Karl Marx und die Theorie der Selbstorganisation

Anlässlich seines 200-Jährigen Geburtstages am 05.05.2018 habe ich mich daran erinnert, dass ich vor langer Zeit ein großer Fan von Marx und seinem Kapital [1] war. Nicht weil mich der Marxismus und Kommunismus damals wie heute besonders angesprochen hat, sondern weil mich die Scharfsinnigkeit seiner Gedanken faszinierte sowie die erfrischende Verbindung von Theorie und Praxis.

Einige Jahre später faszinierte mich, auf vielleicht noch größere Weise, die Theorie der Selbstorganisation. Die Selbstorganisation ist, soweit wir dies heute wissen, ein universelles Prinzip und beschreibt sogenannte emergente Phänomene, die auf dem kollektiven komplexen Verhalten von vielen Objekten bestehen. – So versucht die Theorie der sozialen Selbstorganisation die Ausbildung von gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen (Makro-Ebene) auf der Basis des Verhaltens von Menschen (Mikro-Ebene) zu beschreiben.  Die Theorie der Selbstorganisation, insbesondere die Synergetik [2], ist heute ein wesentlicher Bestandteile meiner Arbeit und ein wesentlicher Teil der Collective Mind – und Management 4.0 – Theorie und Praxis [3], [4], [5].

Ich verweise auch auf die sehr gelungene Zusammenstellung der verschiedenen Theorieschulen der Ökonomie, die alle sehr unterschiedlich mit der Gestaltung von Makro- und Mikro-Ebene umgehen: https://www.exploring-economics.org/de/orientieren/#discover. Exploring Economics plädiert für eine Vielfalt in den Betrachtungsweisen, der ich mich sehr gerne anschließe. Ich glaube zusätzlich, dass das Denken in „Schulen“ überwunden werden müsste, hin zu einer integrativen Betrachtungsweise, in der sich die verschiedenen Perspektiven als Grenzfälle ergeben, je nachdem worauf der Fokus gelegt wird: Derzeit ist es allerdings so, dass es z.B. zwischen der  Schule „Evolutionsökonomie“, der Schule „Komplexitätsökonomie“ und der Schule „Marxistische Politische Ökonomie“ wenig Integratives gibt. – Falls die Prinzipien der Selbstorganisation tatsächlich universell sind, so müssten sie in der Lage sein, diese Integration zu leisten.

In den Trainings zu Management 4.0 skizziere ich immer mal wieder den Zusammenhang zwischen Selbstorganisation und gesellschaftlichen Entwicklungen (Flüchtlingsthema, Brexit, AfD, Trump, die Ausbildung exponentieller Organisationen wie Facebook und Google sowie die soziale Selbstorganisation mittels digitaler Netzwerke) – Man siehe hierzu auch die Ausführungen von Ebeling und Feistel in der Zeitschrift der Leibniz-Sozietät [6].

Dies Alles brachte mich auf die Idee, mir die Theorie von Marx unter dem Blickwinkel der Selbstorganisation anzusehen. – Zumal ich vor kurzem das überaus beeindruckende Buch von Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ [7] gelesen habe und beim Lesen sich der Gedanke aufdrängte, dass Piketty mit „big data“ den Wirkmechanismen der ökonomischen und damit der gesellschaftlichen Selbstorganisation der letzten 300 Jahre auf den Grund gegangen ist.

Piketti schreibt am Ende seines Buches [7]:

„Die allgemeine Lehre, die sich aus den untersuchten Daten ziehen lässt, ist die, dass die Dynamik einer auf Privateigentum beruhenden Marktwirtschaft, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, machtvolle Konvergenzkräfte freisetzt, die namentlich in der Verbreitung von Kenntnissen und Fähigkeiten liegen, aber auch machtvolle Divergenzkräfte, die unsere demokratischen Gesellschaften und jene soziale Gerechtigkeit bedrohen, die zu ihren Legitimationsgrundlagen zählt. Die mächtigste destabilisierende Kraft liegt in der Tatsache, dass die private Kapitalrendite r dauerhaft sehr viel höher sein kann als die Wachstumsrate des Einkommens und der Produktion g. Die Ungleichung r > g sorgt dafür, dass Vermögen, die aus der Vergangenheit stammen, sich schneller rekapitalisieren, als Produktion und Löhne wachsen. In dieser Ungleichheit spricht sich ein fundamentaler Widerspruch aus. Je stärker sie ausfällt, umso mehr droht der Unternehmer sich in einen Rentier zu verwandeln und Macht über diejenigen zu gewinnen, die nichts als ihre Arbeit besitzen. Wenn es einmal da ist, reproduziert Kapital sich von selbst – und zwar schneller, als die Produktion wächst. Die Vergangenheit frisst die Zukunft.“

Dies hätte Marx, so oder so ähnlich, auch sagen können!

Das Bild ist aus [7] entnommen. – Ich gehe auch davon aus, dass die Kapitalrendite durch die Digitalisierung, in der Roboter noch mehr die Bearbeitung von (standardisierten) Prozessen übernehmen werden, weiter steigen wird, da Roboter vor allem Kapitalinvestitionen darstellen.

Eine Recherche im Internet ergibt die für mich doch überraschende Erkenntnis, dass mein Gedanke, die Theorie von Marx in die Nähe der Theorie der Selbstorganisation zu rücken keineswegs neu ist. Ja, dass vielmehr Marx als Ur-Vater der ökonomischen und gesellschaftlichen Theorie der Selbstorganisation angesehen wird. Deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn man Marx – abgesehen von dem Missbrauch seiner Ideen durch Andere in Marxismus und Kommunismus – vor allem heute, als eines der großen Genies neben Darwin und Einstein ansieht [8].

Marx hat von sich selbst behauptet, dass er kein Marxist sei.- Gleichwohl hat er in Kenntnis der unsäglichen Arbeitsbedingungen des 19ten Jahrhunderts als Kommunist gewirkt, der eine Revolution herbeiführen wollte, um dem Menschen seine Würde und Freiheit wieder zu geben. In der Umsetzung seiner Theorie sind der russische Kommunismus und der frühe chinesische Marxismus jedoch gescheitert. Meines Erachtens weil die grundlegenden Prinzipien der Selbstorganisation verletzt wurden.

Dies ist umso erstaunlicher, als schon Marx selbst den Zusammenhang zwischen seiner Theorie und Darwin’s Evolutionstheorie hergestellt hat. – Heute geht man davon aus, dass die (ökonomischen) Evolution durch Selbstorganisation angetrieben wird.

Weise [9] schreibt hierzu:

„Seine Sichtweise (Anm.: Marx‘ Sichtweise) der Evolution von Gesellschaftssystemen findet sich klar ausformuliert in „Zur Kritik der Politischen Ökonomie: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt … Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“ “

In der naturwissenschaftlich geprägten Theorie der Selbstorganisation (Synergetik) wird Selbstorganisation durch drei Parametertypen und die sich daraus emergent ausbildende Makrostruktur beschrieben [4]:

Alle in der obigen Tabelle exemplarisch genannten Parameter sind Variable, die unterschiedlichen Zeitskalen unterliegen: Die Rahmenparameter bleiben typischer Weise auf einer sehr langen Zeitskala stabil, wohingegen die Kontrollparameter, wie der Name schon sagt, Parameter sind, mit denen man ein System auf einer kürzeren Zeitskala per Intervention in seinem Verhalten beeinflusst bzw. beeinflussen kann. Die Ordnungsparameter sind Parameter, die sich abhängig vom System und den vorliegenden Rahmenparametern und Kontrollparametern „von selbst“ (also emergent) ausbilden und damit zur Ausbildung einer Makrostruktur führen. – Für Makrostruktur hat Marx den Begriff (gesellschaftlicher) Überbau (d.h. oberhalb der Ebene der Individuen, der Mikro-Ebene) verwendet.

Was Rahmenparameter, Kontrollparameter und Ordnungsparameter sind, kann man nicht immer zweifelsfrei sagen, oft sind die Grenzen, insbesondere zwischen Rahmenparametern und Kontrollparametern sowie Kontrollparametern und Ordnungsparametern fließend. – Meines Erachtens konnte z. B. Piketty mit seinen umfangreichen Datenanalysen zeigen, dass die Differenz r-g (siehe obiges Zitat) die Funktion eines Ordnungsparameters hat. – Vermutlich hätte Marx dem Kapital selbst die Funktion eines Ordnungsparameters zugeschrieben.

Ein System, das mit Hilfe dieser drei Parametertypen modelliert wird, ist ein dynamisches System.  Das System verharrt für eine bestimmte Zeit in einem metastabilen Zustand (metastabil bedeutet, dass kleinste Störungen, das System verändern können); es kann aber jeder Zeit aus diesem Zustand in einen anderen metastabilen Zustand wechseln kann, wenn die Parameter sich ändern. Jeder so erreichte Zustand wird durch den Verlauf der vorherigen Zustände wesentlich mitbestimmt. Damit spielt die Historie eines Systems eine prominente Rolle für den aktuell eingenommen Zustand: Die Historie eines Systems wirkt wie ein Rahmenparameter, sie lässt sich ja nicht mehr verändern!

Die nachfolgende Abbildung zeigt die Systemparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) in Anlehnung an Marx und Piketty für das ökonomische Teilsystem einer Gesellschaft. Ich erhebe nicht den Anspruch, das ökonomische Teilsystem auch nur ansatzweise vollständig beschrieben zu haben. Ein System wie Deutschland besteht wahrscheinlich aus sehr vielen Teilsystemen, die alle über entsprechende Systemparameter zu beschreiben sind und deren Systemparameter auf komplexe Weise (also über Rückkopplungen auf Mikro-Ebene wie Makro-Ebene) mit einander wechselwirken. – Vergleicht man die Einträge zu der Zeile „Gesellschaft“ in der obigen Tabelle, so stellt man fest, dass diese Parameter nicht mit denjenigen des ökonomischen Teilsystems übereinstimmen: Ich gehe davon aus, dass die in der Tabelle beschriebenen Parameter (heute eher) das Gesamtsystem beschreiben und dass die ökonomischen Systemparameter das Teilsystem Ökonomie skizzieren. (In der Marx’schen Theorie ist hingegen das ökonomische System, das System das (eher) das Gesamtsystem beschreibt. Es ist nicht auszuschließen, dass die „Hierarchie“ der Teilsysteme von der Entwicklung einer Gesellschaft abhängt. In jedem Fall ist die Frage nach der „Hierarchie“ eine sehr wichtige Frage, die hier nicht abschließend beantwortet werden kann.)

Natürlich findet zwischen den Teilsystemen eine Wechselwirkung statt: Wächst die Ungleichheit, so ist dies eine Ursache für den Verlust von Identifikation und emotionaler Sicherheit. Letztendlich werden auf dieser Basis die (bestehenden) Werte und verbindenden Glaubenssätze in Frage gestellt, was zu einem Verlust der (bisherigen) gesellschaftlichen Ordnung führt bzw. führen kann.

Auf der Basis der Analysen von Marx und Piketty habe ich die Produktionskräfte, aber auch die Historie und das Umfeld den Rahmenparametern zugeordnet. Ich glaube, dass es z.Zt. im Kontext der Digitalisierung enorm wichtig ist, ob man die Technologie als Rahmenparameter versteht oder als Kontrollparameter. Falls man die Digitalisierung als Rahmenparameter versteht, dann heißt dies auch, dass die damit verbundene gesellschaftliche Entwicklung im ökonomischen Teilsystem einfach hingenommen wird. Falls die Technologie als zu gestaltender Kontrollparameter verstanden wird, wäre zu überlegen, wie man diesen gestalten muss, damit sich dieser günstig auf den oder die Ordnungsparameter auswirkt. Denn es wäre ja sicherlich wünschenswert, dass die sich ausbildende Makrostruktur die Ungleichheit nicht weiter verstärkt.

Wie Piketty zeigt, ist z.B. das Steuersystem ein sehr wichtiger Kontrollparameter, um den Ordnungsparameter zu beeinflussen. Als Ordnungsparameter habe ich in Anlehnung an Piketty die zentrale Größe r-g (Kapitalrendite – Wachstum von Produktion und Einkommen) gewählt, da Piketty gezeigt hat, dass diese Größe unmittelbar die Ausbildung der Ungleichheits-Makrostruktur hervorruft. Piketty charakterisiert die Ungleichheit über den Anteil des Vermögens und des Einkommens: Z.B. besitzen in Europa im Jahre 2010 0,1% der Bevölkerung ca. 23 % des Vermögens, 10% der Bevölkerung ca. 63% des Vermögens.  Bei Marx wird die Ungleichheits-Makrostruktur durch das Verhältnis des Eigentums von Bourgeoisie und Arbeiterschaft beschrieben: Die einen haben das Kapital, das ständig wächst, und die anderen sind zu dem Schicksal verdammt, das sich aus diesem Verhältnis ergibt. Die Ungleichheit wächst nach Marx aber nicht beliebig, es wird einen Punkt geben, an dem sich die Ungleichheit  (per kritischer Selbstorganisation, wie wir heute sagen würden) entlädt. Marx hat diesen Punkt als systemspezifischen Punkt erkannt und den Start für die Revolution an diesem Punkt festgemacht.

Aus diesen Darstellungen kann man auch unmittelbar ableiten, dass soziale Systeme, die durch Ungleichheit gekennzeichnet sind, anfälliger für unkontrollierte Veränderungen sind, wenn von außen Komplexität zugeführt wird. Neue Technologien, wie die Digitalisierung, aber auch die Aufnahme von Flüchtlingen wirken als Komplexitätstreiber (Kontrollparameter), die die Komplexität unkontrolliert antreiben. Wenn diese Komplexitätstreiber die Ungleichheit objektiv vergrößern oder auch nur wahrgenommen vergrößern, kann dies in den Bereich der kritischen Selbstorganisation führen. Meines Erachtens ist das Auftauchen der AfD und Pegida ein Vorbote hierfür.

Also ist es für unsere nachhaltige Entwicklung von enormer Bedeutung, Phänomene der sozialen, technischen und natürlichen Selbstorganisation und deren Wechselwirkungen zu verstehen.

Bedenkt man, dass in der deutschen wie internationalen sozialen Komplexitäts- und Selbstorganisationsforschung ein großes Wissen über diese Zusammenhänge vorliegt, so ist es bedauerlich, dass unsere verantwortlichen Politiker diese Kompetenz nicht für ihr Handeln berücksichtigen. Ihr Handeln spiegelt leider das derzeit für sie verfügbare aber unzureichende Bewusstseins- und Wertesystem wider.

[1] Marx K (2014) Das Kapital, Vollständige Gesamtausgabe in 3 Bänden. e-artnow, kindle Version

[2] Haken H, Schiepek G (2010) Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten. Hogrefe-Verlag, Göttingen

[3] Köhler J, Oswald A (2009) Collective Mind Methode. Springer, Heidelberg

[4] Oswald A, Köhler J, Schmitt R (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos. 2. Auflage, Springer, Heidelberg

[5] Oswald A, Müller A (2018) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices. BoD, Norderstedt

[6] Ebeling W, Feistel R (2017) Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft und Strategien zur Gestaltung der Zukunft. Leibniz Online, Nr. 28. Zeitschrift der Leibniz-Sozietät e.V.

[7] Piketty T (2016) Das Kapital im 21. Jahrhundert (German Edition). C.H.Beck. Kindle-Version

[8] Neffe J (2017) Marx. Der Unvollendete. C. Bertelsmann Verlag. Kindle-Version

[9] Weise P (1998 ) Evolution und Selbstorganisation bei Karl Marx in Warnke C, Huber G (Hrsg.) Die ökonomische Theorie von Marx – was bleibt?. Metropolis-Verlag, Marburg

Von Glaubenssätzen, Zeitreisen und der Digitalisierung

Projektmanager einer Organisation nehmen an dem inhouse-Seminar „Agiles Management 4.0 und der Digitale Wandel“ teil. Die Projektmanager lernen das Große Bild, ausgedrückt über die Faustregel „Agiles Management 4.0 = Agiles Mindset* Agile Governance * Agile und Klassische Techniken“ kennen und anwenden. Hierbei findet die Dilts Pyramide als Modell für das individuelle Mindset und das organisationale Mindset (Kultur) besonders viel Interesse.

Im Rahmen der Mittagspause kommt es zu einer recht intensiven Diskussion zwischen einigen Projektmanagern. Bernd stellt ziemlich vehement fest, dass die heute überall angebotenen Trainings zu Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für die heute dreijährigen in 20 Jahren nicht mehr notwendig sein werden. Claudia widerspricht dieser Aussage und behauptet, dass sie dies ganz anders sähe und dass Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auch in 20 Jahren für die dann 23-Jährigen von Bedeutung sein werden und dass entsprechende Trainings auch dann nicht ihre Bedeutung verloren haben werden. Die Aussagen werden mehrmals, mit steigender Aggressivität auf beiden Seiten, wiederholt. Um seine Argumentation zu unterstreichen führt Bernd u.a. an, dass man bei der Einführung der Dampflokomotiven vor den Gefahren, die durch eine Geschwindigkeit von 20 km/h hervorgerufen werden, sehr heftig warnte. Und wie wir ja heute wüssten, sei dies ja ziemlicher Unsinn.

Bernd weist hier unbewusst auf die Kontextabhängigkeit unserer mentalen Modelle und die damit verbundenen Aussagen hin: Nahezu niemand konnte sich zum damaligen Zeitpunkt – zu dem damals erfahrbaren Kontext – vorstellen, dass von 20 km/h keine Gesundheitsgefährdung ausgeht, da 20km/h zum damaligen Zeitpunkt schon unvorstellbar schnell gewesen sein muss. In unserem Buch „Projektmanagement am Rande des Chaos“ verstehen wir unter Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, die Muster, die in unserer Umwelt enthalten sind, zu erkennen. Unter Achtsamkeit verstehen wir, die erkannten Muster zu respektieren, u.a die Motive, Werte und Grundannahmen der Anderen und zu erkennen wie diese mit den eigenen Motiven, Werten und Grundannahmen ein komplexes soziales System der Kommunikation hervorrufen. Aufmerksames und achtsames Handeln basiert also auf einer Kompetenz, die den Kontext wahrnimmt und gleichzeitig von diesem abstrahieren kann. Wir sprechen deshalb auch von einer Meta-Kompetenz.

Zurück im Trainingsraum, spürt der Trainer die angespannte Stimmung, die sich zwischen einigen der Teilnehmer breit gemacht hat und er fragt vorsichtig nach den Ursachen. Erst als er auf die Bedeutung der Werte Mut und Transparenz im Agilen Management 4.0 hinweist, erklärt sich Hans bereit die Situation am Mittagstisch zu schildern. Hans versichert sich vorher durch Blickkontakt eines leisen Einverständnisses der anderen. Nachdem Hans die Situation geschildert hat, sowie Claudia und Bernd die Darstellung von Hans bestätigen, fragt der Trainer, ob alle damit einverstanden sind, dieses Beispiel mit den Werkzeugen des Agilen Managements 4.0 zu bearbeiten und vielleicht sogar aufzulösen.

Der Trainer weist auf die Modellierung der Mindsets mittels der Dilts Pyramide hin und insbesondere auf die Verortung von Glaubenssätzen „oberhalb“ der Verhaltensebene, in der Ebene Werte und Grundannahmen. Er betont, dass die Aussagen von Claudia und Bernd auch als Glaubenssätze betrachtet werden können. Glaubenssätze sind Aussagen, die sich von ihrem jeweiligen Kontext, in dem sie gültig sind, verselbständigt haben und damit den Anspruch erheben in jedem Kontext gültig zu sein.

Um der Bedeutung des Kontextes auf die Spur zu kommen, schlägt der Trainer ein Gedankenexperiment, eine kleine Zeitreise, vor: Stellen wir uns vor, wir sind 20 Jahre später, die heute 3-Jährigen sind 23-Jährige, jedoch hat es keine nennenswerte technologische Entwicklung gegeben. Die 23-Jährigen sind lediglich mit den heute verfügbaren Smartphones, Smartpads und Smartwatches groß geworden. Auf diese Weise haben wir jetzt einen Kontext „definiert“. Und es stellt sich die Frage, wird dies zu einer solchen Veränderung der Gehirnstrukturen der 23-Jährigen führen, dass sie in einer Kommunikation mit oder ohne technische Hilfsmittel aufmerksam und achtsam kommunizieren werden. Wir können vermuten, dass die dann 23-Jährigen noch souveräner mit diesen technischen Hilfsmitteln umgehen. Nach allem was wir heute wissen, wird das Arbeiten mit Smartphone, Smartpad und Smartwatch wahrscheinlich Aufmerksamkeit und Achtsamkeit der dann 23-Jährigen in gleichem Maße beeinflussen wie es heute schon geschieht. – Man siehe hierzu auch Langzeitstudien an heute 13-jährigen bis 23-jährigen, wonach die intensive Nutzung von Smartphones Jugendliche einsamer und depressiver macht (Im Buch von Jean Twenge, Me, My Selfie and I). Wir können derzeit auf der Basis unserer aktuellen Kenntnisse also nicht davon ausgehen, dass die Verwendung von Smartphone, Smartpad und Smartwatch von frühester Jugend an, unsere neuronalen Strukturen so beeinflusst, dass sich dies auf eine Verbesserung von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit auswirkt.  – Natürlich, auch diese Aussage ist ein Glaubenssatz, den wir aktuell nicht beweisen können. Jedoch haben wir durch das Ausleuchten des Kontextes diese Aussage relativiert und damit als Glaubenssatz sichtbar gemacht.

Stellen wir uns jetzt einen anderen Kontext vor: Es sind 20 Jahre vergangen, die dann 23-Jährigen verfügen zum Beispiel über Smartglasses mit eingebauter Artifical Intelligence (AI). Alle Kommunikation findet unter Verwendung der Smartglasses statt: Diese Smartglasses spielen zum Beispiel während der Kommunikation Informationen aus dem Internet ein, die zum Inhalt der Kommunikation passen. Gleichzeitig analysiert eine AI die Körpersprache, die Modalitäten der verbalen Sprache (u.a. Tonalität, Frequenz) und den Inhalt der verbalen Sprache der Gesprächspartner. Die AI liefert Informationen zur Persönlichkeit, dem Mindset und der Stimmung der Gesprächspartner und macht Vorschläge für eine resonante Kommunikation. Zusätzlich scannt die AI das gesamte soziale System und dessen Umgebung, identifiziert systemische Muster sowie bietet Vorschläge für eine gelungene Gruppen- oder Teamkommunikation an. Da alle Kommunikationspartner über diese Hilfsmittel verfügen, hat sich die Qualität der Kommunikation wahrscheinlich (?) zum Besseren verschoben. – Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass alle Gesprächspartner die technischen Hilfsmittel gleich gut beherrschen und die bereitgestellten Informationen gleich gut und verantwortungsvoll in den Gesprächsfluss einfließen lassen werden. Achtsamkeit und Aufmerksamkeit werden also wahrscheinlich weiterhin ihren Platz behalten – auch ein Glaubenssatz – jedoch wird ein Training in 20 Jahren bei dem so skizzierten Kontext andere Lerninhalte haben müssen. – Das was wir heute also unter Aufmerksamkeit und Achtsamkeit verstehen wird wahrscheinlich in 20 Jahren einen anderen Inhalt haben.

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Wir stellen uns vor, dass eine Gruppe von zukünftigen Projektmanagern ausgestattet mit den geschilderten Smartglasses über die Bedeutung von Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in ihrer zukünftigen Welt diskutiert. Biotechnologische Neuroimplantate sind schon am technologischen Horizont sichtbar. Die Smartglasses werden wohl zukünftig durch entsprechende Kontaktlinsen und andere Sensorik ersetzt, gleichzeitig wird die AI noch intelligenter und die Kenntnisse zu neurobiologischen Zusammenhängen hat einen gewaltigen Sprung gemacht. Zukünftig, so diskutieren die Projektmanager, wird es möglich sein, dass die von der AI erkannten Kommunikationsmuster sofort durch geeignete Neuroimplantate in entsprechendes resonantes Verhalten umgesetzt werden… Schöne, neue Welt …?

Entfallen damit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit? Wahrscheinlich nicht! Jedoch werden die Trainings völlig andere Trainingsinhalte enthalten bzw. enthalten müssen: Die AI und und die Neuroimplantate nehmen uns das Erkennen vieler Kommunikationsmuster und sogar die passende Reaktion dazu ab. Wenn wir damit aber nicht zu Robotern werden wollen, erfordert diese neue Welt eine erhebliche Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber der Interaktion von Mensch und Technik. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit werden damit (wieder) auf ein neues Niveau gehoben: Das Erkennen systemischer Muster und damit verbundenem nachhaltigem Handeln in einer Gruppen-Kommunikation verschiebt sich zu einem Erkennen systemischer Muster und entsprechendem nachthaltigen Handeln auf gesellschaftlicher Ebene. Und natürlich ist diese Skizze des Kontextes der Zukunft nur ein Szenario, aus dem sich Aussagen, verallgemeinert, nur als Glaubenssätze ableiten lassen. Wie in der 3sat scobel Sendung vom 24.05.2018 (www.3sat.de, Ethik der Algorithmen, Die Grenze zwischen Software und menschlichem Verhalten) diskutiert, wird es notwendig werden, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit um gesamt-gesellschaftliche Aspekte zu ergänzen, denn die AI bringt weitere Komplexität mit sich und damit mehr Potential aber auch mehr Gefahren für die weitere Entwicklung.

Was hat dies Alles mit Agilem Management 4.0 zu tun?

Agilität beginnt im Kopf! Mit diesem Glaubenssatz verbunden ist die Aussage, dass Aussagen immer einen Kontext benötigen. Wenn der Kontext weggelassen wird, entstehen automatisch Glaubenssätze. Diese können uns helfen Komplexität zu meistern, denn sie helfen uns komplexe Sachverhalte zu vereinfachen. Wenn die Kontextabhängigkeit jedoch völlig vergessen wird, können sie Glaubenskriege hervorrufen. Wie in unserem Beispiel geschildert, führen nicht identifizierte Glaubenssätze zu mentalen Blockaden und damit zu einem Verschwinden der Fähigkeit sich anzupassen, und damit zu einem Verschwinden von Agilität.