„Einen Feind in einen Freund verwandeln“ oder von der Selbstorganisation des Marktes

„Einen Feind in einen Freund verwandeln“ steht verkürzt für die sogenannte Katallaxie, ein Konzept der Selbstorganisation des Marktes. Dieses Konzept geht im Wesentlichen auf den Ökonomie-Nobelpreisträgers F. A. von Hayek [1] zurück. Von Hayek hat seine Ideen zur „Ökonomie einer freien menschlichen Marktinteraktion als treibende Kraft zur Findung von komplexen ökonomischen Problemstellungen“ in den 60er und 70er Jahren des vorherigen Jahrhunderts entwickelt, zu einer Zeit als die Komplexitätsforschung erblühte und naturwissenschaftliche Theorien zur Selbstorganisation immer mehr an Bedeutung gewannen. Leider fanden die Ergebnisse dieser Komplexitätsforschung keinen direkten Eingang in das Hayek’sche Konzept. – Und selbst ca. 30-40 Jahre später gab es in der Dissertation von Dötsch [2] noch keinen Brückenschlag zwischen Sozial- und Naturwissenschaft.

In der Tabelle 1, der Übersicht wegen am Ende des Blogbeitrages, habe ich das Konzept der Katallaxie auf der Basis von [2] mit den Mittel der Synergetik zusammengefasst. Die Tabelle enthält gemäß [2] auch einige zentrale Vorschläge zur Behebung bzw. Korrektur des Hayek’schen Markt-Selbstorganisations-Verständnisse sowie zum Vergleich einige zentrale Aussagen des Management 4.0 Konzept (M 4.0). – Die Behebungen bzw. Korrekturen aus [2] treffen meines Erachtens den Kern der „Unzulänglichkeiten“ im Hayek’schen Selbstorganisations-Verständnisse, jedoch fehlt der Brückenschlag zu den universellen und modernen Konzepten der Selbstorganisation [3], [4], [5].

Die Beschäftigung mit den ökonomischen Selbstorganisations-Konzepten des Marktes ist deshalb so enorm wichtig, weil diese unser aller Verständnis von Markt, Wirtschaft und letztendlich auch unserer Gesellschaft enorm prägen. Am SO Verständnis scheiden sich die ökonomischen Geister: Die Befürworter der im Wesentlichen unregulierten SO werden als Neoklassiker oder Neoliberale und die Gegner einer unregulierten SO als Keynesianer oder gar als Sozialisten und Kommunisten stigmatisiert. Wie in den vorherigen Blog-Beiträgen skizziert, beruht diese gegenseitige Stigmatisierung auf Glaubenssätzen, die teilweise Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückreichen und auf einem mehr oder weniger guten Verständnis der Theorien der Ökonomiegrößen. Hayek ist eine solche Ökonomiegröße. Es wäre vermessen alle Aspekte seines SO Verständnisse vollständig verstehen und referieren zu wollen, ich glaube jedoch, dass man im Licht der modernen SO-Theorien einen sehr guten Zugang zu den herrschenden ökonomischen Glaubenssätzen bekommt und damit Handwerkszeug für eine notwendige gesellschaftliche Transformation erhält.

Hayek sieht den Wettbewerb „Einen Feind in einen Freund verwandeln“ als „Enabler“ oder wie wir im M 4.0 sagen, als Kontrollparameter der Markt-Selbstorganisation. Wettbewerb ist bei ihm durchweg positiv belegt. Falls die Markt-Regeln eingehalten werden, können sich nach Hayek negative Auswirkungen kaum einstellen. Man beachte, dass Hayek also sehr wohl schon das Eingreifen in den Markt über Regeln und ein Set an Institutionen kennt. – Ein Umstand, der wahrscheinlich vielen (unbewussten) Anhängern der Hayek’schen Ansätze nicht bekannt sein dürfte und der nach wie vor zur Polarisierung zwischen sogenannten Ökonomieschulen führt. – Die integrierende Kraft eines rationalen Selbstorganisations-Verständnisses, ohne behindernde Glaubenssätze, ist in der Ökonomie nach meiner bisherigen Kenntnis wenig verbreitet.

Man beachte, der Markt verliert auch gemäß Hayek aufgrund seiner Markt-Regeln nicht zwangsläufig seine SO! – Die Hayek’schen Markt-Regeln sind eine „einfache“ Form einer SO-Governance.

Seit der Erfindung des LASERs gehört das gezielte Steuern von SO zum Handwerkszeug von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren. – Inzwischen hat sich auch eine neue Forschungsrichtung unter dem Begriff „Guided Self-Organization“ etabliert, die gerade für die Bereiche Künstliche Intelligenz und Robotik immer mehr an Bedeutung gewinnt [5].

Die Führung der Selbstorganisation durch Governance ist das zentrale Werkzeug der Agilen Führung 4.0. Ein Mittel dieser Führung 4.0 ist die regulierte Interaktion bzw. Kommunikation, einen Wettbewerb an Ideen, der durch gegenseitigen Respekt und Wertschätzung reguliert wird.- Deswegen ist es auch verständlich, dass in [2] auf eine „Korrektur“ durch Humberto Maturana hingewiesen wird. Maturana kritisiert den „Wettbewerb“ als entscheidenden Stabilisator des Marktes und verweist stattdessen auf die Liebe als Stabilisator. Im M 4.0 sprechen wir von einer Kommunikation, in der die Persönlichkeit des „Anderen“ über den Austausch von Ideen und Waren wertgeschätzt wird; also einer Liebe, die gleichermaßen Mensch, Tier und Natur als die „Anderen“ einschließt. Diese wertschätzende Form des Austausches ist im Management 4.0 der entscheidende Kontrollparameter der Selbstorganisation. Die SO im M 4.0 Konzept ist also auf Kooperation bzw. Kollaboration ausgelegt, wohingegen die SO im Hayek’schen Sinne kompetitiv angelegt ist.

Das Hayek’sche System „Markt“ kennt nicht wirklich eine Umwelt. Wie in der Systemtheorie sonst üblich, kennt das Hayek’sche Konzept damit das System-bildendende Verhältnis von System und Umwelt nicht. Spätestens seit Ashby gehört jedoch die Regulation der System-Komplexität als „Antwort“ auf die Komplexität der Umwelt zur Adaptionsfähigkeit eines Systems.- In den Naturwissenschaften ist dieser Austausch mit dem Begriff der Entropie bzw. des Entropieaustausches verbunden. Die Selbstorganisation des Marktes hängt also wesentlich mit dessen Fähigkeit zur Regulation von Komplexität zusammen. –  Andere sprechen meines Erachtens fälschlicher Weise von der „Reduktion von Komplexität“, statt von der „Regulation von Komplexität“. Gerade aktuell treffen wir leider wieder sehr oft auf Vertreter der „Reduktion von Komplexität“: Trump, Johnson, Orban, Verschwörungsideologen, AfD und Nazi’s aber auch einzelne Vertreter der Wirtschaft wie Tönnies oder Wirecard reduzieren die Komplexität unseres Seins, um es für sich nutzbar zu machen, ggf. auch unter Verletzung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. – Die „Reduktion von Komplexität“ durch vermeintliche Führungskräfte im Angesicht einer komplexen Umwelt ist ein sehr klares Indiz für eine wertvernichtende (Selbst-) Führung.

Dahinter verbirgt sich auch der Glaubenssatz „der Markt ist (nahezu) Alles“. Dies trägt auch dazu bei, dass die Fehlentwicklungen des Marktes nicht gesehen werden können. Die Fehlentwicklungen eines gesellschaftlichen Subsystems, wie diejenigen des Marktes, werden erst sichtbar, wenn man sie im Lichte eines größeren Ganzen betrachtet: Tönnies, der seine Welt auf seinen Markt reduziert, wird die damit verbundenen Fehlentwicklungen nicht erkennen; die Manager der Autoindustrie, die ihre Welt auf das Auto reduzieren, werden den Schaden, den Sie eventuell für Generationen anrichten, nicht erkennen.- Diese Reduktion ist sogar vielmehr notwendig, um in der so geschaffenen reduzieren Welt handlungsfähig zu bleiben.

Das Hayek’schen Konzept erkennt zwar viele „richtige“ Bestandteile und Wirkzusammenhänge der Selbstorganisation, jedoch fehlt die klare Ausgestaltung von Rahmenparametern und Kontrollparametern, d.h. der Bedeutung von System-Umwelt, der Regulation von Komplexität und der entsprechenden Relativierung der Bedeutung des Wettbewerbs. Was auch fehlt ist das Erkennen von Ordnungsparametern oder Attraktoren als Ordnung hervorrufender Bestandteil der SO. Preise werden zwar als Ordnung schaffende Makro-Ergebnisse eingeführt, wobei jedoch eher die Knappheit eines Gutes über die Preisbildung als ordnungsschaffend angesehen wird. Knappheit oder das Bedürfnis nach der Überwindung von Knappheit ist meines Erachtens ein Kontrollparameter, der auch manchmal gezielt von Produktanbietern eingesetzt wird, um die Nachfrage und die Preise anzukurbeln. Ordnungsparameter sind Parameter, die sich zeitlich in größeren Zeithorizonten verändern, sogenannte „slow variables“, sie ordnen das Verhalten von sogenannten „fast variables“. In [3] wurde gezeigt, dass man ökonomische Theorien nach den in der Theorie ausgewählten Ordnungsparametern („slow variables“) charakterisieren kann. – In allen dort aufgeführten Theorien wird die Technologie als die langsamste der veränderlichen Größen angesehen. – Die Technologie ist also ein dominanter Ordnungsparameter.- Am Beispiel der deutschen Autoindustrie kann man erkennen wie das Festhalten am Verbrennungsmotor, das Denken dieser Industrie dominiert. Gemäß [3], kann man die Theorienschulen in den mathematischen Modellen, die vereinfachend nur wenige Systemparameter enthalten, nach den verwendeten Ordnungsparametern unterscheiden: Zum Beispiel favorisiert die Theorieschule nach Keynes Gehälter (und Preise) als Ordnungsparameter; die Neoklassik favorisiert Kapital (und Arbeit) als Ordnungsparameter. – Die Synergetik kann also einen Brückenschlag zwischen Theorienschulen liefern, in dem die Auswahl der Systemparameter (Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter) zur Beschreibung von ökonomischen Mustern sich am jeweiligen gesellschaftlichen Kontext orientiert und nicht am Glaubenssatz!

Die Verwendung von Ziel-Hierarchien (z.B. Collective Mind Informationshierarchie, Story Map oder OKR) nutzt genau diese Erkenntnis: Ziele auf oberster Ebene (u.a. Vision/Mission) verändern sich langsamer bzw. sollen sich langsamer verändern als untergeordnete Ziele (u.a. SMARTe Ziele). Ziele mit langsamer zeitlicher Veränderung dienen als Anker für die untergeordneten Ziele mit schnellerer zeitlicher Veränderung, sie sind Sinn-Geber! Und genau hier setzt die Kritik von Niklas Luhmann an: Preise sind zwar untergeordnete Ordnungsparameter, jedoch können sie keinen Sinn erzeugen. Sie sind allenfalls in ihrer untergeordneten Rolle Ausdruck eines übergeordneten Sinns. Knappheit ist auf keinen Fall ein Sinn-Geber, allenfalls ist die Auflösung von Knappheit, wie oben schon gesagt, ein Kontrollparameter. Man kann hier wiedererkennen, dass wesentliche SO-Wirkmechanismen in dem Hayek’schen SO-Verständnis nicht enthalten sind. Auch wenn Hayek die Integration von individuellen Zielen durch den Marktmechanismus thematisiert, so lässt sich auch hier die Wirkung des Glaubenssatzes „der Markt ist (nahezu) Alles“ wiedererkennen.

Im Lichte aktueller Entwicklungen (Klima, Corona und wirtschaftlicher Fehlentwicklungen u.a. wie Tönnies und Dieselskandal) und der bisherigen Blogbeiträge zur Selbstorganisation des Marktes ergibt sich die klare Erkenntnis:

Der Markt kann seine innovative Kraft auch zeigen, wenn er als selbstorganisiertes System mittels Governance in ein übergeordnetes gesellschaftliches System eingebettet ist.

Das übergeordnete gesellschaftliche System liefert den Sinn (d.h. die obersten Ordnungsparameter) für das Subsystem Markt. – Markt allein macht keinen Sinn und damit auch keine sinnvolle Ordnung! 

[1] Wikipedia (2020) Friedrich August von Hayek,  https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_August_von_Hayek, zugegriffen am 04.10.2020

[2] Dötsch Jörg (2012) Wettbewerbliche Ordnung als fragiles System, Systemtheoretische Überlegungen zum Ansatz Friedrich August von Hayeks, Dissertation Universität Bayreuth

[3] Zhang Wei-Bin (1991) Synergetic Economics – Time and Change in Non-linear Economics, Springer

[4] Liening Andreas (2017) Komplexität und Entrepreneurship: Komplexitätsforschung sowie Implikationen auf Entrepreneurship-Prozesse, Springer Gabler, Kindle Ausgabe

[5] Prokopenko Mikhail (Editor) (2014) Guided Self-Organization: Inception, Springer

 

Rahmen-
parameter
Kontroll-
parameter
Ordnungs-
parameter
Makro-
Struktur
HayekFehlt: Regulation von Komplexität in einem Netzwerk von gestaffelten System-Umfeld-Beziehungen
Fehlt: Einbettung in ein SO-horizontales-vertikales Umfeld
historische/ tradierte Regeln

historische/tradierte Regeln
Motivation der Individuen mit unterschiedlichen Identitäten

Regeln und Regelfriktionen (Regeln sind Voraussetzung, aber auch Gefährder der Ordnung)

Set an Institutionen

Markt durch Wettbewerb und Entdeckung (Wettbewerb unterstützt menschliche Bedürfnisse)

endogene/exogene (!) Selbstorganisation“ auf der Basis von Grundannahmen/Regeln des Marktes: Schutz der Privatsphäre, freier Zugang zum Markt, Gewalt und Betrug werden verhindert, Schutz des Eigentums, Pflicht zur Vertragseinhaltung: „Disziplin der Freiheit“
Fehlt: Preise/ Knappheit ermöglichen arbeitsteilige OrdnungOrdnung mit
evolutionärer Weiterentwicklung durch „stochastische“ Optimierung, die zu Innovation führt

Integration individueller Ziele und gemeinsamer Werte ( er sieht aber auch, dass dies in der Praxis zu Problemen führen kann)

Höherer Wohlstand
Behebung/
Korrektur nach [2]
Röpke: System-Umfeld, Reduktion von Komplexität (in [2] wird von Reduktion und nicht Regulation gesprochen)Maturana: Liebe als wesentliches Element der Kommunikation
Röpke: Selbststabilisierung des Marktes durch verschachtelte System-Umwelt-Interaktion zur gegenseitigen Reduktion von Komplexität
Luhmann: Sinn als Struktur-Geber der Kommunikation
M 4.0Horizontale und vertikale Einbettung von SO-Kreisen (System und Subsysteme)

System- und Subsystem-Historien (u.a. Kultur/Mindset)
Komplexes
dynamisches Netzwerk an SO-Kreisen mit SO-Governancen.

Dieses Netzwerk, von der grobkörnigen zur feinkörnigen Governance, gibt hohe Freiheitsgrade und ermöglicht Resonanz und Synchronisation auf allen Ebenen und in allen SO-Kreisen.

Die SO-Governancen respektieren (bestehende) individuelle, organisationale und gesellschaftliche Mindsets und beruhen auf nachhaltigen Werten und Grundannahmen; Regeln und Institutionen werden minimiert.

Der Wert „Macht“, der bisher in unserer Gesellschaft als Kontrollparameter recht oft dominant vorliegt, wird in seine Schranken verwiesen, denn er ist in seiner dominanten Ausprägung SO verhindernd.
Komplexes Netzwerk an Ordnungsparametern/Attraktoren auf der Basis des komplexen SO-Netzwerkes

Diese erzeugt Ordnung, Ausrichtung und Sinn. (Die Ziel-Hierarchie ist ein Beispiel für eine Ordnungsparameter-Hierarchie)
Nachhaltige, evolutionäre Ordnung, die Innovationen und würdiges Leben für alle ermöglicht.
Tabelle 1: Hayek’sches Verständnis der Selbstorganisation des Marktes

Vom Unterschied, der den Unterschied macht: „Principles rather than processes are what matter.”

Zurzeit schießen in Veröffentlichungen und Social Media die Vier-Schritt-Zyklen Modelle wie Pilse aus dem Boden (was nicht verwunderlich ist, man will ja smarter und agiler sein), z.B.:

OODA (Observe, Orient, Decide, Act), ursprünglich aus dem Militärischen kommend als Entscheidungsschleife im Feld gedacht, wird für das Agile Management diskutiert [1].

PPCO (Pluses (Vorteile), Potentials (Zukunftschancen), Concerns (Bedenken), Overcome Concerns (Überwinden der Bedenken)), gedacht als Modell um „Souveränität im Methodenwahn“ zu zeigen und Methoden auszuwählen, also gerade nicht immer eine „neue Sau durch’s Dorf zu treiben“ [2] – Ironischer Weise wird, um dies zu erreichen, gleich ein „neues“ Modell/Methode mitgeliefert.

BRDG (Break a problem into parts or steps, Recognize and find patterns or trends, Develop instructions to solve a problem or steps for a task, Generalize patterns and trends into rules, principles, or insights) als Prozess Beschreibung für das “Computational Thinking” eines “Algorithmic Leader’s” [3].

Auch die Agilen Handlungsrahmen basieren ganz wesentlich auf einem PDCA (Plan Do Check Act) oder einem PDIA (Plan Do Inspect Adapt) Zyklus [4]. – Nicht wenige Agilisten legen großen Wert darauf, dass PDCA und PDIA zwei völlig unterschiedliche Modelle sind, denn warum sonst hätte man zwei Namen.

Im Management 4.0 [4] und in [5] verwenden wir den PDCA für die kontinuierliche und situative Anpassung von Erfolgsfaktoren und Erfolgskriterien (siehe Abbildung 1) und schlagen auch ein Vier-Schritte-Transformationsmodell vor, das dem menschlichen kognitiven Prozess der situativen Anpassung folgt (Druckpunkte ausleuchten, Organisationale Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter extrahieren, Handlungsfelder des Collective Mind ausformulieren, Lernende Organisation einführen).

Abbildung 1: PDCA der Erfolgskriterien-Erfolgsfaktoren Anpassung

Es stellt sich die Frage, sind dies alles unterschiedliche Modelle bzw. Methoden oder ergäbe sich bei einer höheren Abstraktionsstufe eine klarere und gleichzeitig einfachere Sicht.

Bevor ich die Frage beantworte, ein weiteres Beispiel des „Vielzahl-Methodenwahns“:

Im Linienmanagement und im Projektmanagement kennt man seit vielen Jahren den Begriff der Ziel-Hierarchie.

Im Critical Chain Projekt Management kennt man seit mehr als 30 Jahren die Ziel-Hierarchie „Strategie- und Taktik-Baum“.

Auch der Agile Handlungsrahmen Scrum kennt Vision, Sprint-Goal und User Strories ggf. Tasks usw..

Die Scaled Agile Frameworks arbeiten mit Story Maps bestehend aus (Vision), Epics, Features, User Stories, usw..

In den letzten Monaten tauchen immer häufiger die sogenannten OKR’s (Objectives and Key Results) auf, obwohl diese schon fast zwei Jahrzehnten von google als Ziel-Hierarchie eingesetzt werden. Agile Kollegen wundern sich, dass Scrum Teams, die schon lange mit Scrum arbeiten, sich mit den OKR’s schwertun und gleichzeitig betonen sie den notwendigen Kulturwandel, um mit OKR’s arbeiten zu können [6].

Auch wir verwenden in Management 4.0 eine Ziel-Hierarchie, die bei einer Vision, einem „Großen Bild“ beginnt und wie ein Baum „unendlich viele“ Verästelungen hat. Wir setzen die Verästelungen aus Bausteinen (Fraktalen) von jeweils 3 Stufen zusammen (auf der jeweils dritten Ebenen (Wie-Ebene) werden die „Teile“ zu je einem neuen „Big Picture“ für das nächste Ziel-Hierarchie-Fraktal, siehe Abbildung 2). 

Abbildung 2: Ziel-Hierarchie des Management 4.0

Wie beim o.g. Beispiel der Vier-Schritt-Zyklen Modelle werden auch diese Methoden bzw. Modelle der Ziel-Hierarchie als „völlig getrennte Welten“ wahrgenommen und als „neu und anders verkauft“.

Abstraktion ist das Schlüsselwort, um die „Vielzahl“ schrumpfen zu lassen. Walsh [3] postuliert als die Schlüsselkompetenz von Führungskräften im Digitalen Zeitalter die Fähigkeit zur Abstraktion und kristallisiert dies in der Aussage „Principles rather than processes are what matter.” Mit dieser Feststellung gibt er auch indirekt gleichzeitig zu verstehen, dass diese Schlüsselkompetenz heute bei Führungskräften nicht sehr verbreitet ist. – Die Fähigkeit zur Abstraktion bezeichnen wir im Management 4.0 als Meta-Kompetenz. Hiermit meinen wir die Fähigkeit vom jeweiligen Kontext einer Situation zu abstrahieren und auf der Basis von Werten, Grundannahmen und Prinzipien fundamentale Erkenntnisse und dazugehörige Modelle kontextspezifisch anzuwenden. – Wir nennen diese kontextspezifischen Ausprägungen von fundamentalen Erkenntnissen und Modellen, Sozialtechniken.

Aus diesem Grunde sind alle Vier-Schritte-Zyklen Modelle kontextspezifische Ausprägungen eines Modells, das wir der Einfachheit und dem Respekt der Erstautorenschaft wegen, PDCA-Zyklus oder Deming-Kreis nennen: Entscheidend ist, dass der PDCA-Zyklus eine iterative, validierende Anpassung des Handelns in seiner allgemeinsten Form zum Ausdruck bringt. Bei entsprechender Abstraktion ist es gleichgültig, auf welcher Zeitskala diese Anpassung stattfindet. Im Feld aber auch in einer Sitzung, einem Workshop ist oft eine schnelle und passende Aktion/Intervention erforderlich: Die Wahrnehmung, die Beobachtung liefert den Hinweis für unser Gehirn um mittels Intuition (d.h. geronnener Erfahrung, dies ist auch eine Form von vorgefertigtem Plan) eine Aktion/Intervention einzuläuten, die dann auf ihre Wirksamkeit überprüft und ggf. angepasst wird [5]. So gesehen, also bei entsprechender Abstraktion und damit verbundener Meta-Kompetenz, gibt es keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Vier-Schritte-Zyklen. Es sind lediglich kontextspezifische Anpassungen des gleichen Modells: Soll-Ist Vergleich bilden, Agieren, Überprüfen, Anpassen.

Eine entsprechende Aussage gilt auch für das fundamentale Modell der Ziel-Hierarchie. Für mich sind alle o.g. Ziel-Hierarchien Ausprägungen der fraktalen Ziel-Hierarchie aus Abbildung 2. Jedoch, wenn diese Ziel-Hierarchie Selbstorganisation unterstützen soll, dann muss die Ziel-Hierarchie als Ordnungsparameter [4], [5] wirken. Das grundlegende Prinzip, das wir in diesem Fall für jegliche Ausgestaltung der Ziel-Hierarchie anwenden, ist das der Selbstorganisation. Nach der Theorie der Selbstorganisation sind hierzu Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter auzugestalten.

Damit die Ziel-Hierarchie wirksam zur Ausbildung eines Ordnungsparameter eingesetzt werden kann, müssen folgende Prinzipien umgesetzt werden:

Die Ziel-Hierarchie als Informations-Hierarchie muss die gesamte Organisation abdecken. Die organisationale Struktur (Hierarchie) muss zur Informations-Hierarchie passen.

Die Ziel-Hierarchie muss transparent für alle Mitglieder einer Organisation, horizontal und vertikal, selbstreflexiv entwickelt werden: Teile der Ziel-Hierarchie dürfen also nicht von oben nach unten fix vorgegeben werden, sondern die Informations-Hierarchie wird von oben nach unten und von unten nach oben in einem PDCA-Zyklus überprüft und angepasst. Damit entstehen Sinn und Motivation für alle Mitglieder einer Organisation, die Basis damit sich der Ordnungsparameter ausbilden kann.

Diese Art des Arbeitens dürfte in den meisten Organisation einen dramatischen Kulturwandel notwendig machen, auch dann, wenn sie schon viele Jahre agile Techniken einsetzen. – Eine Erkenntnis, die sich bei entsprechender Abstraktion zwangsläufig ergibt. – Der Unterschied, der einen Unterschied macht, liegt also nicht in der Vielfalt der Ziel-Hierarchie Modelle, sondern in der souveränen kontextspezifischen Anwendung einiger weniger Prinzipien. – Agilität entsteht nicht auf Verhaltensebene bzw. Technikebene, sondern in der Abstraktion, Ebenen darüber.     

[1] Wikipedia (2019) OODA: https://de.wikipedia.org/wiki/OODA-Loop, zugegriffen am 24.06.2019, Anfang Juni 2019 in Linkedin diskutiert.

[2] Dietrich Sabine (2019) Schlau statt Sau – Souveränität im Methodenwahn, ManagerSeminare, Heft 256, Juli 2019

[3] Walsh Mike (2019) The Algorithmic Leader: How to Be Smart When Machines Are Smarter Than You, März 2019

[4] Oswald Alfred und Müller Wolfram (Hrsg.) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, BoD

[5] Oswald Alfred, Köhler Jens, Schmitt Roland (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos, Springer

[6] Weidemüller Arved (2019) OKR’s funktionieren nicht ohne Kulturwandel, ManagerSeminare, Heft 256, Juli 2019