Karl Marx und die Theorie der Selbstorganisation

Anlässlich seines 200-Jährigen Geburtstages am 05.05.2018 habe ich mich daran erinnert, dass ich vor langer Zeit ein großer Fan von Marx und seinem Kapital [1] war. Nicht weil mich der Marxismus und Kommunismus damals wie heute besonders angesprochen hat, sondern weil mich die Scharfsinnigkeit seiner Gedanken faszinierte sowie die erfrischende Verbindung von Theorie und Praxis.

Einige Jahre später faszinierte mich, auf vielleicht noch größere Weise, die Theorie der Selbstorganisation. Die Selbstorganisation ist, soweit wir dies heute wissen, ein universelles Prinzip und beschreibt sogenannte emergente Phänomene, die auf dem kollektiven komplexen Verhalten von vielen Objekten bestehen. – So versucht die Theorie der sozialen Selbstorganisation die Ausbildung von gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen (Makro-Ebene) auf der Basis des Verhaltens von Menschen (Mikro-Ebene) zu beschreiben.  Die Theorie der Selbstorganisation, insbesondere die Synergetik [2], ist heute ein wesentlicher Bestandteile meiner Arbeit und ein wesentlicher Teil der Collective Mind – und Management 4.0 – Theorie und Praxis [3], [4], [5].

Ich verweise auch auf die sehr gelungene Zusammenstellung der verschiedenen Theorieschulen der Ökonomie, die alle sehr unterschiedlich mit der Gestaltung von Makro- und Mikro-Ebene umgehen: https://www.exploring-economics.org/de/orientieren/#discover. Exploring Economics plädiert für eine Vielfalt in den Betrachtungsweisen, der ich mich sehr gerne anschließe. Ich glaube zusätzlich, dass das Denken in „Schulen“ überwunden werden müsste, hin zu einer integrativen Betrachtungsweise, in der sich die verschiedenen Perspektiven als Grenzfälle ergeben, je nachdem worauf der Fokus gelegt wird: Derzeit ist es allerdings so, dass es z.B. zwischen der  Schule „Evolutionsökonomie“, der Schule „Komplexitätsökonomie“ und der Schule „Marxistische Politische Ökonomie“ wenig Integratives gibt. – Falls die Prinzipien der Selbstorganisation tatsächlich universell sind, so müssten sie in der Lage sein, diese Integration zu leisten.

In den Trainings zu Management 4.0 skizziere ich immer mal wieder den Zusammenhang zwischen Selbstorganisation und gesellschaftlichen Entwicklungen (Flüchtlingsthema, Brexit, AfD, Trump, die Ausbildung exponentieller Organisationen wie Facebook und Google sowie die soziale Selbstorganisation mittels digitaler Netzwerke) – Man siehe hierzu auch die Ausführungen von Ebeling und Feistel in der Zeitschrift der Leibniz-Sozietät [6].

Dies Alles brachte mich auf die Idee, mir die Theorie von Marx unter dem Blickwinkel der Selbstorganisation anzusehen. – Zumal ich vor kurzem das überaus beeindruckende Buch von Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ [7] gelesen habe und beim Lesen sich der Gedanke aufdrängte, dass Piketty mit „big data“ den Wirkmechanismen der ökonomischen und damit der gesellschaftlichen Selbstorganisation der letzten 300 Jahre auf den Grund gegangen ist.

Piketti schreibt am Ende seines Buches [7]:

„Die allgemeine Lehre, die sich aus den untersuchten Daten ziehen lässt, ist die, dass die Dynamik einer auf Privateigentum beruhenden Marktwirtschaft, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, machtvolle Konvergenzkräfte freisetzt, die namentlich in der Verbreitung von Kenntnissen und Fähigkeiten liegen, aber auch machtvolle Divergenzkräfte, die unsere demokratischen Gesellschaften und jene soziale Gerechtigkeit bedrohen, die zu ihren Legitimationsgrundlagen zählt. Die mächtigste destabilisierende Kraft liegt in der Tatsache, dass die private Kapitalrendite r dauerhaft sehr viel höher sein kann als die Wachstumsrate des Einkommens und der Produktion g. Die Ungleichung r > g sorgt dafür, dass Vermögen, die aus der Vergangenheit stammen, sich schneller rekapitalisieren, als Produktion und Löhne wachsen. In dieser Ungleichheit spricht sich ein fundamentaler Widerspruch aus. Je stärker sie ausfällt, umso mehr droht der Unternehmer sich in einen Rentier zu verwandeln und Macht über diejenigen zu gewinnen, die nichts als ihre Arbeit besitzen. Wenn es einmal da ist, reproduziert Kapital sich von selbst – und zwar schneller, als die Produktion wächst. Die Vergangenheit frisst die Zukunft.“

Dies hätte Marx, so oder so ähnlich, auch sagen können!

Das Bild ist aus [7] entnommen. – Ich gehe auch davon aus, dass die Kapitalrendite durch die Digitalisierung, in der Roboter noch mehr die Bearbeitung von (standardisierten) Prozessen übernehmen werden, weiter steigen wird, da Roboter vor allem Kapitalinvestitionen darstellen.

Eine Recherche im Internet ergibt die für mich doch überraschende Erkenntnis, dass mein Gedanke, die Theorie von Marx in die Nähe der Theorie der Selbstorganisation zu rücken keineswegs neu ist. Ja, dass vielmehr Marx als Ur-Vater der ökonomischen und gesellschaftlichen Theorie der Selbstorganisation angesehen wird. Deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn man Marx – abgesehen von dem Missbrauch seiner Ideen durch Andere in Marxismus und Kommunismus – vor allem heute, als eines der großen Genies neben Darwin und Einstein ansieht [8].

Marx hat von sich selbst behauptet, dass er kein Marxist sei.- Gleichwohl hat er in Kenntnis der unsäglichen Arbeitsbedingungen des 19ten Jahrhunderts als Kommunist gewirkt, der eine Revolution herbeiführen wollte, um dem Menschen seine Würde und Freiheit wieder zu geben. In der Umsetzung seiner Theorie sind der russische Kommunismus und der frühe chinesische Marxismus jedoch gescheitert. Meines Erachtens weil die grundlegenden Prinzipien der Selbstorganisation verletzt wurden.

Dies ist umso erstaunlicher, als schon Marx selbst den Zusammenhang zwischen seiner Theorie und Darwin’s Evolutionstheorie hergestellt hat. – Heute geht man davon aus, dass die (ökonomischen) Evolution durch Selbstorganisation angetrieben wird.

Weise [9] schreibt hierzu:

„Seine Sichtweise (Anm.: Marx‘ Sichtweise) der Evolution von Gesellschaftssystemen findet sich klar ausformuliert in „Zur Kritik der Politischen Ökonomie: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt … Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ “

In der naturwissenschaftlich geprägten Theorie der Selbstorganisation (Synergetik) wird Selbstorganisation durch drei Parametertypen und die sich daraus emergent ausbildende Makrostruktur beschrieben [4]:

Alle in der obigen Tabelle exemplarisch genannten Parameter sind Variable, die unterschiedlichen Zeitskalen unterliegen: Die Rahmenparameter bleiben typischer Weise auf einer sehr langen Zeitskala stabil, wohingegen die Kontrollparameter, wie der Name schon sagt, Parameter sind, mit denen man ein System auf einer kürzeren Zeitskala per Intervention in seinem Verhalten beeinflusst bzw. beeinflussen kann. Die Ordnungsparameter sind Parameter, die sich abhängig vom System und den vorliegenden Rahmenparametern und Kontrollparametern „von selbst“ (also emergent) ausbilden und damit zur Ausbildung einer Makrostruktur führen. – Für Makrostruktur hat Marx den Begriff (gesellschaftlicher) Überbau (d.h. oberhalb der Ebene der Individuen, der Mikro-Ebene) verwendet.

Was Rahmenparameter, Kontrollparameter und Ordnungsparameter sind, kann man nicht immer zweifelsfrei sagen, oft sind die Grenzen, insbesondere zwischen Rahmenparametern und Kontrollparametern sowie Kontrollparametern und Ordnungsparametern fließend. – Meines Erachtens konnte z. B. Piketty mit seinen umfangreichen Datenanalysen zeigen, dass die Differenz r-g (siehe obiges Zitat) die Funktion eines Ordnungsparameters hat. – Vermutlich hätte Marx dem Kapital selbst die Funktion eines Ordnungsparameters zugeschrieben.

Ein System, das mit Hilfe dieser drei Parametertypen modelliert wird, ist ein dynamisches System.  Das System verharrt für eine bestimmte Zeit in einem metastabilen Zustand (metastabil bedeutet, dass kleinste Störungen, das System verändern können); es kann aber jeder Zeit aus diesem Zustand in einen anderen metastabilen Zustand wechseln kann, wenn die Parameter sich ändern. Jeder so erreichte Zustand wird durch den Verlauf der vorherigen Zustände wesentlich mitbestimmt. Damit spielt die Historie eines Systems eine prominente Rolle für den aktuell eingenommen Zustand: Die Historie eines Systems wirkt wie ein Rahmenparameter, sie lässt sich ja nicht mehr verändern!

Die nachfolgende Abbildung zeigt die Systemparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) in Anlehnung an Marx und Piketty für das ökonomische Teilsystem einer Gesellschaft. Ich erhebe nicht den Anspruch, das ökonomische Teilsystem auch nur ansatzweise vollständig beschrieben zu haben. Ein System wie Deutschland besteht wahrscheinlich aus sehr vielen Teilsystemen, die alle über entsprechende Systemparameter zu beschreiben sind und deren Systemparameter auf komplexe Weise (also über Rückkopplungen auf Mikro-Ebene wie Makro-Ebene) mit einander wechselwirken. – Vergleicht man die Einträge zu der Zeile „Gesellschaft“ in der obigen Tabelle, so stellt man fest, dass diese Parameter nicht mit denjenigen des ökonomischen Teilsystems übereinstimmen: Ich gehe davon aus, dass die in der Tabelle beschriebenen Parameter (heute eher) das Gesamtsystem beschreiben und dass die ökonomischen Systemparameter das Teilsystem Ökonomie skizzieren. (In der Marx’schen Theorie ist hingegen das ökonomische System, das System das (eher) das Gesamtsystem beschreibt. Es ist nicht auszuschließen, dass die „Hierarchie“ der Teilsysteme von der Entwicklung einer Gesellschaft abhängt. In jedem Fall ist die Frage nach der „Hierarchie“ eine sehr wichtige Frage, die hier nicht abschließend beantwortet werden kann.)

Natürlich findet zwischen den Teilsystemen eine Wechselwirkung statt: Wächst die Ungleichheit, so ist dies eine Ursache für den Verlust von Identifikation und emotionaler Sicherheit. Letztendlich werden auf dieser Basis die (bestehenden) Werte und verbindenden Glaubenssätze in Frage gestellt, was zu einem Verlust der (bisherigen) gesellschaftlichen Ordnung führt bzw. führen kann.

Auf der Basis der Analysen von Marx und Piketty habe ich die Produktionskräfte, aber auch die Historie und das Umfeld den Rahmenparametern zugeordnet. Ich glaube, dass es z.Zt. im Kontext der Digitalisierung enorm wichtig ist, ob man die Technologie als Rahmenparameter versteht oder als Kontrollparameter. Falls man die Digitalisierung als Rahmenparameter versteht, dann heißt dies auch, dass die damit verbundene gesellschaftliche Entwicklung im ökonomischen Teilsystem einfach hingenommen wird. Falls die Technologie als zu gestaltender Kontrollparameter verstanden wird, wäre zu überlegen, wie man diesen gestalten muss, damit sich dieser günstig auf den oder die Ordnungsparameter auswirkt. Denn es wäre ja sicherlich wünschenswert, dass die sich ausbildende Makrostruktur die Ungleichheit nicht weiter verstärkt.

Wie Piketty zeigt, ist z.B. das Steuersystem ein sehr wichtiger Kontrollparameter, um den Ordnungsparameter zu beeinflussen. Als Ordnungsparameter habe ich in Anlehnung an Piketty die zentrale Größe r-g (Kapitalrendite – Wachstum von Produktion und Einkommen) gewählt, da Piketty gezeigt hat, dass diese Größe unmittelbar die Ausbildung der Ungleichheits-Makrostruktur hervorruft. Piketty charakterisiert die Ungleichheit über den Anteil des Vermögens und des Einkommens: Z.B. besitzen in Europa im Jahre 2010 0,1% der Bevölkerung ca. 23 % des Vermögens, 10% der Bevölkerung ca. 63% des Vermögens.  Bei Marx wird die Ungleichheits-Makrostruktur durch das Verhältnis des Eigentums von Bourgeoisie und Arbeiterschaft beschrieben: Die einen haben das Kapital, das ständig wächst, und die anderen sind zu dem Schicksal verdammt, das sich aus diesem Verhältnis ergibt. Die Ungleichheit wächst nach Marx aber nicht beliebig, es wird einen Punkt geben, an dem sich die Ungleichheit  (per kritischer Selbstorganisation, wie wir heute sagen würden) entlädt. Marx hat diesen Punkt als systemspezifischen Punkt erkannt und den Start für die Revolution an diesem Punkt festgemacht.

Aus diesen Darstellungen kann man auch unmittelbar ableiten, dass soziale Systeme, die durch Ungleichheit gekennzeichnet sind, anfälliger für unkontrollierte Veränderungen sind, wenn von außen Komplexität zugeführt wird. Neue Technologien, wie die Digitalisierung, aber auch die Aufnahme von Flüchtlingen wirken als Komplexitätstreiber (Kontrollparameter), die die Komplexität unkontrolliert antreiben. Wenn diese Komplexitätstreiber die Ungleichheit objektiv vergrößern oder auch nur wahrgenommen vergrößern, kann dies in den Bereich der kritischen Selbstorganisation führen. Meines Erachtens ist das Auftauchen der AfD und Pegida ein Vorbote hierfür.

Also ist es für unsere nachhaltige Entwicklung von enormer Bedeutung, Phänomene der sozialen, technischen und natürlichen Selbstorganisation und deren Wechselwirkungen zu verstehen.

Bedenkt man, dass in der deutschen wie internationalen sozialen Komplexitäts- und Selbstorganisationsforschung ein großes Wissen über diese Zusammenhänge vorliegt, so ist es bedauerlich, dass unsere verantwortlichen Politiker diese Kompetenz nicht für ihr Handeln berücksichtigen. Ihr Handeln spiegelt leider das derzeit für sie verfügbare aber unzureichende Bewusstseins- und Wertesystem wider.

[1] Marx K (2014) Das Kapital, Vollständige Gesamtausgabe in 3 Bänden. e-artnow, kindle Version

[2] Haken H, Schiepek G (2010) Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten. Hogrefe-Verlag, Göttingen

[3] Köhler J, Oswald A (2009) Collective Mind Methode. Springer, Heidelberg

[4] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos. 2. Auflage, Springer, Heidelberg

[5] Oswald A, Müller A (2018) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices. BoD, Norderstedt

[6] Ebeling W, Feistel R (2017) Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft und Strategien zur Gestaltung der Zukunft. Leibniz Online, Nr. 28. Zeitschrift der Leibniz-Sozietät e.V.

[7] Piketty T (2016) Das Kapital im 21. Jahrhundert (German Edition). C.H.Beck. Kindle-Version

[8] Neffe J (2017) Marx. Der Unvollendete. C. Bertelsmann Verlag. Kindle-Version

[9] Weise P (1998 ) Evolution und Selbstorganisation bei Karl Marx in Warnke C, Huber G (Hrsg.) Die ökonomische Theorie von Marx – was bleibt?. Metropolis-Verlag, Marburg

Von Glaubenssätzen, Zeitreisen und der Digitalisierung

Projektmanager einer Organisation nehmen an dem inhouse-Seminar „Agiles Management 4.0 und der Digitale Wandel“ teil. Die Projektmanager lernen das Große Bild, ausgedrückt über die Faustregel „Agiles Management 4.0 = Agiles Mindset* Agile Governance * Agile und Klassische Techniken“ kennen und anwenden. Hierbei findet die Dilts Pyramide als Modell für das individuelle Mindset und das organisationale Mindset (Kultur) besonders viel Interesse.

Im Rahmen der Mittagspause kommt es zu einer recht intensiven Diskussion zwischen einigen Projektmanagern. Bernd stellt ziemlich vehement fest, dass die heute überall angebotenen Trainings zu Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für die heute dreijährigen in 20 Jahren nicht mehr notwendig sein werden. Claudia widerspricht dieser Aussage und behauptet, dass sie dies ganz anders sähe und dass Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auch in 20 Jahren für die dann 23-Jährigen von Bedeutung sein werden und dass entsprechende Trainings auch dann nicht ihre Bedeutung verloren haben werden. Die Aussagen werden mehrmals, mit steigender Aggressivität auf beiden Seiten, wiederholt. Um seine Argumentation zu unterstreichen führt Bernd u.a. an, dass man bei der Einführung der Dampflokomotiven vor den Gefahren, die durch eine Geschwindigkeit von 20 km/h hervorgerufen werden, sehr heftig warnte. Und wie wir ja heute wüssten, sei dies ja ziemlicher Unsinn.

Bernd weist hier unbewusst auf die Kontextabhängigkeit unserer mentalen Modelle und die damit verbundenen Aussagen hin: Nahezu niemand konnte sich zum damaligen Zeitpunkt – zu dem damals erfahrbaren Kontext – vorstellen, dass von 20 km/h keine Gesundheitsgefährdung ausgeht, da 20km/h zum damaligen Zeitpunkt schon unvorstellbar schnell gewesen sein muss. In unserem Buch „Projektmanagement am Rande des Chaos“ verstehen wir unter Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, die Muster, die in unserer Umwelt enthalten sind, zu erkennen. Unter Achtsamkeit verstehen wir, die erkannten Muster zu respektieren, u.a die Motive, Werte und Grundannahmen der Anderen und zu erkennen wie diese mit den eigenen Motiven, Werten und Grundannahmen ein komplexes soziales System der Kommunikation hervorrufen. Aufmerksames und achtsames Handeln basiert also auf einer Kompetenz, die den Kontext wahrnimmt und gleichzeitig von diesem abstrahieren kann. Wir sprechen deshalb auch von einer Meta-Kompetenz.

Zurück im Trainingsraum, spürt der Trainer die angespannte Stimmung, die sich zwischen einigen der Teilnehmer breit gemacht hat und er fragt vorsichtig nach den Ursachen. Erst als er auf die Bedeutung der Werte Mut und Transparenz im Agilen Management 4.0 hinweist, erklärt sich Hans bereit die Situation am Mittagstisch zu schildern. Hans versichert sich vorher durch Blickkontakt eines leisen Einverständnisses der anderen. Nachdem Hans die Situation geschildert hat, sowie Claudia und Bernd die Darstellung von Hans bestätigen, fragt der Trainer, ob alle damit einverstanden sind, dieses Beispiel mit den Werkzeugen des Agilen Managements 4.0 zu bearbeiten und vielleicht sogar aufzulösen.

Der Trainer weist auf die Modellierung der Mindsets mittels der Dilts Pyramide hin und insbesondere auf die Verortung von Glaubenssätzen „oberhalb“ der Verhaltensebene, in der Ebene Werte und Grundannahmen. Er betont, dass die Aussagen von Claudia und Bernd auch als Glaubenssätze betrachtet werden können. Glaubenssätze sind Aussagen, die sich von ihrem jeweiligen Kontext, in dem sie gültig sind, verselbständigt haben und damit den Anspruch erheben in jedem Kontext gültig zu sein.

Um der Bedeutung des Kontextes auf die Spur zu kommen, schlägt der Trainer ein Gedankenexperiment, eine kleine Zeitreise, vor: Stellen wir uns vor, wir sind 20 Jahre später, die heute 3-Jährigen sind 23-Jährige, jedoch hat es keine nennenswerte technologische Entwicklung gegeben. Die 23-Jährigen sind lediglich mit den heute verfügbaren Smartphones, Smartpads und Smartwatches groß geworden. Auf diese Weise haben wir jetzt einen Kontext „definiert“. Und es stellt sich die Frage, wird dies zu einer solchen Veränderung der Gehirnstrukturen der 23-Jährigen führen, dass sie in einer Kommunikation mit oder ohne technische Hilfsmittel aufmerksam und achtsam kommunizieren werden. Wir können vermuten, dass die dann 23-Jährigen noch souveräner mit diesen technischen Hilfsmitteln umgehen. Nach allem was wir heute wissen, wird das Arbeiten mit Smartphone, Smartpad und Smartwatch wahrscheinlich Aufmerksamkeit und Achtsamkeit der dann 23-Jährigen in gleichem Maße beeinflussen wie es heute schon geschieht. – Man siehe hierzu auch Langzeitstudien an heute 13-jährigen bis 23-jährigen, wonach die intensive Nutzung von Smartphones Jugendliche einsamer und depressiver macht (Im Buch von Jean Twenge, Me, My Selfie and I). Wir können derzeit auf der Basis unserer aktuellen Kenntnisse also nicht davon ausgehen, dass die Verwendung von Smartphone, Smartpad und Smartwatch von frühester Jugend an, unsere neuronalen Strukturen so beeinflusst, dass sich dies auf eine Verbesserung von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auswirkt.  – Natürlich, auch diese Aussage ist ein Glaubenssatz, den wir aktuell nicht beweisen können. Jedoch haben wir durch das Ausleuchten des Kontextes diese Aussage relativiert und damit als Glaubenssatz sichtbar gemacht.

Stellen wir uns jetzt einen anderen Kontext vor: Es sind 20 Jahre vergangen, die dann 23-Jährigen verfügen zum Beispiel über Smartglasses mit eingebauter Artifical Intelligence (AI). Alle Kommunikation findet unter Verwendung der Smartglasses statt: Diese Smartglasses spielen zum Beispiel während der Kommunikation Informationen aus dem Internet ein, die zum Inhalt der Kommunikation passen. Gleichzeitig analysiert eine AI die Körpersprache, die Modalitäten der verbalen Sprache (u.a. Tonalität, Frequenz) und den Inhalt der verbalen Sprache der Gesprächspartner. Die AI liefert Informationen zur Persönlichkeit, dem Mindset und der Stimmung der Gesprächspartner und macht Vorschläge für eine resonante Kommunikation. Zusätzlich scannt die AI das gesamte soziale System und dessen Umgebung, identifiziert systemische Muster sowie bietet Vorschläge für eine gelungene Gruppen- oder Teamkommunikation an. Da alle Kommunikationspartner über diese Hilfsmittel verfügen, hat sich die Qualität der Kommunikation wahrscheinlich (?) zum Besseren verschoben. – Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass alle Gesprächspartner die technischen Hilfsmittel gleich gut beherrschen und die bereitgestellten Informationen gleich gut und verantwortungsvoll in den Gesprächsfluss einfließen lassen werden. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit werden also wahrscheinlich weiterhin ihren Platz behalten – auch ein Glaubenssatz – jedoch wird ein Training in 20 Jahren bei dem so skizzierten Kontext andere Lerninhalte haben müssen. – Das was wir heute also unter Aufmerksamkeit und Achtsamkeit verstehen wird wahrscheinlich in 20 Jahren einen anderen Inhalt haben.

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Wir stellen uns vor, dass eine Gruppe von zukünftigen Projektmanagern ausgestattet mit den geschilderten Smartglasses über die Bedeutung von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in ihrer zukünftigen Welt diskutiert. Biotechnologische Neuroimplantate sind schon am technologischen Horizont sichtbar. Die Smartglasses werden wohl zukünftig durch entsprechende Kontaktlinsen und andere Sensorik ersetzt, gleichzeitig wird die AI noch intelligenter und die Kenntnisse zu neurobiologischen Zusammenhängen hat einen gewaltigen Sprung gemacht. Zukünftig, so diskutieren die Projektmanager, wird es möglich sein, dass die von der AI erkannten Kommunikationsmuster sofort durch geeignete Neuroimplantate in entsprechendes resonantes Verhalten umgesetzt werden… Schöne, neue Welt …?

Entfallen damit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit? Wahrscheinlich nicht! Jedoch werden die Trainings völlig andere Trainingsinhalte enthalten bzw. enthalten müssen: Die AI und und die Neuroimplantate nehmen uns das Erkennen vieler Kommunikationsmuster und sogar die passende Reaktion dazu ab. Wenn wir damit aber nicht zu Robotern werden wollen, erfordert diese neue Welt eine erhebliche Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber der Interaktion von Mensch und Technik. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit werden damit (wieder) auf ein neues Niveau gehoben: Das Erkennen systemischer Muster und damit verbundenem nachhaltigem Handeln in einer Gruppen-Kommunikation verschiebt sich zu einem Erkennen systemischer Muster und entsprechendem nachthaltigen Handeln auf gesellschaftlicher Ebene. Und natürlich ist diese Skizze des Kontextes der Zukunft nur ein Szenario, aus dem sich Aussagen, verallgemeinert, nur als Glaubenssätze ableiten lassen. Wie in der 3sat scobel Sendung vom 24.05.2018 (www.3sat.de, Ethik der Algorithmen, Die Grenze zwischen Software und menschlichem Verhalten) diskutiert, wird es notwendig werden, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit um gesamt-gesellschaftliche Aspekte zu ergänzen, denn die AI bringt weitere Komplexität mit sich und damit mehr Potential aber auch mehr Gefahren für die weitere Entwicklung.

Was hat dies Alles mit Agilem Management 4.0 zu tun?

Agilität beginnt im Kopf! Mit diesem Glaubenssatz verbunden ist die Aussage, dass Aussagen immer einen Kontext benötigen. Wenn der Kontext weggelassen wird, entstehen automatisch Glaubenssätze. Diese können uns helfen Komplexität zu meistern, denn sie helfen uns komplexe Sachverhalte zu vereinfachen. Wenn die Kontextabhängigkeit jedoch völlig vergessen wird, können sie Glaubenskriege hervorrufen. Wie in unserem Beispiel geschildert, führen nicht identifizierte Glaubenssätze zu mentalen Blockaden und damit zu einem Verschwinden der Fähigkeit sich anzupassen, und damit zu einem Verschwinden von Agilität.

Made in Germany – Management am Scheideweg

Im Spiegel, Ausgabe 34/2017, wird unter dem Titel „Made in Germany“ das Desaster des Berliner Flughafen Baues BER beschrieben.

Ich kann nicht beurteilen, ob die Darstellungen der Wahrheit entsprechen, gehe aber davon aus, wenngleich dies für die nachfolgenden Betrachtungen unerheblich ist. Wir nehmen einfach mal an, dass die Beschreibung des Spiegels ein Beispiel skizziert, wie es in der Praxis sein könnte. Gleichwohl ist mir kein Beispiel aus meiner Praxis bekannte, das so konsequent Verhaltensweisen aufweist, wie sie im Falle des BER wohl aufgetreten sind. Einzelne Facetten dieser Verhaltensweisen finden sich jedoch immer wieder in Projekten.

Schauen wir uns das Beispiel des BER aus meiner Brille an.

In meiner Beratungs- und Trainingspraxis verwende ich u.a. zur Beschreibung von Management 4.0 eine Faustregel, die aus drei Faktoren besteht:

Management = Mindset * Governance * Arbeitstechnik.

Die drei Faktoren Mindset, Governance und Arbeitstechnik werden in dieser Faustregel durch Multiplikationszeichen verbunden. Die „Größe“, also Effizienz und Effektivität, von Management wird also durch das Mindset (die innere Haltung), das Setzen geeigneter Leitplanken (Governance) und durch ein oder mehrere Arbeitstechniken bestimmt. Das Mindset wird durch ein Modell, die Dilts Pyramide, beschrieben. Mit dem zentralen Modell der Dilts Pyramide lässt sich zu den einzelnen Ebenen der Dilts Pyramide unter Verwendung weiterer Modelle, die innere Haltung von einzelnen Personen, die Haltung eines Teams oder die Kultur einer Organisation oder einer ganzen Gesellschaft ziemlich gut beschreiben. Ich verweise auf das Buch „Projektmanagement am Rande Chaos“ und darin enthaltene Verweise auf weiterführende Literatur. Die Governance, also die Ausgestaltung der Führung mittels Leitplanken, in denen sich ein Team oder eine Organisation bewegen soll, hängt natürlich in seiner ausgebildeten Struktur und Dynamik von dem jeweiligen herrschenden Mindset ab. Die Leitplanken führen unmittelbar zu Vorgehensmodellen oder Handlungsrahmen, die verschiedene einzelne Arbeitstechniken bündeln.

Im Agilen Management 4.0 entspricht das Mindset einem Agilen Mindset, in dem auf der Ebene der Werte und Glaubenssätze, Werte wie Offenheit, Vertrauen, Transparenz, Fokus, Mut und Commitment zu finden sind. Als einer der zentralen Glaubensätze ist dort auch angesiedelt „Teams zeigen Hochleistung, wenn man sie zur Selbstorganisation führt“. Deshalb orientiert sich die Governance im Management 4.0 daran, eine Organisation (Team, Abteilung, Unternehmen) zur Selbstorganisation zu führen. Arbeitstechniken werden so ausgewählt, dass sie das Mindset und die Governance entsprechend unterstützen und fördern.

Im Gegensatz zum Management 4.0 wird in den Unternehmen oder der öffentlichen Verwaltung nach wie vor ein Management praktiziert, das beliebig weit von einem Management 4.0 entfernt ist. Nehmen wir auch hier wieder für das Mindset nur die Ebene der Werte und Grundannahmen, so herrschen nach wie vor Macht, Misstrauen, Intransparenz, kein Fokus (u.a. heißt dies, dass die Mitarbeiter auf vielen Hochzeiten tanzen), Angst und eine dementsprechend geringe Verbindlichkeit vor. Die Governance wird u.a. von dem Glauben beherrscht, dass Prozesse und Strukturen Sicherheit und Stabilität geben. Entsprechend sind auch die einzelnen Techniken ausgerichtet, sei es, um nur zwei Beispiele zu nennen, dass man an die Sinnhaftigkeit von „stabilen“ Projektplänen als Steuerungsinstrument von komplexen Vorhaben glaubt oder auch die von individuellen Zielvereinbarungen zur Entwicklung von Teams.

Die Umsetzbarkeit von Agilem Management wird dann oft daran gemessen, ob sich diese, in solch „aberwitzigen verbogenen“ Made-in-Germany Struktur anwenden lässt. Falls nicht, ist das Agile Management nicht praktisch. Es kommt aber selten jemand auf die Idee, die zugrundeliegende Organisation im Mindset und der damit verbundenen Governance grundsätzlich in Frage zu stellen.

Die Geschichte des BER ist, aus meiner Sicht, die Geschichte einer solch „aberwitzigen verbogenen “ Made-in-Germany Struktur.

Nach der Schilderung des Spiegels, hat das Ganze seine Wurzel in dem Mindset von Herrn Wowereit, der als politische Führungskraft vom Spiegel durch Sätze, wie folgt, charakterisiert wird:

„Ich bin der Koch, du bist der Kellner.“

„So, Freunde, ab heute gelten andere Regeln. Ich bin der, der hier bestellt – und ihr wollt uns ja sowieso nur von vorn bis hinten betrügen.“

Es ist unschwer zu erkenne, dass solch ein Mindset von Macht, Arroganz, Selbstüberschätzung, Narzissmus, Abwertung des Anderen, Misstrauen und damit der völligen Abwesenheit von Führungskompetenz gekennzeichnet ist.

Da ein solches Mindset in der direkten Kommunikation, aber auch in der bewussten wie unbewussten Ausgestaltung der Governance, verherrende Folgen haben muss, wäre eine mentale Veränderungsarbeit an der Führungskraft unabdingbar. Da diese Arbeit, wenn sie denn überhaupt von Erfolg gekrönt wäre, erst nach Jahren der Veränderungsarbeit Erfolg zeigen dürfte, bleibt in solch einem Fall lediglich das Absetzen der entsprechenden Führungskraft als alleiniges Mittel. Dies setzt natürlich voraus, dass diejenigen, die im politischen Umfeld die Verantwortung für die Besetzung tragen, den Mut haben, unbequeme Konsequenzen zu ziehen. Im vorliegenden Fall, wie aber auch in verschiedenen Beispielen der letzten Jahre der „freien“ Marktwirtschaft, sind mit solchen Fehlbesetzungen leider Milliarden Euro zu Lasten der Steuerzahler verbunden. Leider werden die Verantwortlichen selten zur Verantwortung gezogen, denn an anderer Stelle fürchtet man daraus abgeleitete Ansprüche, die dann zu weiteren Ruf- und Finanzschäden führen könnten.

Dass wenig Transparenz bezüglich der Persönlichkeitsmerkmale und der Kompetenzen der Führungskräfte besteht, zeigen die im Spiegel angeführten Besetzungen zu nachgeordneten Führungskräften im BER.

Der Spiegel schreibt u.a. zum Rollenverständnis der BER Geschäftsführer Schwarz und Körtgen: „Wie Ihnen sicherlich bekannt sein dürfte“, schreibt Schwarz, „ist mein Kollege Herr Körtgen primär für Planung und Bau BBI zuständig. …“. Dies zeigt wie neben Macht und Arroganz, Silo-Denken die nächste Führungsebene beherrscht hat bzw. evtl. noch weiter beherrscht.

Dies ist sicherlich keine ungewöhnliche Ausprägung von Werten in Führungsebenen, beginnend mit den Werten für die Herr Wowereit steht, wenngleich sie in dieser geballten Vehemenz und Kombination nicht so oft zu finden sein dürfte.

Auffallend ist auch die Auswahl von Herrn Mehdorn als Führungskraft durch die Politik und die Beschreibung seines Verhaltens:

„….. Er trommelt mit den Fingern …“ „…Leute, die mit Mehdorn gearbeitet haben, sagen ungefähr dasselbe in vielen Variationen. Dass er ein Energiebündel sei, ein Kraftpaket …“ „…Er ist ein Antreiber, der „Sprint“-Programme verkündet…“

In diesem Fall ist die Politik wohl einer mentalen Verzerrung, dem Halo-Effekt unterlegen, verbunden auch noch mit einer verzerrenden Repräsentationsheuristik (man siehe hierzu auch das Buch „Projektmanagement am Rande des Chaos“): Herr Mehdorn hat wohl, aus Sicht der Politik, schon so manches Unternehmen aus dem Sumpf geführt (was vielleicht der ein oder andere auch anders sehen mag). – Dann wird er dies auch im Falle des BER schaffen und er ist energiegeladen, das ist die beste Voraussetzung steckengebliebene Projekte wieder in Gang zu bringen. Dies zeigt, dass Projekterfahrung (keine Linienmanagement Erfahrung!) für komplexe Flughafen-Bauvorhaben und die nötige Umsicht in der Regulierung von sozialer und technischer Komplexität offensichtlich keine Rolle bei der Auswahl der Führungskraft gespielt haben können.

Aufgrund dieser Beispiele darf man sicherlich feststellen, dass das Mindset der Führungskräfte des BER von Narzissmus, Arroganz und Selbstüberschätzung, sowie einer großen Portion von Engstirnigkeit und Silo-Denken beherrscht wurde (bzw. wird?). Komplexe Vorhaben erfordern hingegen Offenheit und vernetztes systemisches Denken und Handeln, verbunden mit einer gehörigen Portion an Selbstreflexion und Demut sowie der Einsicht in eigene Kompetenzgrenzen.

Auf der Basis des geschilderten Mindset bildet sich nahezu automatisch eine gelebte Governance aus, die sich, wie der Spiegel auch schildert, durch einige zentrale Leitplanken charakterisieren lässt:

  • Die Abschaffung eines kompetenten Generalunternehmers und der damit verbundene Verlust einer Verantwortungshierarchie münden in ein „viele Köche kochen an der selben Suppe.“ – U.a. gab es wohl einen ganzen Zoo an Architektur-, Planungs- und Beratungsunternehmen.
  • Es wird im „klassischen“ Auftraggeber-Auftragnehmer Verhältnis gehandelt: Der Auftraggeber schiebt die Verantwortung „erpresserisch“ auf den Auftragnehmer. Er mischt sich in dessen Arbeit ein, und erzeugt für sich selbst keine Verbindlichkeit in den Anforderungen, fordert aber gleichzeitig Verbindlichkeit in Zeit, Budget und Qualität vom Auftragnehmer.
  • Die Komplexität der Anforderungen wird einfach „rosarot ausgeblendet“, dies führt zu einem Handeln nach „Gutsherrenart“; es werden einfach nach Gutdünken neue Anforderungen geschaffen oder Anforderungen umformuliert, je nach neuen „Erkenntnissen“.
  • Die ausführenden Unternehmen bzw. Teams verlieren den Glauben in Führung und Planung und entscheiden völlig selbständig ohne entsprechenden Gesamtüberblick über ihre Aktivitäten.

Zusammenfassend kann man sagen: Das geschildert Mindset und die daraus entstandenen Governance Leitplanken sind völlig ungeeignet ein komplexes Projekt erfolgreich zu Ende zu führen, sie führen nahezu automatisch ins „Chaos“. Jegliche Form von Arbeitstechniken, wie z.B. die Ermittlung des Projektfortschritts und der Meilensteinplanung sind wirkungslos und sind zum Scheitern verurteilt. – Dies konnten wir ja, nahezu täglich, in den öffentlichen Nachrichten der letzten Jahre recht gut mitverfolgen.

Es bleibt die vage Hoffnung, dass sich eine in zehn Jahren etablierte Projektkultur korrigieren lässt und auch mutig korrigiert wird, indem man einfach mal das Gegenteil von dem macht, was man bisher für richtig gehalten hat.

Agile Management und Digitalisierung, passt dies überhaupt zusammen?

Agile Handlungsrahmen wie Scrum und Kanban sind genau deswegen entstanden, weil man Ende des 20zigsten Jahrhunderts wieder zurück wollte zum Wesentlichen:

  • Befriedigende Arbeit,
  • Kontakt zum Kunden,
  • Weniger Technokratie und Methodenwahn,
  • Sehen und fühlen, was man innerhalb einer bestimmten Zeit erreicht hat.

Hieraus sind dann die sehr haptischen Werkzeuge wie das Task Board oder andere kleine Werkzeuge entstanden, die Teammitglieder in realen Präsenztreffen interaktiv und gemeinsam anwenden.

Digitalisierung bringt oftmals das Gegenteil mit sich, nämlich Virtualität im Leben und in der Kommunikation (u.a. virtuelle Teams), hervorgerufen durch die Verwendung digitaler Werkzeuge.

Digitalisierung ist ein ganz klarer Komplexitätstreiber; sie erzeugt einerseits neue Verbindungen (u.a. über Social Media), bringt teilweise Vorgänge ans Licht, die vorher nicht sichtbar waren (u.a. Big Data Auswertungen), andererseits versteckt sie Vorgänge und erlaubt Aktivitäten, die man vorher überhaupt nicht kannte oder so nicht kannte (u.a. elektronische Wahlhelfer). Wie mein Sohn Yannick Oswald an anderer Stelle ausgeführt (yannickoswald.de), entstehen Netzwerke, deren Charakteristiken man prinzipiell zwar schon kannte, die heute jedoch einen weltumspannenden Charakter und damit auch eine neue Qualität haben

Agiles Management wurde als Antwort auf eine zunehmend komplexere Welt gegeben. Man siehe hierzu unser Buch „Projektmanagement am Rande des Chaos“ und das in der Veröffentlichung befindliche Buch „Management 4.0 – Handbook for Agile Practices“ der GPM Fachgruppe Agile Management. – Hierbei kommen u.a. folgende zwei zentrale Prinzipien zum Einsatz: Abschotten von wertvernichtender Komplexität und Ausbildung wertschöpfender Komplexität über Selbstorganisation in einem Team, deren Teammitglieder sich „anfassen“ können.

Es stellt sich also einerseits die Frage, muss Agiles Management anders aussehen, wenn Komplexität zunehmend durch Digitalisierung getrieben wird und wenn ja, wie. – Und andererseits, wie kann Digitalisierung möglichst viel wertschaffende und möglichst wenig wertvernichtende Komplexität erzeugen. Welche Formen von Digitalisierung erzeugen oder unterstützen Selbstorganisation? Und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Führung?

Digitalisierung ist meines Erachtens (mindestens) durch folgende Hauptbereiche gekennzeichnet:

  • Automatisierung der industriellen Wertschöpfung, dies läuft derzeit (im engeren Sinn) unter dem Schlagwort Industrie 4.0, also Anreicherung der industriellen Wertschöpfung mit digitalen Werkzeugen (u.a. Roboter) und deren Vernetzung. – Die IT-Arbeitswelt (Software, Hardware) gehört (unter diesem Blickwinkel) seit jeher zur digitalen Arbeitswelt. Die bisherigen nicht-IT getriebenen Bereiche der industriellen Wertschöpfung werden diesen Umbruch am stärksten spüren. Evtl. gilt dies auch für das (Projekt) Management. – Mir sind hierzu noch kaum Aussagen zu den Auswirkungen bekannt, sieht man einmal davon ab, dass Führungskräfte sich mit digital natives „auseinandersetzen müssen“.
  • Anreicherung von Produkten um smarte Eigenschaften (u.a. das Bett, das einem beim gesunden Schlafen hilft, der Kühlschrank, der sich selbständig füllt): Hierbei werden die Produkte mit digitalen Eigenschaften angereichert und mit dem Internet verbunden. In Konsequenz sind alle so mit dem Internet verbundenen Produkte auch prinzipiell über das Internet zugänglich. Hieraus entstehen neu Möglichkeiten und Gefahren. Das Auto, das über ein WLAN verfügt und sich bei Problemen selbständig mit der Werkstatt verbindet aber auch jederzeit lokalisierbar ist oder das smarte Haus, das in seinen verschiedenen Funktionen über Internet steuerbar ist und damit auch „angreifbar“ wird.
  • Neue digitale Produkte, hierzu zähle ich auch autonom fahrende Autos und die iWatch von Apple, aber auch neue Produkte wie Drohnen für den „Hausgebrauch“, smarte Medizintechnik, die uns ständig „überwacht“, aber auch diverse Apps, die unsere sozialen Aktivitäten einem social feedback zugänglich machen (z.B. die App, die unsere Kontakte im Dialog aufnimmt und ggf. analysiert, und anderes mehr, man siehe u.a. www.humanyze.com). Hier ist der Übergang zu der vorherigen Kategorie sicherlich fließend. Verbunden werden diese beiden Kategorien auch durch sogenannte „disruptive“ Innovationen. Agiles Management selbst kann man als disruptive soziale Innovation (Social Technology) bezeichnen.- Denn mit weniger Ressourcen (Prozessen, Strukturen, Werkzeugen) werden qualitativ und quantitatv bessere Ergebnisse erzeugt, das Hauptkennzeichen disruptiver Innovationen. Oder, vielleicht ein ähnlich (unbekanntes) Beispiel für eine Disruption; das Internet hat auch im Bereich der Telefonie zu einer Disruption geführt: Denn zukünftig werden sicherlich alle Telefonkommunikationen auf IP-Technologie umgestellt sein, damit verschwinden altbekannte Telefon-Technologien vollständig. Da die IP-Technologie in allen Bereichen digitaler Kommunikation eingesetzt wird, entfallen frühere Telefonietechnologien und die gleichen Ressourcen können zu geringeren Kosten mehrfach genutzt werden.
  • Die letzte Kategorie baut in einem gewissen Maße auf den vorherigen Kategorien auf, denn sie ist nur möglich, wenn viele Personen oder (stellvertretend) digitale Produkte über das Internet Daten bewusst oder unbewusst eingeben und austauschen sowie diese Daten anderweitig als Information verarbeitet werden und zu Wissen werden. Dies ist die Kategorie „Big Data“. Sie ist für uns durch die sozialen Netzwerke und Plattformen à la Amazon, Google, Facebook usw. sichtbar. Sichtbar heißt in diesem Fall, dass wir lediglich die Spitze des Eisbergs sehen, jedoch keineswegs seinen gesamten Umfang.

Schauen wir uns die letzte Kategorie etwas genauer an:

Einher mit der Technisierung (d.h. den digitalen Schaltungen) der Digitalisierung geht die zunehmende algorithmische Modellbildung oder Mathematisierung, die vereinfacht und schlagwortartig oft unter dem Begriff der Artifical Intelligence zusammengefasst wird. Dies betrifft nahezu alle Bereiche der Digitalisierung. Cathy O’Neill hat sehr engagiert und eindrucksvoll die schon heute vorhandenen Konsequenzen für die amerikanische Gesellschaft aufgezeigt (Cathy O’Neil, Weapons of Math Destruction, How Big Data Increases Inequality and threatens Democracy, Penguin Random House, UK 2016, https://www.amazon.de/Weapons-Math-Destruction-Increases-Inequality/dp/0241296811/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1488042721&sr=8-1&keywords=weapons+of+math+destruction). Hiernach werden inzwischen alle Bereiche von der Mathematisierung durchzogen, teilweise mit katastrophalen gesellschaftlichen Folgen: Modelle unterscheiden zwischen Arm und Reich und vergeben auf dieser Basis fragwürdige Kredite, Modelle entscheiden über bildungsarm und bildungsnah und entscheiden auf dieser Basis auf welcher Universität man eine Chance hat bzw. wie sich der Studentenkredit zu Ungunsten der Studenten vergeben lässt. Diese Modelle sind keineswegs besonders kompliziert, sie entziehen sich aber, dadurch, dass sie intransparent arbeiten, der Nachvollziehbarkeit oder gar Beeinflussbarkeit.

In Deutschland sieht Yvonne Hofstetter (https://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_noss_2?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&url=search-alias%3Daps&field-keywords=Yvonne+Hofstetter) gar die Demokratie in Gefahr; und dieser Gedanke ist gar nicht so abwegig. Denn diese Daten- und Modell-Intransparenz erzeugt auch intransparente gesellschaftliche Prozesse und Strukturen, die sich jeglicher Kontrolle entziehen und damit wird ein wesentliches Tor für populistische oder diktatorische Aktivitäten geöffnet.

Christoph Kucklick sieht diese Gefahren für Gerechtigkeit und Demokratie ebenfalls, und setzt in seinem Buch „Die Granulare Gesellschaft“ (https://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_ss_c_1_10?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&url=search-alias%3Daps&field-keywords=granulare+gesellschaft&sprefix=Granulare+%2Caps%2C555&crid=3O2EVTGRPH4QA) ein anderen, aus meiner Sicht noch fundamentaleren, Schwerpunkt: Er skizziert wie die zunehmende Feinkörnigkeit (also die „feine“ Granularität) von Information unser Leben verändern wird. Er spricht nicht mehr nur von Individualität, sondern von Singularität. Die Feinkörnigkeit der Daten ist inzwischen teilweise so hoch, dass man Menschen, ohne dass man ihre Personalausweisdaten kennt, eindeutig identifizieren kann, Z.B. aus den Bewegungsmustern gesammelt über das Smartphone; aus den Likes und Texten, über die heute mit hoher Wahrscheinlichkeit die Big Five Persönlichkeitspräferenzen einer Person ermittelt werden können; oder aus spezifischen Daten zum Gesundheitszustand oder direkt zu genetischen Informationen. In diversen Krimi’s wird einem heute diese Granularität vor Augen geführt, in dem der Täter über das Sammeln von Daten eindeutig identifiziert wird.

Wohingegen O’Neill die heutigen Unzulänglichkeiten der Modelle (zu grob, zu pauschal) skizziert, skizziert Kucklick (und auch Hofstetter) deren Abbildungs-Mächtigkeit und die hieraus entstehenden Gefahren: Modelle, die smarter sind als wir selbst, haben alle Mittel an der Hand, uns zu manipulieren.

Kucklick weist auf die Bedeutung der mathematischen Modelle und deren Anwendung im großen Stil (Big Data) im Zusammenhang mit dem Wahlkampf von Obama hin. Hiernach flossen 100 Mio. $ in die Analyse und strategisch-taktische Anwendung von Daten zur Gewinnung von potentiellen Wählern.

Wie man auf https://www.dasmagazin.ch/2016/12/03/ich-habe-nur-gezeigt-dass-es-die-bombe-gibt/ nachlesen kann ist Trump noch einen Schritt weiter gegangen, vielleicht nicht was die Menge an aufgewendetem Geld anbetrifft, aber soweit man diesem Bericht vertrauen kann, was die Intelligenz der Modelle und deren Anwendung anbetrifft.

Ein Modell, das verwendet wurde, ist das Persönlichkeitsprofil NEO-PI-R (kurz Big Five, https://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_ss_rsis_1_6?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&url=search-alias%3Daps&field-keywords=f%C3%BChren+mit+dem+big-five-pers%C3%B6nlichkeitsmodell&sprefix=f%C3%BChren%2Caps%2C170).

Eine leicht abgespeckte Version dieses Modells (der MBTI) wird von mir in meinen Trainings zur Teamentwicklung und zur Agilen Führung eingesetzt. Es stammt aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts (!) – Also nichts Neues, so könnte man denken.

Youyou et al. (Youyou et al. (2015) Computer-based personality judgements are more accurate than those made by humans, In Proceeding of the National Academy of Sciences of the United States of America) haben das Modell genommen und aus Facebook-Like-Daten auf die Persönlichkeit der klickenden Personen geschlossen.

Die nachfolgende Abbildung zeigt ihr Ergebnis: Das verwendete Modell ist genauso gut in der Vorhersage (Computer’ Average Accuracy (0,56)) wie das mentale Modell des Partners der klickenden Personen (Spouse (0,58)). – Und das, nach relativ wenigen Klicks (ca. 300).

Persönlichkeit und Digitalisierung
Youyou et al. (2015)

Trump hat über eine englische Firma (Cambridge Analytica, https://www.youtube.com/results?search_query=cambridge+analytica) etwas Ähnliches gemacht. Er hat Persönlichkeitsprofile von Wählern ermittelt und seine Wahlhelfer über eine App mit diesen Informationen ausgestattet, um sie entsprechend ihrer Persönlichkeit gezielt anzusprechen. – Zusätzlich wurden hunderttausende Emails individuell auf die jeweilige Persönlichkeit zugeschnitten und mit unterschiedlichen Informationen oder Informationsdarstellungen verschickt.

Und hier ist der Bezug zur Gefahr für die Demokratie wieder gegeben.- Denn die Tendenz zur Manipulation ist nicht nur nicht da, sondern die Manipulation hat schon gewirkt.

Wie ich schon sagte, verwende ich solche Modelle (Sozial Techniken) in meinen Trainings. Hier jedoch aus der Kenntnis, dass ich keine Big Data Anwendungen damit füttere und dass Modelle sehr hilfreich sind, damit wir intuitiver werden (man siehe hierzu auch die Ausführungen in dem Buch „PM am Rande des Chaos“). Denn mit der Anwendung solcher Modelle trainieren wir unsere eigenen Fähigkeiten zur Mustererkennung und verbessern so deutlich unsere damit verbundene Intuition. Die obige Abbildung enthält noch eine weitere erschreckende Information: Unsere Genauigkeit bei der Einschätzung von Personen, die wir nicht so gut kennen (also zum Beispiel am Arbeitsplatz) ist lausig (Work Colleague (0,27)). Dies entspricht meiner Erfahrung in den Trainings; wobei erschwerend hinzukommt, dass die Trainierten einen nicht unerheblichen blinden Fleck diesbezüglich haben. Sie kennen ihre Unkenntnis gar nicht und wehren sich teilweise gegen ein entsprechendes Lernen. Man kann sich leicht vorstellen, wie „unterentwickelt“ die bilaterale Kommunikation ist, aber auch die Einschätzung zur Erkennung von systemischen kommunikativen Mustern in sozialen Netzwerken (z.B. einem Stakeholdernetzwerk). Auf dieser Basis ist effektives Stakeholdermanagement, eine Kernkompetenz im klassischen Management wie im Management 4.0, nahezu unmöglich.

Ich erwähne hier noch ergänzend die Services, die im Internet rund um das IBM Artificial Intelligence-System Watson angeboten werden. Einer dieser Services ist die Analyse von Texten aus dem die Big Five Präferenzen des Autors abgeleitet werden: https://personality-insights-livedemo.mybluemix.net/. Ohne das genaue mathematische Modelle zu kennen, das Watson hier verwendet, so ist jedoch der Zusammenhang zwischen Sprache und Persönlichkeit schon recht lange bekannt und wird in Modellen wie den Meta-Programmen, einem wesentlichen Element der NLP-Basis, schon seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts angewendet.

Agiles Management hat, aus dem Blickwinkel der Digitalisierung betrachtet, folgende Aufgaben (man siehe hierzu auch das in der Veröffentlichung befindliche Buch der GPM Fachgruppe Agile Management „Management 4.0 – Handbook for Agile Practices“):

Eine Umgebung für Mitarbeiter zu schaffen,

die disruptives Denken fördert und damit disruptive Innovationen möglich macht. Agile Führung muss zu

  • Offenheit anregen,
  • Komplexität regulieren und Selbstorganisation gestalten,
  • Selbstreflexion und Lernen unterstützen (Entwicklung von Meta-Kompetenz und Intuition für komplexe Systeme).

die diese befähigt, digitale Technologie und mathematische Modelle zusammenzubringen,
die diese befähigt, die systemischen (Netzwerk-) Muster einer feingranularen Gesellschaft zu verstehen, um die Gefahren und Chancen der Digitalisierung zu begreifen.

Wie in dem o.g. Handbuch geschildert, sind die Anforderungen an eine Agile Führung schon sehr hoch, im Zeichen der Digitalisierung werden diese noch höher und schärfer. Das „Kommunizieren auf Augenhöhe“ bekommt nämlich jetzt eine völlig neue Ausrichtung. Das Randthema IT-Technologie wird nämlich mit der Digitalisierung zum dominanten Hauptthema und Führungskräfte sind gezwungen ihre Augenhöhe an diejenige der digital natives anzuheben

X-Evolution: Referenzmodell für Agile Organisationen 4.0

Agile Organisationsformen haben Hochkonjunktur. Handlungsrahmen wie Scrum, Kanban, Critical Chain, SAFe, LESS, Holacracy sind Zeichen dieser Hochkonjunktur.

Scrum zeichnet sich durch einen minimalen Handlungsrahmen aus, SAFe als Scrum of Scrum für die Entwicklung von IT-Produkt-Portfolios gedacht, stößt in seiner Kompliziertheit schon in diejenige „klassischer“ Vorgehensmodell vor.

Falls man sich nicht mit einem Zoo an verschiedenen Organisationsformen zufrieden geben will, deren Bedeutung sich für die Evolution sozialer Organisationsformen im Laufe der nächsten Jahre oder Jahrzehnte herausstellen wird, dann stellt sich die Frage „Was ist an all diesen verschiedenen Prozessen, Rollen und Strukturen wesentlich und wofür?“ Oder anders gefragt: „Enthalten diese verschiedenen Organisationsformen überhaupt die für das Überleben einer Organisation wichtigsten Systemelemente?“

Um diese Fragen zu beantworten, schlage ich vor, ein Referenzmodell für die Architektur Agiler und Fluider Organisationen zu entwickeln. Denn Agile und Fluide Organisationsarchitekturen haben den Anspruch die organisationale Lebensfähigkeit deutlich zu steigern. Hierzu nehmen sie die Komplexität der Welt an und versuchen diese nicht durch eine „gedankenlosen“ Linearisierung von Komplexität zu Kompliziertheit zu meistern. – Denn das einfache Anwenden von Handlungsrahmen als Methoden entspricht dem „klassischen“ Denkansatz.

Ich gebe diesem Referenzmodell für die Architektur Agiler und Fluider Organisationen den Namen „X-Evolution“. X-Evolution kann auf eine beliebige bestehende Organisation „X“ angewendet werden. Die Assoziation zu der Filmserie „X-Men“ ist gewollt und verdeutlicht, dass dort wie hier eine Veränderung der Informationssubstanz „DNA“ zu völlig neuen Eigenschaften führt.

X-Evolution stellt eine organisationale Referenz, einen Rahmen, dar, der die wesentlichen Elemente Agiler und Fluider Organisation transparent macht und damit die Möglichkeit zur praktischen Ausgestaltung für eine Organisation offen lässt. Gleichzeitig eröffnet sich damit die Möglichkeit, bekannte am Markt verfügbare agile Handlungsrahmen wie Scrum, Kanban oder Critical Chain PM zu beleuchten, indem wesentliche Elemente von unwesentlichen Elementen getrennt werden, oder sogar Unsinnigkeiten in den Handlungsrahmen aufgedeckt werden. Des weiteren können auf dieser Basis hybride Organisationsformen gestaltet werden, die verschiedene Handlungsrahmen oder auch nur Elemente verschiedener Handlungsrahmen mischen, um so der Vielfalt an organisationalen Anforderungen besser gerecht zu werden.

Die folgenden Gedanken sind bei weitem nicht vollständigen, skizzieren jedoch meines Erachtens zentrale Gedanken zum Referenzmodell:

X-Evolution basiert ganz wesentlich auf der Grundannahme, dass Selbstorganisation ein universelles Prinzip ist, dem sowohl natürliche, soziale als auch technische Systeme unterliegen. Damit tritt Selbstorganisation gleichwertig neben das Prinzip der Evolution und ergänzt dieses. Dieser Grundgedanke ist insbesondere mit Namen wie Stafford Beer, Gregory Bateson,  Erich Jantsch, Ervin Laszlo und Hermann Haken verbunden.  Diese Grundannahme ist auch die Basis der in den Büchern „Projektmanagement am Rande des Chaos“ von Alfred Oswald et al. sowie „Management 4.0 – Handbook for Agile Practices“ der GPM Fachgruppe Agile Management (dieses Buch befindet sich gerade in der Veröffentlichung) beschriebenen Konzepten für Organisation und Management, auf denen ich hier aufbaue.

Wir verstehen unter einer Organisation eine Gruppe von Menschen, die unter Verwendung gemeinsamer Ressourcen einen gemeinsamen Zweck verfolgen. Eine Organisationsarchitektur beschreibt die wesentlichen Prinzipien der Zusammenarbeit dieser Menschen und wird durch die wesentlichen Elemente des organisationalen Mindsets modelliert (man siehe hierzu die o.g. Literatur).

X-Evolution basiert auf folgenden Grundannahmen (für eine detaillierte Darstellung dieser Grundannahmen verweise ich auf die obige Literatur):

  • Evolution und Selbstorganisation sind die zentralen Prinzipien natürlicher, sozialer und technischer Systeme.
  • Das Referenzmodell selbst unterliegt der Evolution, d.h. alle Prinzipien und deren Ausgestaltung sind nur als „vorläufig“ zu betrachten und unterliegen dem Lernen. X-Evolution sorgt für ein Lernen auf der Bateson-Lernstufe III und IV.
  • Die Agile oder Fluide Organisation ist ein System, bestehend aus Systemen von Systemen, und basiert auf Selbstorganisation auf allen System-Ebenen. Die System-Ebenen sind: Mensch, Team oder Zelle, Cluster (Gruppe von Zellen), Organisation (Gruppe von Clustern) sowie Netzwerk von Organisationen. X-Evolution kann unterschiedliche agile Handlungsrahmen wie Scrum, Kanban, Critical Chain Projektmanagement, Design Thinking, Collective Mind Methode, Theorie U, SAFe, LESS, usw. aufnehmen und integrieren.
  • Management heißt hier das Arbeiten an der Organisation mittels Governance. Governance bedeutet einen minimalen Satz von System-Parameter für alle System-Ebenen so einzustellen und abzustimmen, dass sich Selbstorganisation auf allen Ebenen ausbilden kann. Dieser minimale Satz an System-Parametern (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) unterliegt der evolutionären Ausgestaltung.
  • Die Mindsets von Personen, Zellen, Clustern, Organisationen sowie Netzwerken werden mittels der Dilts Pyramide beschrieben und werden über die Organisationssysteme 1-5 des Viable System Modells in Strukturen und Rollen abgebildet. Jede Zelle, Cluster, Organisation und Netzwerk benötigt eine entsprechende Modellierung, die idealerweise gemäß den Prinzipien der Selbstorganisation vollständig in dem jeweiligen Teilsystem enthalten ist.
  • Die Perspektiven Agilität (also Flexibilität und Schnelligkeit) und  systemische Sicht gehören untrennbar zusammen, sie erzeugen zusammen Lernen und sichern damit die Überlebensfähigkeit des Systems.

Die zentralen Prozess-Elemente der Agilen und Fluiden Organisation sind:

Jeder Mensch verfügt über verschiedene kontextspezifische Mindsets und nimmt mit diesen Mindsets verschiedene Rollen ein. Diese Rollen können zu einer Zelle (einem Kontext) oder zu verschiedenen Zellen (verschiedenen Kontexten) gehören. Der Mensch „haucht“ den Rollen über sein Rollen-spezifisches Mindset Leben ein. Hierbei ist zu beachten, dass die Rollen, die ein Mensch einnimmt, seine persönliche Fähigkeit zur Selbstorganisation nicht einschränken dürfen.

Eine Zelle ist ein System mit einem organisationalen Mindset, d.h. Vision, Mission, Identität (Zweck), Zugehörigkeit, Werte und Glaubenssätze, Fähigkeit  (Methoden, Werkzeuge, Handlungsrahmen), Verhalten (Prozesse) und Kontext. Im Handlungsrahmen sind operative Prozesse und operative Rollen definiert. Die Rollen werden von Menschen „ausgeführt“. Das Mindset wird im Rahmen von Governance-Prozessen an den Zweck der Zelle und deren Umgebung angepasst. Die Governance-Prozesse obliegen (im wesentlichen) dem System selbst. – Die Selbstbestimmung von Governance-Prozessen in den Zellen ist ein zentrales Element der Selbstorganisation und ergänzt damit wesentlich die operativen Prozesse. Die Umgebung und das System kommunizieren über definierte Schnittstellen miteinander. Diese Schnittstellen sorgen für eine integrale Einpassung des Systems (und seines Mindsets) in das übergeordnete System (und dessen Mindset).

Ein Cluster besteht aus verschiedenen Zellen, die einen gemeinsamen Zweck und einen Cluster-Handlungsrahmen haben. Diese Zellen können permanent oder temporär zur Organisation gehören. Bei Bedarf werden Zellen auf- und abgebaut. – In diesem Fall sprechen wir von fluiden Organisationen. Die verschieden organisationalen Mindsets der Zellen zeigen eine „hohe Verwandtschaft“ (hohe Kopplung). Dementsprechend bedarf der Cluster Cluster-Governance-Prozessen, die die „hohe Verwandtschaft“ der Mindsets der Zellen immer wieder herbeiführen und für den Auf- und Abbau der Zellen sorgen.  Die Umgebung und das System kommunizieren über definierte Schnittstellen miteinander. Diese Schnittstellen sorgen für eine integrale Einpassung des Clusters (und seines Mindset) in die übergeordnete Organisation (und deren Mindset).

Eine Organisation besteht aus verschiedenen Clustern, die einen gemeinsamen Zweck und einen gemeinsamen Organisations-Handlungsrahmen haben. Diese Cluster können permanent oder temporär zur Organisation gehören. Bei Bedarf werden Cluster auf- und abgebaut. Die verschiedenen organisationalen Mindsets der Cluster zeigen eine „mittlere Verwandtschaft“ (mittlere Kopplung). Dementsprechend bedarf die Organisation Organisations-Governance-Prozessen, die die „mittlere Verwandtschaft“ der Mindsets der Cluster immer wieder herbeiführen. Die Umgebung und die Organisation kommunizieren über definierte Schnittstellen miteinander. Diese Schnittstellen sorgen für eine integrale Einpassung der Organisation (und ihres Mindsets) in das übergeordnete System (und dessen Mindsets).

Ein Netzwerk von Organisationen besteht aus verschiedenen Organisationen, die temporär einen gemeinsamen Zweck und einen gemeinsamen Netzwerk-Handlungsrahmen haben. Die Organisationen gehören temporär zum Netzwerk. (Die Zeitskalen der Zugehörigkeit sind unterschiedlich und sind kürzer als die Lebensdauer des Netzwerkes selbst.)   Die verschiedenen organisationalen Mindsets der Organisationen zeigen eine „geringe Verwandtschaft“ (geringe Kopplung). Dementsprechend bedarf das Netzwerk Netzwerk-Governance-Prozessen, die die „geringe Verwandtschaft“ der Mindsets der Organisationen immer wieder herbeiführen. Die Organisationen kommunizieren über definierte Schnittstellen im Netzwerk miteinander. Diese Schnittstellen sorgen für eine gewisse integrale Einpassung der Organisationen (und deren Mindsets) in das übergeordnete Netzwerk-System (und dessen Mindset).

Auf dieser Basis lassen sich bestehende Managementsysteme betrachten:

Beispiel: Scrum of Scrum Organisation

Bei einer Scrum of Scrum Organisation sind die Zellen als Scrum-Teams organisiert. Der Handlungsrahmen einer Zelle ist ein Scrum-Handlungsrahmen mit den Rollen Product-Owner, Scrum-Master und Development Teammitglied. Der Product Owner (und ggf. der Scrum Master) stellt die Schnittstelle zu einem übergeordneten Cluster dar. Die Ausrichtung auf den Zweck des übergeordneten Clusters erfolgt durch den Produkt-Owner. Dieser vertritt (ggf. mit dem Scrum-Master) die Zelle in einem Cluster, der aus mehreren Scrum-Zellen besteht. Der Handlungsrahmen des Clusters ist wieder ein Scrum-Handlungsrahmen. Eine Organisation besteht dann ggf. aus mehreren Cluster-Ebenen. Eine solche Organisation kann z.B. für die Erstellung komplexer Produkte oder Vorhaben verwendet werden. Explizite Governance-Prozesse gibt es hierbei nicht. Die Retrospektiven im Scrum-Handlungsrahmen dienen in erster Linie der Verbesserung der operativen Abläufe, wenngleich auch in einem eingeschränkten Rahmen Governance-Aktivitäten durchgeführt werden. Ein „Infragestellen“ des Scrum-Handlungsrahmens selbst oder die explizite Anpassung von Mindsets ist nicht vorgesehen. Die Frameworks SAFe und LESS sind Spielarten dieser Organisationsform.

Beispiel: Multi-Projektmanagement Organisation

Eine Multi-Projektmanagement besteht aus den Zellen, den Projekten, die sich eine Menge von Ressourcen teilen. Die Projekte können nach Bedarf zu Clustern oder Clustern von Clustern zusammengefasst werden. Der Projektleiter vertritt das Projekt (die Zelle) im Cluster. Daneben gibt es Programm- und Portfoliomanager. Im „klassischen“ Multi-Projektmanagement spricht man von den Ebenen Programm und Portfolio, die eine hierarchische Systemstruktur definieren. Die Form der Projektorganisation oder die eingesetzten Methoden obliegen sehr oft dem Projektbedarf bzw. den „Einsichten“ des Projektleiters bzw. seines Teams. Projektorganisation und Methoden können innerhalb eines Clusters oder eines Clusters von Clustern gewissen Vorgaben unterliegen. Sei es, dass die Vorgaben durch das Portfolio- oder Programmmanagement erfolgt oder ein sogenanntes Project Management Office (PMO) Vorgaben in Form von Leitplanken (Governance) macht.  In einigen Fällen übernimmt das PMO auch die strategische inhaltliche Ausrichtung aller Projekte über ein Multi-Projektmanagement Board. Die Governance und die strategische Führung obliegt dann nicht den einzelnen Projekten, sondern wird durch das PMO, das als zentrales Organisationsorgan wirkt, durchgeführt.

Die so definierte MPM-Organisation entspricht damit nicht oder nur teilweise den o.g. Leitplanken für den Aufbau eines X-Evolution Systems. Die Critical Chain Projektmanagement Methode trägt dieser Tatsache Rechnung und führt für eine projektorientierte Organisation Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter ein. Damit gibt sie eine Form der Governance vor, die Selbstorganisation auf der Cluster-Ebene (Projekt-Ebene) ermöglich. Damit werden Unzulänglichkeiten der geschilderten MPM Organisation geheilt (man siehe auch die oben angeführte Literatur). Damit wird jedoch noch keinen Lernen auf den Bateson Lernstufen III und IV unterstützt.

Beispiel: Holacracy

Holacracy ist ein System, das sich nach eigenen Aussagen stark an dem Prinzip der Selbstorganisation ausrichtet (wobei tendenziell eher Selbstmanagement gemeint ist):

Holacracy kennt eine hierarchische Organisation der Teilsysteme: Zelle (Circle), Cluster (Circle of Circle) und Organisation (Gesamtorganisation/Unternehmen)

Jedes Teilsystem verfügt über Governance-Prozesse und Operative Prozesse, die durch zwei unterschiedliche Formen von Meetings unterstützt werden. Für diese beiden Formen von Meetings gibt es klar definierte formale Prozesse und Rollen.

Jedes Teilsystem kennt folgende Rollen: Rep-Link (Schnittstelle nach Außen), Lead-Link (Schnittstelle in das Teilsystem), Facilitator, Secretary und ggf. einen horizontalen Link zwischen Teilsystemen gleicher Hierarchieebene. Der menschliche Repräsentant des Lead-Links wird von der höheren Ebene vorgegeben, der wiederum die menschlichen Repräsentanten der anderen Links bestimmt.

Die Rollen werden durch die Menschen repräsentiert, die Menschen kommunizieren (nur) über diese Rollen.

Lead-Link und Rep-Link repräsentieren das Teilsystem auf der nächst-höheren Systemstufe.

Die initiale Governance-Ausprägung wird am Anfang von oben nach unten „durchgereicht“, entwickelt sich danach jedoch im Einklang mit den Vorgaben der höheren Systemebene im Selbstmanagement des jeweiligen Teilsystems. Die Governance jedes Teilsystems wird in entsprechenden Artefakten vom Secretary festgehalten und steht jedem Mitglied der gesamten Organisation jeder Zeit zur Verfügung.

Holacracy kennt die Idee einer organisationalen App, die auf dem organisationalen Betriebssystem „Holacracy“ läuft. Apps sind z.B. Marketing, Service, Vertrieb. Die Integration anderer agiler Handlungsrahmen ist (wohl) nicht vorgesehen. Ein Hinterfragen der Basisorganisation von Holacracy selbst ist ebenfalls nicht vorgesehen.

Gleichwohl ist Holacracy am weitesten der Selbstorganisation verpflichtet, in dem nicht nur das Selbstmanagement in operativen Prozessen vorgesehen ist, sondern über die Selbstorganisation der Governance die Tür zur Gestaltung von Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter weit geöffnet wird.

Aus den obigen Ausführung und ohne hier schon ein abschließendes Ergebnis vorlegen zu können,  ergeben sich damit folgende Meta-Kriterien für die Architektur von Agilen und Fluiden Organisationen:

  • Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter
  • Governance-Prozesse
  • Lernen auf den höheren Lernstufen nach Bateson
  • Ausgestaltung der Kopplung der selbstorganisierten Systemebenen mittels starker, mittlerer, schwacher Kopplung via Dilts Pyramide, ggf. Beachtung unterschiedlicher Zeitskalen auf verschiedenen Systemebenen
  • Einhaltung der Viable System Model Funktionshierarchie