Die Digitale Transformation – Chancen und Risiken – Ein Diskussionsbeitrag

Die Digitale Transformation (DT) [0] ist eine der Hauptthemen der GPM Fachgruppe Agile Management und das Hauptthema der GPM Fachgruppe Digitale Transformation. Der von der Politik gesetzte Rahmen lässt sich gut an Hand der beiden Strategiepapiere [1] und [2] sowie ergänzend an Hand der Hightech-Strategie 2025 [3] und des Gutachtens der Expertenkommission Forschung und Innovation [4] einschätzen. Das Strategiepapier „Digitalisierung gestalten“ [1] ist für die Digitale Transformation das zentrale Dokument. Es enthält Maßnahmen zur Verbesserung der Digitalen Kompetenzen verschiedener Bevölkerungsgruppen (u.a. DigitalPakt Schule), zu Infrastruktur und Ausstattung (u.a. Glasfaserausbau, 5G), zu Innovation und digitale Transformation (u.a. KI, Blockchain, Digitale Medizin, Make-it (FabLabs), Startups, Nachhaltigkeit, Arbeit 4.0, Cybersicherheit), zur Gesellschaft im digitalen Wandel (u.a. Ethik und Algorithmen, Datenökonomie, Digitalisierung und Kultur, Smart Cities, Autonomes Fahren, Digitalisierung und Entwicklungsländer) und zum Modernen Staat (u.a. Digitalisierung der Verwaltung, BIM, digitale Agrarförderung).

Es fällt hingegen sehr schwer, unter der Vielzahl an Einzelmaßnahmen ein „Großes Bild“ zu erkennen, das alle Maßnahmen bündelt und leitet. – Eventuell ist dieses „Große Bild“ auch gar nicht vorhanden.

Auf der Basis verschiedener Publikationen [4], [5], [6] hat die GPM Fachgruppe Agile Management in dem neuen Release 3 ihres Management 4.0 Handbuches [7] den Versuch unternommen, ein „Großes Bild“ der Digitalen Transformation zu skizzieren (Man siehe hierzu auch meine Blog-Beiträge: April 2017: Agile Management und Digitalisierung, passt dies überhaupt zusammen? sowie Januar 2019: Bits to Atoms – Die Dritte Digitale Revolution.)

Abbildung 1: Die Digitale Transformation [7]

Abbildung 1 zeigt dieses „Große Bild“ zur DT: Unten im Bild sind die derzeit sichtbaren Basistechnologien zu sehen, die die Digitale Transformation treiben. – Nicht alle dieser Basistechnologien sind z.B. in [1] berücksichtigt. Ein oder mehrere Basistechnologien kommen in den grün gekennzeichneten Anwendungsfeldern zum Einsatz. Diese Anwendungsfelder treiben die Transformation unserer Gesellschaft – nicht selten werden lediglich die grünen Anwendungsfelder als Aspekte der Transformation benannt: Die heute schon erkennbaren sozialen Auswirkungen der Transformation sind in der Mitte des Bildes als rote Themenbereiche zu sehen. Diese sozialen Themenbereiche habe ich zum Beispiel in keinem der Strategiepapiere der Bundesregierung wahrgenommen. Sie entstehen durch die mit der Digitalisierung verbundene zunehmende soziale und technische Vernetzung. – Die Gesamt-Komplexität wächst, unvorhersehbare Dynamiken bilden sich aus und die Geschwindigkeit der Veränderung nimmt zu. Dies führt zu zentralen Chancen oder Risiken; oben im Bild angedeutet durch jeweils überlappende hellblaue Kreise: Beispielsweise treibt die zunehmende Vernetzung die Ausbildung von Crowd Dynamiken, die im Positiven Bewegungen wie „Fridays for Future“ oder im Negativen leider die globale Koordination nationalsozialistischer oder terroristischer Bewegungen ermöglichen.- In diesem Bild fehlen zwei sehr große Themen, nämlich Cybersicherheit/Cyberkriminalität und die Cyber-Kriegsführung (d.h. Cyber-Angriffe auf bestehende Infrastrukturen und die autonome Kriegsführung mittels entsprechender Waffentechnologien).

Die Autoren der Publikationen [4], [5] und [6] gewichten die Risiken und Chancen völlig unterschiedlich. Während Land [6] eine durchgehend optimistische Sicht auf die Digitale Transformation hat (d.h. die Technologie führt zu Wohlstand für alle), überwiegt bei O’Neil [5] die „Herrschaft“ der Algorithmen. Kucklick [4] nimmt eine mittlere Position ein und betont, dass sich mit der Digitalisierung neue Wirklichkeitsräume eröffnen, die wir bisher nicht gekannt haben. – Und diese neuen Wirklichkeitsräume besitzen Chancen aber auch Risiken. In [8] gehen wir von der Grundannahme aus, dass diese neuen Wirklichkeitsräume durch Komplexität geöffnet werden und wir nehmen an, dass Komplexität die Basis des Seins und des Lebens ist. Komplexität ist also ein Geschenk und treibt unsere Evolution. Geht man davon aus, dass die Digitalisierung heute einer der vorherrschenden Komplexitätstreiber ist, so treibt die Digitalisierung unsere Evolution. Dies ist u.a. auch für Harari der zentrale Grundgedanke der Digitalen Transformation [9, 10].

Im Management 4.0 betrachten wir die Digitale Transformation auf dieser Basis und schließen uns der mittleren Position [4], die Chancen wie Risiken sieht, an: 

Aus Abbildung 1 lassen sich folgende („Große Bild“-) Chancen und Risiken ableiten:

Chancen

  • Die zunehmende Vernetzung treibt unsere Evolution an. – Wir entwickeln neue individuelle und soziale Entwicklungsstufen, die die Makrostruktur der Gesellschaft positiv beeinflussen. (Man siehe hierzu auch meinen Blog-Beitrag vom Februar 2019: Projekte neu gedacht: Entwicklungsstufen, Selbstorganisation und Co-Evolution)
  • Die Wirklichkeit wird immer fein-granularer. – Die Individualisierung der Produkte nimmt zu. In nahezu allen Bereich des Lebens bereichern Innovationen unser Leben. – Z.B. nehmen wir inzwischen schon mit Smartphones und biofeedback-Algorithmen und -Daten (dies sind feingranulare Daten) Einfluss auf unser Verhalten.
  • Die Verlagerung von Entscheidungen auf Algorithmen ermöglicht uns gesellschaftliche Werte und Grundannahmen transparent zu machen.
  • Die Digitalisierung unterstützt die Demokratisierung in Kontinenten wie Afrika.
  • Die Digitalisierung führt zu einer „Befreiung“ von schweren, gefährlichen und langweiligen Tätigkeiten und eröffnet die Möglichkeit sich kreativ zu beschäftigen. Das Arbeiten um der Erwerbstätig wegen verliert an Bedeutung oder verschwindet ganz. 

Risiken

  • Die Gesellschaft teilt sich in „Versteher“ der DT und in „Nicht-Versteher“ der DT: Es gibt eine neue Form der Elite.
  • Die voranschreitende Automatisierung (u.a. KI, Robotik) führt zum Verlust vieler Arbeitsplätze, dies kann die Ungleichheit verstärken und die Demokratie gefährden.
  • Der Faktor Arbeit in der Produktion nimmt weiter ab. Kapital spielt eine noch größere Rolle in Industrie/Produktion.
  • Die Verlagerung in virtuelle Welten begünstigt exponentielle Organisationen (wie google, amazon,..), die eine weltbeherrschende Stellung einnehmen.
  • Die Demokratisierung wird durch die weltbeherrschende Stellung einzelner Organisationen unterlaufen.
  • Algorithmen treffen Entscheidungen: Die individuellen Werte und Grundannahmen der Algorithmen-Ersteller fließen intransparent in die Algorithmen ein. 
  • Crowd-Dynamiken können sich selbst-organisiert bilden oder bewusst eingesetzt werden, um Manipulationen in Gesellschaften vorzunehmen. – Die Demokratie wird unterhöhlt.

Die klare Benennung dieser Chancen und Risiken ist für mich in den Strategiepapieren [1] und [2] nicht erkennbar. In den Strategiepapieren ist eine pauschale Grundannahmen wahrnehmbar: Für das Wohlergehen des Standortes Deutschland ist es unabdingbar, die DT aktiv so zu gestalten, dass wir zu den ersten Staaten mit einer erfolgreichen DT gehören.

Wenden wir die Management 4.0 Prinzipien auf die Sicht der Bundesregierung zur Digitalen Transformation an, ergibt sich folgendes Bild: Die Strategiepapiere [1] und [2] sind Maßnahmenkataloge, die jedoch explizit keine Chancen und Risiken benennen und diesen, auf dieser Basis, Maßnahmen zuordnen. – Es ist nicht nachvollziehbar inwieweit der Maßnahmenkatalog auf etwaige Chancen und die Risiken-Milderung einzahlt. Viel weniger noch kann man nachvollziehen inwieweit die angedachten Maßnahmen zur Selbstorganisation der Gesellschaft beitragen. Denn dies würde den Aufbau einer Hierarchie an Rahmen-, Kontroll- und Ordnungsparameter erfordern und im Maßnahmenkatalog müsste dies u.a. über eine entsprechende Ziel-Hierarchie mit einer klaren Priorisierung abgebildet werden. Hierzu müssten auch Wirkzusammenhänge sichtbar gemacht werden, wie dies in der Betrachtung von Systemdynamiken üblich ist [11]: Die Maßnahmen müssten als Interventionen in das System betrachtet werden, und sind hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu monitoren. – Ein Monitoring ist in den Strategiepapieren vorgesehen, es ist jedoch fraglich, ob dieses über das reine Umsetzungsmonitoring hinaus geht und die Wirksamkeit des Maßnahmen-Netzwerkes als Ganzes berücksichtigt.

Für den Teilbereich (Projekt-) Arbeit und (Projekt-) Management, den die GPM (wahrscheinlich) beeinflussen kann, sehe ich folgende Konsequenzen für die projektorientierte Organisation:

Ausbau der Physical Technologies Kompetenz

Ich nehme an, dass die Anzahl an Projekten mit Schwerpunkt Digitalisierung deutlich zunehmen wird. Für das Kompetenzprofil der Projektmitglieder und insbesondere der Projektmanager hat dies enorme Konsequenzen. Dies erfordert eine sehr gute Physical Technologies Kompetenz in den Basistechnologien wie KI und Blochchain. Darauf aufbauend ist spezifisches digitales Anwendungswissen zu erwerben (siehe Abbildung 1): Vielfach kann dieses in GPM Fachgruppen verortet werden (z.B. Autonomous Mobility in der Fachgruppe Automotive PM oder Smart Health in der Fachgruppe PM-Healthcare, usw. ).

Ausbau der Social Technologies Kompetenz

Da mit der Digitalisierung immer mehr Prozesse, Transaktionen und Strukturen in digitale Systeme (u.a. via Künstliche Intelligenz und Blockchain) verlagert werden, werden damit auch bisherige implizite Werte und Grundannahmen und auch explizite Normen und Strukturen in digitalen Systemen abgebildet. Projektteilnehmer und insbesondere Projektmanager, die diese digitalen Systeme erstellen, müssen über entsprechende Social Technologies Kompetenz verfügen, um diese Verlagerung ethisch verantwortungsvoll durchzuführen.

Ausbau der Digitale Transformation Kompetenz

Mit der Digitalen Transformation werden digitale Werkzeuge auch zunehmend in die Projektarbeit und in das (Projekt-) Management Einzug halten. Hiermit sind nicht die schon seit langem bekannten (digitalen) PM-Werkzeuge gemeint, sondern, z.B.

  • Einsatz von KI zur Planung und Steuerung von Projekten (Hierzu sind entsprechende Daten vergangener Projekte zu sammeln und für das KI-Training verfügbar zu machen).  
  • Einsatz von innovativen Kollaborationswerkzeugen (man siehe hierzu auch das Kapitel 4.2 ‚Agile Leadership 4.0 – Digital Network Intelligence‘ des Release 3 unseres Handbuches Management 4.0 [7])
  • Einsatz von sogenannten People Analytics [12], [13] Werkzeugen, die helfen soziale Interaktionen bewusster im Hinblick auf ein Ziel oder eine Ziel-Hierarchie auszugestalten. Hierzu zählt u.a. die digital unterstütze Auswahl von Teammitgliedern und das Tracken und Monitoren von Verhaltensweisen im Hinblick auf Team- und Organisations-Performance. People Analytics ist ein Teilbereich der Social Technologies Kompetenz und hat einen direkten Bezug zum Thema „feingranulare Gesellschaft“.– Diese Werkzeuge basieren teilweise auf den in [8] und [7] beschriebenen Modellen und Methoden und gehen inzwischen an vielen Stellen durch die KI-Anwendung in People Analytics darüber hinaus (man siehe hierzu auch meine Blog Beiträge: April 2017: Agile Management und Digitalisierung, passt dies überhaupt zusammen? sowie Juni 2018: Von Glaubenssätzen, Zeitreisen und der Digitalisierung).
  • Einsatz von neuen Transaktionswerkzeugen auf der Basis von Blockchain, um das Vertrags- und Claim-Management transparenter und sicherer zu gestalten.

Die nachfolgende Tabelle fasst zusammen, wie diese o.g. Konsequenzen, als Management 4.0 Maßnahmen umgesetzt, auf die Chancen bzw. die Risiko-Milderung einzahlen:

Chancen Risiken „Einzahlungen“ der (Projekt-) Arbeit und des (Projekt-) Managements
Die zunehmende Vernetzung treibt unsere Evolution an. Wir entwickeln neue Entwicklungsstufen, die die Makrostruktur der Gesellschaft positiv beeinflussen.




Die Gesellschaft teilt sich in „Versteher“ der DT und in „Nicht-Versteher“ der DT: Es gibt eine neue Form von Eliten.   Crowd-Dynamiken können sich selbstorganisiert bilden und bewusst eingesetzt werden, um Manipulationen in Gesellschaften vorzunehmen und die Demokratie zu unterhöhlen.   Die Social Technologies Kompetenz aller (Projekt-) Mitarbeiter ist deutlich auszubauen, weil:   Die Komplexität steigt und es damit notwendig wird, Kompetenzen zur Erkennung von komplexen sozialen (Makro-) Mustern zu entwickeln, um kompetent agil intervenieren zu können.

People Analytics Technologien werden immer mehr eingesetzt: Damit wir nicht zu deren Sklaven werden, sollten wir sie verstehen und ggf. regulieren können.


Die Wirklichkeit wird immer fein-granularer. – Die Individualisierung der Produkte nimmt zu. In nahezu allen Bereich des Lebens bereichern Innovationen unser Leben. Die Verlagerung in virtuelle Welten begünstigt exponentielle Organisationen, die eine weltbeherrschende Stellung einnehmen.





 
Individuen, Teams und Unternehmen sollten Komplexitäts-Kompetenzen aufbauen, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft einschätzen zu können und ggf. regulieren zu können.






Die Verlagerung von Entscheidungen auf Algorithmen zwingt uns dazu gesellschaftliche Werte und Grundannahmen transparent zu machen.   Algorithmen treffen Entscheidungen: Die individuellen Werte und Grundannahmen der Algorithmen-Ersteller fließen intransparent in die Algorithmen ein.

   
Ein Projektteam sollte über Physcial und Social Technologies Kompetenzen verfügen, um Werte und Grundannahmen in Algorithmen und bei der Auswahl von KI-Trainingsdaten sichtbar zu machen und ggf. regulieren zu können.



Die Digitalisierung unterstützt die Demokratisierung in Kontinenten wie Afrika.








Die voranschreitende Automatisierung (Robotik) führt zum Verlust vieler Arbeitsplätze, dies kann die Ungleichheit verstärken und die Demokratie gefährden.   Die Demokratisierung wird durch die weltbeherrschende Stellung einzelner Organisationen unterlaufen. Der verantwortungs-bewussten Führungskraft kommt in der DT eine ganz besondere Rolle zu: Der Beitrag zur Wertschöpfung durch Projekte wird wachsen, zusätzlichen werden die Projekte immer komplexer und erfordern einen mentalen Entwicklungssprung (einen „v-Mem Sprung“ im Mindset). Dieser „Sprung“ ist bewusst zu gestalten.




Die Digitalisierung führt zu einer „Befreiung“ von schweren, gefährlichen und langweiligen Tätigkeiten und eröffnet die Möglichkeit sich kreativ zu beschäftigen. Die Erwerbstätig verliert an Bedeutung oder verschwindet ganz.  Der Faktor Arbeit in der Produktion nimmt weiter ab. Kapital spielt eine noch größere Rolle in der Industrie/Produktion.










Projekte werden zunehmend Linientätigkeiten verdrängen, deshalb kommt einer nachhaltigen Projektarbeit eine ganz besondere Aufgabe für die Gestaltung unserer Zukunft zu. Diese Nachhaltigkeit sollte ganzheitlich sein und erfordert eine bewusste Ausgestaltung des organisationalen Mindsets: Die „Führung“ durch Prozesse und Strukturen geht zunehmend verloren und ist durch die Gestaltung von Governance für die bewussten „Führung“ des organisationalen Mindsets (Kultur) zu ersetzen.

[0] Digitale Transformation (2019)
https://de.wikipedia.org/wiki/Digitale_Transformation

In Kurzform definiere ich die Digitale Transformation wie folgt: Die Digitale Transformation ist ein Prozess, in dem digitale Technologien die soziale und technische Vernetzung und Dynamik so stark treiben, dass neue Muster der sozialen Evolution entstehen.

[1] Bundesregierung (2018a) Digitalisierung gestalten – Umsetzungsstrategie der Bundesregierung, 3. Überarbeitete Auflage, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Berlin, www.digital-made-in.de

[2] Bundesregierung (2018b) Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung, Berlin, www.ki-strategie-deutschland.de

[3] Bundesregierung (2018c) Forschung und Innovation für die Menschen – Die Hightech-Strategie 2025, Berlin, https://www.hightech-strategie.de/

[3] EFI (2019) Gutachten zu Forschung, Innovation und Technologischer Leistungsfähigkeit, EFI Expertenkommission Forschung und Innovation, Berlin, www.e-fi.de

[4] Kucklick Christoph (2016) Die granulare Gesellschaft: Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst, Ullstein Taschenbuch, Kindle edition

[5] O’Neil Cathy (2016) Weapons of Math Destruction: How Big Data Increases Inequality and Threatens Democracy, Allen Lane, Kindle edition

[6] Land Karl-Heinz (2018) Erde 5.0: Die Zukunft Provozieren, futurevisionpress e.K., Kindle edition

[7] Oswald A, Müller W (Hrsg.) (2019) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 3.0“, BoD, Norderstedt

[8] Oswald A, Köhler J and Schmitt R (2016) Projekt Management am Rande des Chaos, oder in der englischen Version: (2018) Project Management at the Edge of Chaos, Springer Heidelberg

[9] Harari, Yuval (2017) Homo Deus: A Brief history of tomorrow, Harper

[10] Harari (2018) https://www.youtube.com/watch?v=FSloTpkHYYI

[11] Vester F (2002) Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität, Ein Bericht an den Club of Rome, dtv Verlagsgesellschaft

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/People_Analytics

[13] https://pafow.com/

Projekt-Controlling, alles eine Frage der richtigen Werkzeuge!?

Im sogenannten klassischen oder traditionellen Projektmanagement gehören die Werkzeuge des Projekt-Controllings zu den am besten ausgearbeiteten Projektmanagement-Werkzeugen. Mit dem Auftauchen des Agilen Managements macht sich die „Angst“ breit, dass diese Werkzeuge nicht mehr verwendet werden können oder zu mindestens stark anpasst werden müssen. Dieses Anpassen von klassischen und agilen Techniken, oder das „Verheiraten“ von klassischen und agilen Controlling Techniken wird sehr oft als eine Kerneigenschaft des sogenannten Hybriden Projektmanagements angesehen. 

In Kapitel 3.2 des neu erschienen GPM Handbuches Kompetenzbasiertes Projektmanagement (PM4) [1] wird Projekt-Controlling bzw. Controlling wie folgt beschrieben: „Controlling (Anglizismus, abgeleitet vom englischen Verb to control, steuern, lenken) wird generell als Teilfunktion der Organisationsführung bzw. des Managements verstanden. Das Controlling unterstützt die Organisationsführung durch Koordinations- und Kontrollaufgaben und Aufbereitung notwendiger Informationen. Hierbei kann operatives von strategischem Controlling differenziert werden. Nach der DIN 69901 steht Projektcontrolling für die »Sicherung des Erreichens der Projektziele durch: Soll-Ist-Vergleich, Feststellung der Abweichungen, Bewerten der Konsequenzen und Vorschlagen von Korrekturmaßnahmen, Mitwirkung bei der Maßnahmenplanung und Kontrolle der Durchführung«. Das Projektcontrolling muss in einer definierten Rhythmik die Statusinformationen zu allen drei Zielgrößen eines Projekts erfassen: Zum Fortschrittsgrad, zu den Kosten und Arbeitsaufwänden und zur Terminsituation. …“

Hiernach könnte man den Eindruck gewinnen, dass es vor allem um Werkzeuge geht. In den Trainings zum Management 4.0 werden zu Beginn seitens der Teilnehmer oft die folgenden Fragen gestellt: „Wie bringe ich die agilen Methoden mit den klassischen (Controlling-) Methoden zusammen? Wie sehen also die hybriden Methoden aus?“ Nicht selten wird auch bezweifelt, dass es im Agilen überhaupt einen „richtigen“ Soll-Ist-Vergleich gibt. Und da es keinen „richtigen“ Soll-Ist-Vergleich gibt, kann es auch kein Controlling geben. Denn vielfach wird Agilität mit dem Fehlen von Plan-, Soll- und Ist-Vergleich gleichgesetzt. Nicht selten vertreten Personen, die sich als Agile sehen – weil sie Handlungsrahmen wie Scrum verwenden – dieses Verständnis.

Um die oben gestellten Fragen zu beantworten, wende ich die schon aus anderen Blog-Beiträgen bekannte Management 4.0 – Faustformel auf eine beliebige Organisation an:

Management = Mindset*Governance*Technik.

Abbildung 1 skizziert auf dieser Basis das übliche Verständnis Hybriden Projektmanagements: Ein Unternehmen mit klassischem Mindset, klassischer Governance und klassischen Techniken ist bereit in einem bestimmten Bereich (z.B. einer Abteilung oder einem Team) agile Techniken einzusetzen.

Abbildung 1: Übliches Verständnis Hybriden Projektmanagements

Das Mindset und die Governance der Organisation sind der Organisation beide (oft) nicht wirklich bekannt. Sie werden selten hinterfragt und können deshalb auch bei Bedarf nicht transformiert werden: Soweit es in der Praxis nicht wehtut (!), setzt man agile Werkzeuge neben klassischen Werkzeugen ein. Für das Controlling eines Projektes mit Hybridem Projektmanagement heißt dies zum Beispiel: Zu Projektbeginn werden Scope, Budget und Zeitrahmen vereinbart; das Management möchte in bestimmten Zeitabständen mittels eines Statusberichtes über den Projektstand informiert werden. Der Statusbericht enthält die sehr beliebte Ampelfunktion. – Diese ist besonders beim Management beliebt, weil dieses sich nicht mit allzu vielen Details beschäftigen möchte und in der entsprechenden Steuerungssitzung soll es auch möglichst schnell gehen. – In jedem Fall, so haben viele Projektleiter gelernt, sollte der Statusbericht hübsch anzusehen sein. – Das kann schon mal heißen, dass man mehr Zeit auf das Layout des Statusberichtes verwendet, als auf den Inhalt.

Soweit so gut: Nehmen wir an, das Projekt oder ein Teilprojekt soll mittels des Handlungsrahmens Scrum hybrid durchgeführt werden. Hierzu erhält das entsprechende Team ein Training, meistens nur 1-3 Tage. Vielfach glaubt das Scrum-Team nach dem Training, dass sich Agilität dadurch auszeichnet, dass ein Produkt-Backlog verwendet wird, das man möglichst flexibel hält, indem man keinen Projekt-Scope definiert. Damit ist das Dilemma perfekt: Die agilen Werkzeuge lassen sich nicht mit den klassischen Werkzeugen verbinden.  

Einige im Team werden sagen: „Gut dann definieren wir einen Scope und schätzen das Produkt-Backlog ab.“ Gesagt getan und schon lassen sich agile und klassische Projektcontrolling Werkzeuge zum hybriden Werkzeugkasten verheiraten. Doch das Problem lässt im Normalfall nicht lange auf sich warten: Der mit dem Management vereinbarte Scope, so vage er auch sein mag, ruft intransparente Erwartungshaltungen bei den Stakeholdern hervor. Meistens ist es auch nicht eine einheitliche Erwartungshaltung, sondern viele Stakeholder haben viele Erwartungshaltungen. Diese Erwartungshaltungen ändern sich wahrscheinlich auch völlig intransparent mit der Zeit. Die Flexibilität bleibt auf der Strecke und das Resultat ist ein Kampf, der in der Organisation als Kampf „agil gegen klassisch“ bezeichnet wird.

Im Folgenden will ich versuchen zu erläutern, warum ich behaupte: Es ist (oft) kein Kampf „agil gegen klassisch“, sondern es ist (oft) ein Kampf „klassisch gegen klassisch“.

Um dies verständlich zu machen, benutze ich Abbildung 2. Abbildung 2 zeigt zwei sogenannte Neuroleadership-Profile [2, 3] auf der Basis der vier aus der Neuropsychologie bekannten Grundbedürfnisse mit den zugeordneten Motiven (z.B. Teamorientierung, Autonomie,…) des Reiss-Motiv-Profils sowie den zugeordneten Unternehmenswerte-Clustern (Konsenswerte, Bürokratiewerte,…). Zusätzlich sind die value-Meme des Bewusstseins- und Kulturmodells Spiral Dynamics verortet. – Im Management 4.0 Training erfahren die Teilnehmer auf dieser Basis die Bedeutung von Werten und Motiven für Ihre persönliche Agilität und die des eigenen Unternehmens.     

Abbildung 2: Neuroleadership-Profile, Grundbedürfnisse und value-Meme.

Zu sehen ist in der Abbildung ein rotes Neuroleadership-Profil (rote Raute), das ich als typisches klassisches v-Mem Profil bezeichne und ein hellblaues Neuroleadership-Profil (blaue Raute), das ich als typisches agiles v-Mem-Profil bezeichne. Die Profile können die Werte-Profile zweier Organisationen, zweier Menschen oder auch die Wechselwirkung zwischen einem Menschen und seiner Organisation beschreiben. Auf der Dilts Pyramide sind die Neuroleadership-Profile auf den Ebenen Identität sowie Werte und Grundannahmen angesiedelt. (Man siehe hierzu auch den Blog-Beitrag „Projekte neu gedacht: Entwicklungsstufen, Selbstorganisation und Co-Evolution“.) Die Aussage von Abbildung 2 ist, dass typische klassische Organisationen eine v-Mem Orientierung in Richtung von Macht und Status sowie Ordnung und Kontrolle haben. Die anderen v-Meme sind zwar vorhanden, sie spielen jedoch keine entscheidende Rolle. Im agilen Mindset spielen die grünen v-Meme eine entscheidende Rolle: Die grüne Werteorientierung gegenüber Mensch und Natur öffnet wie ein Schlüssel den Weg zur Agilität (man siehe auch den Blog-Beitrag: Projekte neu gedacht: Entwicklungsstufen, Selbstorganisation und Co-Evolution).

Was heißt dies für unser Beispiel aus dem Projekt-Controlling?

Falls die Organisation ein übliches Hybrides Projektmanagement wie in Abbildung 2 skizziert, verfolgt, dann verbleibt sie in ihren bisherigen vorherrschenden roten und blauen v-Memen. Das Projekt oder Teilprojekt, das wie oben Scrum einsetzt, verbleibt ebenfalls in diesen v-Memen. Scrum wird als Methode angewendet, die man weitgehend strikt zu befolgen hat. Oft wird es im Team Personen geben, die auf die Einhaltung der Methode pochen (sie leben also so ihr v-Mem Ordnung und Kontrolle), andere wiederum werden mehr durch den organisationalen Kontext geführt und sie leben die v-Meme Ordnung und Kontrolle durch die an sie herangetragene organisationale Macht in dem sie mehr auf die Wünsche des Managements eingehen. In beiden Fällen spielen agile Werte und Grundannahmen kaum eine Rolle. Das Verständnis der Selbstorganisations-Prinzipien ist nicht vorhanden. Damit verbunden sind z.B. folgende meist unbewusste organisationale Werte und Grundannahmen (diese können je nach Individuum mehr oder weniger stark ausgeprägt sein):

  • Methoden sind einzuhalten. – Das Nicht-Einhalten erzeugt Stress. Der Einsatz von Methoden und das damit verbundene Handeln ist unabhängig vom Komplexitätsgrad des Projektes: Es ist (immer) möglich einen festen Scope anzugeben und über Macht und Status wird die Einhaltung des bisherigen Ordnungs- und Kontrollsystems eingefordert.
  • Wenn eine Methode (der Scope) nicht einhaltbar ist, hat dies etwas mit Unfähigkeit zu tun: Sei es, dass einzelne Mitarbeiter unfähig sind oder dass die Methode nur unzureichend eingehalten wird.
  • Die Umsetzung des Projektes hat nichts mit der Erwartung der Stakeholder zu tun, die Ziele des Projektes sind hinreichend gut beschrieben und es obliegt der Professionalität des Projektteams bzw. des Projektmanagements diese umzusetzen.

Diese drei Beispiel-Leitplanken zu Werten und Grundannahmen bilden die unbewusste Basis der klassischen (Controlling-) Governance. Sehr oft werden in der klassischen Praxis diese Leitplanken durch weitere Prozesse und Regeln detailliert und implementiert, jedoch meistens ohne, dass die zugrundeliegenden Werte und Grundannahmen bekannt sind bzw. hinterfragt werden. 

Bei einem organisationalen Agilen Mindset könnten sich z.B. folgende Governance-Leitplanken ergeben:

  • Methoden sind an den Kontext anzupassen. Die zugrundeliegenden Werte und Grundannahmen sind hierzu offen zu legen. Der Komplexitätsgrad eines Projektes bestimmt ganz massiv den Einsatz von Methoden und das Handeln in der gesamten Organisation. Der Komplexitätsgrad eines Projektes ist transparent für alle zu bestimmen, anzunehmen und kontinuierlich zu monitoren. – Er ist ein Basis Controlling-Werkzeug. Macht und Status spielen kein gestaltendes Element mehr. Das Ordnungs- und Kontrollsystem wird lediglich als Leitplanke verstanden und ist an das jeweilige Projekt anzupassen.
  • Der Scope wird als planerisches Objekt verstanden, nach dem Motto: Die Planung ist sehr wichtig, sie unterstützt das Denken in Systemen. Der Plan ist unwichtig, denn in einem komplexen Umfeld ist der Plan kontinuierlich anzupassen. Die Änderung des Scope wird nicht irgendeiner Unfähigkeit angelastet, sondern ergibt sich aus der Komplexität der Aufgabenstellung.
  • Alle Stakeholder gehören zum organisationalen System, und sind mitverantwortlich für den Erfolg. Deshalb ist es wichtig, ein Stakeholdermanagement zu betreiben, das alle mentalen Modelle transparent offenlegt. Das Offenlegen mentaler Modelle scheitert nicht an einer Hierarchie, die sich über Macht und Status definiert. – Bei Projektbedarf wird in das Offenlegen mentaler Modelle investiert, z.B. mittels entsprechender Workshops.     

Leider wird beim üblichen Verständnis Hybriden Projektmanagements keine Mindset-und keine Governance-Veränderungsarbeit durchgeführt. Die Agilen Techniken werden so trainiert und erlernt, wie Jahrzehnte vorher auch: Das Lernen verbleibt im Wesentlichen auf dem Lernlevel I, selten wird das Lernlevel II erreicht (man siehe auch den Blog-Beitrag: Projekte neu gedacht: Entwicklungsstufen, Selbstorganisation und Co-Evolution). Man kann dies leicht daran erkennen, dass die auf der Verhaltensebene erlernten Techniken wie ein Regelwerk angewendet werden und auch entsprechend „strikt“ in der Praxis verteidigt werden. Oberflächlich betrachtet werden Agile Techniken eingesetzt, jedoch ohne dass sich das „mentale oder kulturelle Betriebssystem“ geändert hat.

Und genau dies bezeichnet für mich den Kampf „klassisch gegen klassisch“. Der Vollständigkeit halber erwähne ich auch, dass es natürlich auch den Kampf „agil gegen klassisch“ gibt, nämlich dann, wenn auf einer organisationalen Insel im besten Sinne agil gearbeitet wird, jedoch das Umfeld sich weiterhin klassisch verhält. – Dies ist ein weiteres Szenario hybriden Arbeitens, das wir im Management 4.0 unterscheiden. In diesem Falle hat das entsprechende Projekt oder Teilprojekt zwar ein Agiles Mindset und eine Agile Governance, jedoch kommt es an der Schnittstelle zum übrigen organisationalen Umfeld zu erheblichen Reibungsverlusten. Diese Reibungsverluste können auch selten minimiert werden, außer wenn über Macht agile Insel und Umfeld weitgehend voneinander entkoppelt werden (d.h. eine Führungskraft ihre schützende Hand über die Insel hält). Dies führt dann auch zur Entkopplung des Projekt-Controllings und den Controlling Bedürfnissen der Organisation.

Das Verständnis das dem GPM – Zusatzzertifikat hybrid + zugrunde liegt ist das folgende, dritte hybride Szenario [4]:

Hybrides Projektmanagement basiert auf einer agilen Denkweise, wendet Agiles Management 4.0 an und ergänzt dieses soweit sinnvoll durch Modelle und Methoden des traditionellen Projektmanagements.

Agiles Management ist eine Führungs- und Managementpraxis, um in einem komplexen und von Unsicherheit gekennzeichneten Handlungsfeld agil und proaktiv agieren zu können. Es ist gekennzeichnet durch einen agilen Mindset mit dem Fokus auf:

  • einer Führung, deren Grundlage die Selbstführung ist
  • einer Führung, die auf den Grundbedürfnissen der Menschen fußt
  • einer Führung, die das Verständnis komplexer Systeme fordert sowie deren Regulation durch ein iteratives Vorgehen fördert
  • Menschen, die sich in Teams selbst organisieren
  • Fluide Organisationen, die das anpassungsfähige und schnelle Liefern von nutzbaren Ergebnissen fördern und durch den proaktiven Umgang mit Veränderungen innovative Kundenlösungen schaffen.

In diesem dritten Szenario werden in Abbildung 1 das Klassische Mindset und weitgehend auch die Klassische Governance durch ein Agiles Mindset und eine Agile Governance ersetzt. Lediglich die klassischen Techniken werden beibehalten und können jetzt je nach Bedarf ohne große Reibungsverluste verwendet werden und mit agilen Techniken zu hybriden Techniken kombiniert werden.

Damit ist die Wirksamkeit des Controllings nicht mehr eine Frage von Werkzeugen sondern eine von Mindset und Governance.  

[1] PM4 (2109) Kompetenzbasiertes Projektmanagement (PM4), Kapitel 3.2 Governance, Strukturen und Prozesse, Adobe Digital Edition, GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e.V., Nürnberg

[2] Oswald A, Müller W (Hrsg.) (2018) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, Release 2.0“, BoD, Norderstedt

[3] Oswald A, Köhler J, Schmitt R. (2017) Projektmanagement am Rande des Chaos, 2. Auflage, Springer, Heidelberg, auch in Englisch verfügbar: Project Management at the Edge of Chaos (2018), Springer, Heidelberg

[4] Leitfaden für das Zusatzzertifikat hybrid + (2019)  https://www.gpm-ipma.de/zertifizierung/projektmanager/zusatzzertifikat_hybrid_gpm.html, GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e.V., Nürnberg