung (es gibt natürlich sehr viele dieser Subsysteme) werden durch die Historie (u.a. auch Mythen und Glaubenssätze) sowie Gesetze, Steuerabgaben, Innovationen oder auch Marktmonopole ausgebildet. Mythen und Glaubenssätze, Gesetze, Steuerabgaben, Innovationen sowie Marktmonopole sind wiederum durch weitere andere selbstorganisierte Prozesse entstanden. Die Preisbildung ist also in eine Hierarchie (vertikal wie horizontal) von selbstorganisierten Strukturen und Prozessen eingebettet. Vielfach ist mit dem Verständnis der Selbstorganisation ein großes Missverständnis, um nicht zu sagen ein Glaubenssatz, verbunden: Selbstorganisation läge nur dann vor, wenn es keinerlei „Eingriffe“ gibt. Aber was sind „Eingriffe“. Allein die Systemumgebung zum Subsystem Preisbildung ist schon ein „Eingriff“. Dieser „Eingriff Systemumgebung“ bestimmt nämlich ganz wesentlich welche Strukturen und Prozesse das so selbstorganisierte Subsystem Preisbildung ausbildet. Und diese Systemumgebung kann man beeinflussen, also z.B. durch Führung gestalten. – Im New Work spielt u.a. die Raum- und Zeitgestaltung als Systemumgebung eine ganz besondere Rolle. In Agilen Frameworks (wie z.B. Scrum) wird diese Erkenntnis schon sehr lange angewendet, wenngleich dies dort eher als starrer Rahmen(parameter) vorgegeben wird, da die Wirkmechanismen der Selbstorganisation den Anwendern der Frameworks selten bekannt sein dürften. Andere „Eingriffe“ sind Werte und Glaubensätze, die ebenfalls in Selbsorganisationsprozessen entstanden sind und auf den Prozess der Preisbildung auch als Rahmen- oder Kontrollparameter wirken. So liegt also ein unglaublich komplexes Netzwerk an selbstorganisierten Prozessen vor, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. – Selbstorganisation kennt also sehr wohl „Eingriffe“.

In (einfachen) mathematischen Modellen, die die Realität nur bedingt abbilden, sind die Rahmen- und Kontrollparameter wirklich Parameter, also einzelne Zahlen, in die die obigen Rahmen- und Kontrollparameter der Realität (Werte, Glaubenssätze, Mythen, andere Prozesse und Strukturen) abgebildet werden. Der Kontrollparameter ist dann eine Zahl, deren Veränderung u.a. Selbstorganisation oder auch chaotisches Verhalten im mathematischen Modell hervorruft. So kann man in einem einfachen Modell zu Preisbildung, das auf der logistischen Gleichung beruht, bei Variation des Kontrollparameters u.a. chaotisches Preisbildungsverhalten erzeugen [3]. 

Hinter diesen Systemparametern versteckt sich also in mathematischen Modellen auch das böse oder gute Verhalten einzelner Personen oder Gruppen, die erheblichen „Eingriff“ in die Selbstorganisation vornehmen.

Wie in anderen Blogbeiträgen schon dargelegt, kann der Mechanismus der Selbstorganisation jedoch selbst nicht zwischen gut und böse unterscheiden.

In meinem letzten Blog [2] habe ich gezeigt, dass eine unregulierte Preisbildung, also eine unregulierte Selbstorganisation, „böse“ Ergebnisse zeigen kann.

Mit dem Glaubenssatz „Die unsichtbare Hand erzeugt Gemeinwohl“ ist der weitere Glaubenssatz „Den Markt sollte man sich selbst überlassen, der Staat sollte nicht eingreifen!“ eng verbunden. Dieser Glaubenssatz wird leider durch viele Erfahrungsbeispiele „bestätigt“. – Denn vielfach hat man in den Markt eingegriffen, aber ohne die Zusammenhänge der Selbstorganisation zu berücksichtigen. – Die Resultate waren oft negative Erfahrungen, die den obigen Glaubenssatz wieder untermauert haben.

Andreas Liening zeigt in [3] an vielen (realen) Beispielen wie mittels der Synergetik ein tieferes und ganzheitlicheres Verständnis ökonomischer Prozesse gelingt: Preise sind Ordnungsparameter. Es gilt das Prinzip, dass man Ordnungsparameter einer Selbstorganisation nicht vorgeben darf. – Vorgeben heißt strikt vorgeben. – Eine Intervention reingeben und schauen was das System daraus macht, dies ist keine strikte Vorgabe. – Im Agilen Management sagen wir, dass eine Führungskraft durchaus auf einen Ordnungsparameter Einfluss nehmen darf, jedoch nur soweit wie alle anderen auch. – In machtorientierten Organisationen ist dies sicherlich ein sehr schwieriges Unterfangen. Falls man es doch tut, spätestens dann gehen die Vorteile der Selbstorganisation verloren. – Im Management, agil wie traditionell, kennen wir die negative Wirkung von vom Management vorgegebenen Ordnungsparametern wie Vision, Mission oder auch Werten. – In nahezu allen Fällen geht die sinnstiftende Wirkung verloren, und damit auch die intendierte Wirkung als Mittel der Ordnungsbildung, also als Mittel der Ausrichtung auf ein gemeinsames unternehmerisches Ziel hin.

Je nach Kontext, können völlig unerwartete und unerwünschte Makrostrukturen entstehen, z.B. kann eine Preisdeckelung (als massiver Eingriff in die Ausbildung eines Ordnungsparameters) bei den Anbietern eines Produktes zu einer Angebotsreduktion führen, d.h. die Anbieter befürchten, dass sie nicht genug Gewinn machen und ziehen Ihr Angebot zurück. Für lebenswichtige Produkte wie Wohnungen oder Nahrungsmittel kann dies katastrophale Folgen haben. – Bei entsprechender Kenntnis von Selbstorganisationsmechanismen, wäre man sicherlich auf diese Zusammenhänge gestoßen und hätte einen anderen Systemparametermix gefunden. Andere Systemparameter, die als Rahmen- oder Kontrollparameter z.B. für den Wohnungsmarkt wirken, sind: Wohnberechtigungsscheine, Sozialer Wohnungsbau, progressive Besteuerung von Gewinnen aus Mietgewinnen, usw….

Wenn der Staat nicht eingreifen soll und egoistisches Handeln im Markt sich letztendlich für die Gesellschaft positiv auswirkt, dann ist damit auch ein dritter Glaubenssatz verbunden: „Ökonomisches Wachstum ist sinnvoll, da es unseren Wohlstand garantiert“. – Wie wir sehen, bin ich jetzt schon beim dritten Glaubenssatz angelangt. – Wir sprechen im Management 4.0 von Glaubenssatzsystemen. – Das Erkennen und Hinterfragen von Glaubenssatzsystemen ist eine Fähigkeit der Metakompetenz Selbstorganisation 4.0. – Im Markus Lanz Talk [4] zur Neuausrichtung unserer Ökonomie kann man sehr gut die derzeit vorliegenden ökonomischen Glaubenssätze unseres Denkens erkennen und wie diese die Fruchtlosigkeit des Talks bedingen und wahrscheinlich unser Unvermögen den Systemwandel bald möglichst einzuleiten.

Nehmen wir das Beispiel Tönnies: Tönnies wirbt auf der eigenen Internetseite [5] mit „Fleischexport: Wertschöpfung für In- und Ausland“ sowie Millardenumsätzen. – Der Exportanteil liegt bei über 50%. – Das Wachstum hat (vermutlich) sogenannte Skaleneffekte ermöglicht, also eine enorme „Effizienz“ mit sich gebracht, was bei niedrigen Lohnkosten und sehr preisbewussten Käufern zu niedrigen Fleischpreisen führt. Man könnte also auf die Idee kommen, dass die Selbstorganisation doch prima funktioniert, denn alle haben was davon: Niedrige Fleischpreise, viele Arbeitsplätze, hohe Steuereinnahmen, gute Gewinne. Und dies untermauert wieder den Glaubenssatz „Ökonomisches Wachstum ist sinnvoll, da es unseren Wohlstand garantiert.“. Nur was heißt „unseren Wohlstand“? Wie bemessen wir den Wohlstand der Tiere? Wie bemessen wir die Folgen der einseitigen Tierhaltung (u.a. Futtermittelproduktion, Gülle, usw.) und deren Folgen für die Natur? Wie bemessen wir die Folgen für unsere Gesundheit, weil wir (und die Menschen im Ausland, wohin ca. 50% exportiert werden) zu viel Fleisch essen? Wie bemessen wir den umweltschädlichen Transport ins Ausland? Wie bemessen wir die Folgen für die Arbeiter in den Fabriken? Wie bemessen wir die Folgen von Corona und ähnlichen Krisen? usw.

Im nächsten Blogbeitrag versuche ich diese Fragen weiter zu diskutieren.

        

[1] Wikipedia (2020) Unsichtbare Hand, https://de.wikipedia.org/wiki/Unsichtbare_Hand

[2] Oswald, Alfred (2020) Von bösen und guten Preisen oder der Selbstorganisation des Marktes, https://agilemanagement40.com/von-boesen-und-guten-preisen-oder-der-selbstorganisation-des-marktes

[3] Liening Andreas (2017) Komplexität und Entrepreneurship, SpringerGabler, kindle Version

[4] ZDF-Markus Lanz (2020) https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-7-juli-2020-100.html, zugegriffen am 28.07.2020

[5] Tönnies (2020) https://toennies.de/fleischexport-wertschoepfung-fuer-in-und-ausland/, zugegriffen am 28.07.2020