Projekte neu gedacht!? Oder vom Nutzen der Forschung!?

Die Zeitschrift Führung und Organisation (ZFO) hat ihre Ausgabe 5/2018 (vom September/Oktober) dem Thema „Projektorientierte Organisation“ gewidmet.  Auf der Fahrt zu einem Treffen von Projektmanagement Experten, das unter dem Arbeitstitel stand „Projekte neu gedacht“, habe ich mir die Frage gestellt „Was heißt dies überhaupt: Projekte neu gedacht?“. Hierzu habe ich mir einige der Artikel der aktuellen ZFO Ausgabe angesehen [1], [2], [3] und versucht mir die Frage zu beantworten, ob diese Artikel in bestimmten Perspektiven „Projekte neu gedacht haben“. Gleichzeitig habe ich den Versuch unternommen, diese Perspektiven an meinen Perspektiven zu spiegeln.

Die Artikel in ZFO werden sehr stark durch Autoren aus der universitären Forschung geprägt. Dementsprechend kann man zuerst einmal davon ausgehen, dass in den Artikeln neue Erkenntnisse aus der Forschung eingearbeitet sind und damit die Hypothese „Projekte neu gedacht!“ durchaus berechtigt ist.

Schauen wir uns den ersten Beitrag an [1]: Hier geht es darum, dass die erfolgreiche Entwicklung und Implementierung einer projektorientierten Organisation nur dann gelingt, wenn „das obere Management die Veränderung initiiert und treibt, dabei aber partizipativ führt und den mittleren Führungskräften einen Gestaltungsfreiraum gewährt, oder bei denen die Initiativen aus dem mittleren und unteren Management aufgegriffen und unterstützt werden, indem sie die erforderliche Legitimation und Ressourcenausstattung erhalten.“ Des weiteren verwenden die Autoren ein Promotorenmodell aus den 70er Jahren, das zwischen Macht-, Fach- und Prozesspromotoren unterscheidet, um die verschiedenen Schlüsselpersonen einer Transformation zu „klassifizieren“ und ihre Wirkung auf den Erfolg der Transformation zu untersuchen. Das Ergebnis ist, „alle drei Schlüsselrollen der Promotoren-Troika müssen angenommen werden, um eine komplexe Managementinnovation (meine Anm.: also hier die Einführung einer projektorientierten Organisation) umzusetzen.

Ich glaube, dass dies für die meisten Projektmanager (mit Transformationserfahrung) keine neue Erkenntnis sein dürfte. Im Management 4.0 Ansatz gehen wir deshalb einen deutlichen Schritt weiter [4], [5]. Die Einführung einer komplexen Managementinnovation kann nur gelingen, wenn:

  • Alle Hierarchieebenen an der damit verbundenen Transformation mit Schlüsselpersonen beteiligt sind (Rahmenparameter der Selbstorganisation): Die Auswahl der Schlüsselpersonen hängt nicht nur von ihrer Macht-, Fach-, und Prozesskompetenz ab, sondern auch ganz entscheidend von ihrer Persönlichkeit und der damit verbundenen Fähigkeit Meta-Kompetenz zu zeigen und Selbstorganisation zu gestalten sowie von der Einbindung in das soziale Netzwerk der Organisation. Die Art und Struktur der Einbindung hat eine nicht unerhebliche Auswirkung auf die Wirksamkeit der Schlüsselpersonen.
  • Das Mindset aller Schlüsselpersonen aller Hierarchieebenen darf in den Werten und Grundannahmen keine mentalen Blockaden erzeugt, im Idealfall sollte sogar eine persönlichkeitsorientierte Team-Kommunikation befördert werden (Kontrollparameter der Selbstorganisation). Eventuell auftretende Blockaden sind durch Team-Coaching Interventionen aufzulösen.
  • Die Ausrichtung auf ein Ziel erfolgt über eine gemeinsam erarbeitete Ziel-Hierarchie aller Schlüsselpersonen (Ordnungsparameter der Selbstorganisation), so dass für alle Schlüsselpersonen ein gemeinsames Großes Bild entsteht und damit Sinn erzeugt wird.

Schauen wir uns den zweiten Beitrag an [2]: „Governance – als struktureller Versuch, Management zu steuern kann die erwartete Wirkung haben, aber nur dann, wenn sie durch eine menschliche Dimension ergänzt wird, die als Governmentality bezeichnet wird.“ Governance wird also „Gestaltungsrahmen für Manager für ihre Aufgaben – die Art und Weise wie Manager für ihre Arbeit zur Rechenschaft gezogen werden – die Strukturen, Politiken, Prozesse etc.“ angesehen. Governmentality sind die „Arten der Interaktion, um den Gestaltungsrahmen zu implementieren und zu erhalten – die Art und Weise wie die Führenden mit den Geführten umgehen.“ „Governance ist der strukturelle Kontext, in dem Governmentality stattfindet und wirkt, daher ist es eine Kontextvariable, keine unabhängige Variable mit direktem Einfluss auf die Projektleistung.“ Es wurde besonders betont, dass im Jahre 2017 Forscher in einer Studie zeigen konnten, „dass die Governmentality direkte Wirkung auf den Erfolg auf Projekt- und Organisationsebene besitzt, während die Governance nur indirekt durch die Interaktion mit der Governmentality Auswirkung auf die Performance hat und dass die Wechselwirkung zwischen Governance und Governmentality für die Leistung von Projekt und Organisation entscheidend ist. Es ist daher wichtig, dass die Governmentality einen hohen Fit zum Kontext, den die Governance setzt, aufweist, wenn sie das Verhalten leistungsfördernd beeinflussen soll.“

Sieht man davon ab, dass mit Governmentality ein Begriff (wohl schon in den 50er Jahren) eingeführt wurde, den man meines Erachtens durch den Begriff „Agiles Mindset“ ersetzen kann, so ist das zitierte Forschungsergebnis aus dem Jahre 2017, von großer Bedeutung für die Bestätigung des Management 4.0 Konzeptes: Management 4.0 betont die enorme Bedeutung des Agilen Mindsets, das einerseits über Führung am System eine Governance designed und implementiert, also die Selbstorganisation möglich macht, und andererseits über Führung im System diese Governance so ausgestaltet, dass sie wirken kann. Dieses mündet in die Faustformel ‚Management 4.0 = Agiles Mindset * Agile Governance* agile oder planorientierte Arbeitstechniken’.  Die mit weitem Abstand größte Hebelwirkung liegt beim Agilen Mindset, das die Agile Governance à la Selbstorganisation mit Leben füllt. Damit erhalten die zitierten empirischen Befunde im Lichte der Theorie der Selbstorganisation eine deutlich weitreichendere Bedeutung, denn sie weisen – wie viele andere empirische Befunde auch – darauf hin, dass die aus der Natur bekannten universellen Prinzipien auch für soziale Systeme anwendbar sind und vor allem werden diese empirischen Befunde damit erst wirklich verstehbar.

Wenden wir uns dem dritten Artikel zu [3]: Der Artikel „Agilität braucht Stabilität“ basiert auf folgender zentraler Aussage: „Nach den empirischen Erkenntnisse … (meine Anm.: aus den Jahren 2010 und 2013) verfügen stark anpassungsfähige Unternehmen zugleich über eine starke Identität.  Langfristig erfolgreiche Unternehmen sind … sowohl ‚rapid adopters’ als auch ‚champions in stability’. Diese Unternehmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht in revolutionärer Weise alles infrage stellen, sondern permanent in Bewegung bleiben und sich eher evolutionär an sich verändernde Marktbedingungen anpassen. Eine starke Identität scheint also kein hemmender Faktor, sondern ein geradezu begünstigender Faktor für Langlebigkeit zu sein.“  Als Erklärung für diese empirischen Befunde wird das AGIL-Schema von Talcott Parsons aus den 1950er Jahren herangezogen. Aus der empirischen Kleingruppenforschung hat er sein AGIL-Schema abgeleitet. Die Kleingruppen haben nämlich nach Parsons nur dann dauerhaft Bestand, wenn vier grundlegende Funktionen erfüllt sind:

  • „Adapation (Anpassung/Zukunftsbezug): Die Fähigkeit eines sozialen Systems, auf die sich ändernden äußeren Bedingungen zu reagieren und sich entsprechend anzupassen.
  • Goal Attainment (Zielverfolgung/Zukunftsbezug): Die Fähigkeit eines sozialen Systems, eigene Ziele zu definieren und zu verfolgen (langfristige Programme und Strategien).
  • Integration (Eingliederung/Gegenwartsbezug): Die Fähigkeit eines sozialen Systems, Kohäsion (Zusammenhalt) und Inklusion (Einschluss) im Inneren herzustellen und abzusichern (Rollen, Positionen, Arbeitsorganisation etc.).
  • Latency bzw. Latent Pattern Maintenance (Aufrechterhaltung/Gegenwartsbezug): Die Fähigkeit eines sozialen Systems, zur dauerhaften Gewährleistung seiner inneren Ordnung grundlegende Werte und Normen auszubilden und aufrechtzuerhalten (Identität, Kultur).“

Die Autoren des Artikels ziehen hieraus folgende Konsequenz: „Während ‚Adapation’ und ‚Goal Attainment’ für Anpassung und Veränderung eines sozialen Systems stehen (Agilität), sichern ‚Integration’ und ‚Latency’ die Ordnung, die Normen und Werte des Systems (Stabilität).“

Parsons hat in den 50er Jahren mit seinem AGIL-Schema – ohne es zu wissen – die zentralen Parameter der Selbstorganisation genannt, wenngleich der tiefere Zusammenhang (damals natürlich) im Dunkeln blieb: Die Fähigkeit zur Anpassung einer Person ist direkt mit deren Mindset verbunden; die Fähigkeit einer Organisation sich an den Kontext anzupassen ist direkt mit deren organisationalem Mindset verbunden. Im Management 4.0 wird gezeigt, dass ein Mindset sowohl zur Flexibilität als auch zur „Starrheit“ befähigen kann. Der Übergang von Identität wahrender Stabilität zur die Anpassung verhindernden „Starrheit“ ist fließend.  Gleichwohl ist es wichtig, dass die Werte und Glaubenssätze einer Organisation wirklich wertgeschätzt werden (diese Wertschätzung ist ein Kontrollparameter), denn sie sind die Manifestationen von Erfahrungen. Solche Manifestationen ohne triftige Gründe über Bord zu werfen, ist weder klug noch sinnvoll: Denn damit werden Erfahrungen entwertet und mentale Blockaden bei den Betroffenen hervorgerufen. Integration und Latency stehen für eine persönlichkeitsorientierte Kommunikation, die das in der Vergangenheit durch Erfahrung gewonnene organisationale Mindset wertschätzt.  Bei Bedarf helfen Coaching-Interventionen dieses Mindset zu hinterfragen und ggf. zu transformieren, um sich besser an den Kontext anzupassen.

Damit steht Adaption für die Anpassung an einen (für die Organisation von außen gegebenen) Rahmenparameter, Integration und Latency für die Ausgestaltung des Kontrollparameters innerhalb der Organisation (im zweiten Beitrag wurde dies mit dem Begriff Governmentality verbunden) und Goal Attainment für die kollektive Ausrichtung an einer gemeinsamen Ziel-Hierarchie.

Insgesamt ziehe ich für alle drei Artikel die Schlussfolgerung, dass sie nicht wirklich ‚Projekte neu gedacht’ haben. Einzelne empirische Befunde, die durchaus Bewegung in ein ‚Projekte neu gedacht’ bringen könnten, werden im Lichte von 50 Jahre alten Modellen und Theorien interpretiert. Diese haben sicherlich ihre Verdienste, deren Alter zeigt aber auch auf eine grundsätzliche Schwäche der Forschung zu projektorientierten Organisationen.

[1] Lehner Patrick und Gemünden Hans Georg (2018) Eine projektorientierte Organisation entwickeln – Die zentrale Rolle der Promotoren, in Zeitschrift für Organisation, Ausgabe 5/2018, gfo Gesellschaft für Organisation, St. Augustin

[2] Müller Ralf und Gemünden Hans Georg (2018) Governance und Governmentality – Das Yin und Yang der Steuerung in projektbasierten Organisationen, in Zeitschrift für Organisation, Ausgabe 5/2018, gfo Gesellschaft für Organisation, St. Augustin

[3] Linke Bodo, Gergs Hans-Joachim und Lakeit Arne (2018) Agilität braucht Stabilität – Was Unternehmen von Kampflugzeugen, James Bond und Moses lernen können, in Zeitschrift für Organisation, Ausgabe 5/2018, gfo Gesellschaft für Organisation, St. Augustin

[4] Oswald Alfred und Müller Wolfram (Hrsg.) (2017) Management 4.0 – Handbook for Agile Practices, BoD, Norderstedt

[5] Oswald Alfred, Köhler Jens und Schmitt Roland (2016) Projektmanagement am Rande des Chaos, Springer, Heidelberg